Indonesien: Die ökonomischen und politischen Herausforderungen der Gewerkschaften Indonesiens sind angesichts der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse im Land immens. Aber auch die aktuelle politische Lage Indonesiens mutet an wie kurz vor dem Scheideweg. Mit dem antikommunistischen Erbe aus der Suharto-Regierung und der Entwicklung der vergangenen Jahre, hin zu einem nach politischer Macht strebenden Islam, stehen viele zivilgesellschaftliche Kräfte unter großem Druck.
Die Grundlage dieses Artikels sind die Erfahrungen und Einschätzungen von vier Aktivist*innen in Jakarta und Bogor zu Gewerkschaften in Indonesien. Seit mehreren Jahren bin ich mit verschiedenen Aktiven in Gewerkschaften und anderen Organisationen der Arbeiter*innenbewegung im Austausch, nicht nur in Bezug auf unsere gemeinsamen Projekte, sondern immer wieder auch über die „Großwetterlage“ unserer Städte, Regionen, Länder, Staaten und der Welt.
Sastro, Biji, Dina und Syrif sind Gewerkschaftsmitglieder und haben teilweise in der Vergangenheit auch schon verantwortungsvolle Posten in einzelnen Gewerkschaften übernommen. Mit ihren Organisationen arbeiten sie eng mit verschiedenen Gewerkschaften zusammen.
Sastro ist bei Konfederasi Pergerakan Rakyat Indonesia (KPRI – wörtlich übersetzt: Konföderation der Volksbewegung Indonesiens) aktiv, einem Netzwerk von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Kooperativen und Initiativen in Indonesien, das den Versuch gestartet hat, ein eigenständiges Wirtschaftssystem aufzubauen, um so die ökonomischen Grundlagen für ein gesellschaftliches Miteinander zu verändern.
Biji arbeitet bei INKRISPENA, einem Forschungszentrum für Krisen und alternative Entwicklungsstrategien.
Syarif und Dina sind von Lembaga Informasi Perburuhan Sedane (LIPS – Sedane-Arbeiterinformationszentrum), einem Zentrum, das Arbeitskämpfe dokumentiert und Weiterbildung von Gewerkschaftsmitgliedern und -funktionären anbietet.
Mehr Gewerkschaften aber weniger Mitglieder
Die Gewerkschaftslandschaft in Indonesien ist sehr divers. So hat sich zwischen 2017 und 2018 die Zahl der Gewerkschaftsföderationen von sechs auf 14 um mehr als das Doppelte erhöht. Doch spricht die Anzahl der Gewerkschaften noch lange nicht für deren Stärke; denn gleichzeitig sank die Gesamtzahl der Mitglieder erheblich. Die Erklärungen der vier Aktivist*innen fallen hierzu sehr ähnlich aus.
Strukturell ausschlaggebend ist zunächst die gesetzliche Regelung, der zufolge die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft an ein konkretes vertraglich abgesichertes und steuerpflichtiges Arbeitsverhältnis gekoppelt ist. Diese Voraussetzung schließt bereits einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung Indonesiens von einer gewerkschaftlichen Organisierung aus, da die Mehrheit nicht in einem vertraglichen Arbeitsverhältnis arbeitet, sondern im so genannten informellen Sektor tätig ist.
Die Arbeitsverhältnisse der Arbeiter*innen, welche die gesetzlich definierte Gewerkschaftsbasis erfüllen, sind jedoch trotz vertraglicher Regelungen prekär. Arbeitsverträge bestehen oft nur über einen sehr kurzen Zeitraum, aber selbst längerfristig angelegte Arbeitsverhältnisse können von den Unternehmen kurzfristig gekündigt werden. Da sich die gewerkschaftliche Zugehörigkeit über den Arbeitsplatz in einem Unternehmen herstellt, ist der Verlust des Arbeitsplatzes auch der Verlust der Gewerkschaftsmitgliedschaft.
Darüber hinaus schränkt die zunehmende Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen durch outsourcing oder Scheinselbständigkeit die Möglichkeit der Organisierung der Arbeiter*innenschaft weiter ein. Eine kontinuierliche Bindung der Arbeiter*innen an die Gewerkschaften wird auf diese Weise verunmöglicht. Das wiederum hat erhebliche Auswirkungen auf die Gewerkschaftsstrukturen und Arbeitsprozesse, vor allem deren Nachhaltigkeit und schwächt Gewerkschaften im Handeln nach innen und außen. Syarif führt hierzu aus, dass eben jene Arbeitskräfte, die gerade die Arbeiter*innenschaft in Indonesien ausmachen, sehr jung seien, während jedoch die Methoden der gewerkschaftlichen Organisierung und Strukturierung eher „altmodisch“ wirkten.
Gewerkschaftsarbeit ist an männlichen Arbeits- und Lebensrealitäten ausgerichtet
Auf die Strukturen und die Schwierigkeit der Organisierung geht auch Dina ein, indem sie hervorhebt, wie männlich dominierten Strukturen in Gewerkschaften die Partizipation und auch die Interessenvertretung von Arbeiter*innen beeinflussen. Abendliche Treffen, Sexismus, männliche Seilschaften und das fehlende Verständnis weiblicher Arbeits- und Lebensrealitäten sind Hindernisse für Arbeiter*innen, in Gewerkschaften zu partizipieren. Aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen verunmöglichen Frauen oftmals die Partizipation in Gewerkschaften. So verbieten es die Rollenvorstellungen von „guten“ Frauen, dass diese ohne männliche Begleitung abends zu den gewerkschaftlichen Treffen gehen. Nicht selten müssen sich Gewerkschafter*innen den Vorwurf gefallen lassen, „leichte Mädchen“ zu sein, wie mir von den wenigen Gewerkschafts-Kolleg*innen in Indonesien immer wieder erklärt wurde. Organisieren sich Arbeiter*innen trotz dieser Bedingungen in den Gewerkschaften, endet dies in den meisten Fällen mit der Heirat oder spätestens mit der Geburt des ersten Kindes.
Sowohl die Partizipation in Gewerkschaften als auch das Ausüben eines Lohnarbeitsverhältnisses sind an die Familiengründung gebunden und haben daher oftmals ein „Ablaufdatum“. Denn die Arbeiter*innen in den zahlreichen Fabriken mit Gewerkschaften, gerade in der Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie, sind vornehmlich jung und unverheiratet.
Altlasten einer 30 Jahre währenden Diktatur
Nicht nur die Schwierigkeit der Organisierung der Arbeiter*innenschaft beeinflusst die Handlungsfähigkeit der indonesischen Gewerkschaften. Das Machtgefüge zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten, sowie dem Militär, oftmals in ungebrochener Kontinuität der Suharto-Ära, stellt zivilgesellschaftliche Teilhabe in Entscheidungsprozessen vor große Herausforderungen. Machtverhältnisse konstituieren sich nicht entlang politischer Programmatiken oder ideologischer Perspektiven, sondern vielmehr im politischen Bündnis zum Machterhalt und der Machterweiterung. „Die Demokratie Indonesiens“, resümiert Sastro, „ist keine Demokratie für alle, sondern bestenfalls eine Demokratie, die sich in Bezug zum Neoliberalismus setzt und unter diesem Diktat zur Globalisierung bekennt.“
Zusätzlich zum Eindruck der gläsernen Decke der Demokratie kommen die Altlasten einer 30 Jahre währenden Diktatur, die 1965 mit dem Massaker an Kommunist*innen begann und die politische Verfolgung Andersdenkender nach sich zog. Gleichschaltung, Repression, Einschüchterung und Gewalt waren drei Jahrzehnte die Mittel im Kampf gegen fortschrittliche und emanzipatorische Menschen und deren Organisierungsprozesse. Massenorganisationen gab es nur unter staatlicher Kontrolle und bis heute ist der Anti-Kommunismus in der Gesellschaft verankert, was das Agieren von Gewerkschaften und Aktivist*innen der Arbeiter*innenbewegung, die in der Suharto-Ära größtenteils im Untergrund agierten, erschwert.
Dina erklärt hierzu, dass auch LIPS in der Gründungszeit Anfang der 1990er Jahre vornehmlich im Untergrund aktiv war, verfolgte Aktivist*innen versteckte und Bildungsangebote für die Arbeiter*innenschaft durchführte.
Einflussnahme auf die Politik
In Gewerkschaftskreisen wächst seit ungefähr 13 Jahren das Bewusstsein, dass politische Einflussnahme ein relevantes Feld der Gewerkschaftsarbeit sein muss. Die Interessen der Arbeiter*innen werden auf der staatlichen Ebene kaum berücksichtigt, wie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen und Regelungen zur Neuberechnung des regionalen Mindestlohns gezeigt haben. Wurde dieser bis vor zwei Jahren noch am Runden Tisch mit staatlichen, gewerkschaftlichen und unternehmerischen Vertreter*innen ausgehandelt, ist es heute eine einfache wirtschaftliche Rechenleistung ohne gewerkschaftliche Beteiligung. Die Wege in die Politik sind jedoch sehr unterschiedlich. Gerade auf der Bezirksebene stellen sich immer wieder Gewerkschafter zur Wahl. Andere Gewerkschaften suchen den Weg über bereits bestehende Parteien, indem einzelne Personen auch in den Parteien aktiv werden.
Vor den Präsidentschaftswahlen im April sei die politische Einflussnahme der Gewerkschaften ein relevantes Thema, bestätigen mir meine Gesprächspartner*innen. Es gibt derzeit einige Gewerkschaften, die konkret ihre Mitglieder dazu aufrufen ein Präsidentschaftskandidatenpaar zu wählen. So haben die Gewerkschaftskonföderationen KSBSI (Konfederasi Serikat Buruh Sejahtera Indonesia) und KSPSI (Konfederasi Serikat Pekerja Seluruh Indonesia) bereits verkündet, dass sie den amtierenden Präsidenten Jokowi (Joko Widodo) und seinen Vizepräsidentschaftskandidaten Ma’ruf Amin unterstützen. Die Begründung der Gewerkschaften lautet, dass Jokowi bereits bewiesen habe, dass er die Demokratie und Entwicklung des Landes fördert. Mit Ma’ruf Amin hat sich Jokowi meiner Meinung nach jedoch einen Hardliner der Nahdlatul Ulama an seine Seite geholt, der im Fall des ehemaligen Gouverneurs Ahok (Basuki Tjahaja Purnama) unter Beweis gestellt hat, dass die Instrumentalisierung des Islams zur Mobilisierung der Massen und dem Erreichen politischer Ziele Teil seines politischen Repertoires ist.
Die Gewerkschaftsföderation KSPI (Konfederasi Serikat Pekerja Indonesia) hingegen unterstützt das Präsidentschaftskandidatenpaar Prabowo Subianto und Sandiaga Uno. Der Grund hierfür ist laut Syarif aus der Sicht der Gewerkschaft einfach: Unter Jokowi konnten die Arbeiter*innen nicht gedeihen. Prabowo und Sandiaga Uno sind jedoch Unternehmer, weshalb ihnen unterstellt wird, einen Blick für die Wirtschaft und somit auch für die Arbeiter*innen zu haben. Dass jedoch Prabowo (als ehemaliger Chef der Spezialkräfte Kopassus) unter dem dringenden Verdacht steht, maßgeblich verantwortlich zu sein für etliche Menschenrechtsverletzungen, ist mir an dieser Stelle noch wichtig zu erwähnen.
Für meine Gesprächspartner*innen bleibt jedoch in allen Fällen unklar, welche Verhandlungen diesen Positionierungen der jeweiligen Gewerkschaftskonföderationen vorangingen, welche Zusagen getätigt wurden und inwiefern die einzelnen Konföderationen oder auch die Gewerkschaftslandschaft im Allgemeinen davon profitieren werden. Es gibt aber auch mehrere Gewerkschaften und Gewerkschaftskonföderationen, die keines der beiden Präsidentschaftskandidatenpaare offiziell unterstützen oder eine entsprechende Wahlempfehlung für ihre Mitglieder aussprechen.
Der politische Machtanspruch des konservativen Islam
Biji verweist in dem Zusammenhang darauf, dass gerade der Einfluss eines konservativen, wenn nicht sogar fundamentalistischen Islam, durch entsprechende Vertreter auf der politischen Ebene immer größer wird. Exemplarisch hierzu erwähnt er die Entwicklungen in Bezug auf die Gouverneurswahlen in Jakarta vergangenen Jahres, wo die Hetze gegen Ahok, den amtierenden Gouverneur, von fundamental islamischen Kräften vorangetrieben wurde. Ihm wurde der Vorwurf gemacht den Koran beleidigt zu haben, woraufhin er wegen des Verstoßes gegen das Blasphemiegesetz angeklagt wurde. Dass Ahok Christ ist und chinesischer Abstammung spielte bei der Mobilisierung und Dämonisierung jedoch eine zentrale, wenn nicht sogar eine entscheidende Rolle. Auch damals waren einige Gewerkschaftsföderationen an der Mobilisierung der Anti-Ahok-Demonstrationen nach und in Jakarta beteiligt.
Was lässt Demokratisierungsprozesse in Gewerkschaften stagnieren?
Eine stärkere Polarisierung wird in den kommenden Jahren die politische Landschaft bestimmen und großen gesellschaftlichen Einfluss haben. Dass da die Gewerkschaften nicht außen vor sind, bestätigte sich daher schon in Jakarta im vergangenen Jahr. In den kommenden Jahren wird Bijis Meinung nach diese Polarisierung weiter fortschreiten und mit der Stärkung religiöser Kräfte wird auch einer Politik, basierend auf der Konstruktion von Identitäten und eben damit verbundenem Rassismus, die politische Landschaft und das gesellschaftliche Leben beeinflussen. Diese Entwicklungen machen auch nicht vor den Gewerkschaften halt. Seine Befürchtung ist, dass damit die eigenen Demokratisierungsprozesse in den Gewerkschaften stagnieren werden.
Auch Dina beschreibt diese Entwicklung mit Sorge und bestätigt die Vermutung, dass eben jene Entwicklungen, die ihrer Meinung nach seit 2016 das Leben in Indonesien verändert haben, auch Einfluss auf ihr Leben und ihre Arbeit haben werden. Aus der Sicht vieler Aktivist*innen in Indonesien ist die bevorstehende Wahl eine „zwischen Pest und Cholera“, da letztlich die Wahl in Jakarta von religiösem und rassistischem Hass entschieden wird.
Wie diese Entwicklungen belegen, werden die Gewerkschaften seit einigen Jahren von den politischen Kräften, den religiösen Organisationen und Parteien, als Möglichkeit der Massenmobilisierung gesehen. Sie erfüllen daher durchaus den Zweck der Mehrheitsbeschaffung, weshalb die Gewerkschaften mit ihrem Stimmgewicht versuchen somit Einfluss zu nehmen. Die Gewerkschaften erreichten 2011/2012 den Höhepunkt ihrer Massenmobilisierung, weshalb die politischen Parteien auf sie aufmerksam wurden.
Die Chancen und Grenzen gewerkschaftlicher Strategien
Der letzte große Erfolg der Gewerkschaften war der Kampf um die Sozialversicherungssysteme, vornehmlich der kostenfreien Krankenversorgung. Allgemein kritisieren die Aktivist*innen jedoch, dass die Gewerkschaften sich hauptsächlich auf die Fragen des Lohns fokussieren und diesen nicht mit den Lebensbedingungen ihrer Mitglieder und der Arbeiter*innen im Allgemeinen in Verbindung bringen. Sie verlieren oft den Blick für alle arbeitenden Menschen in Indonesien, weil sie gesetzlich dahingehend reglementiert sind. Sie sind weniger ideologisch als praktisch ausgerichtet, was auch in Bezug auf die Bündnisfähigkeit kritisiert wird. Trotzdem haben sie vor zwei Jahren maßgeblich zur Politisierung des internationalen Frauentags beigetragen und sind nach wie vor in der Lage, Massen auf die Straße zu bringen. Sie zeigen sich in Bezug auf Streiks und Demonstrationen kämpferisch. So wurde beispielsweise 2010 ein Generalstreik organisiert, eine Mautstraßenblocke der Jakarta-Cikampek 2012 und der von Serang-Bitung 2014. Indonesienweit kam es 2012, 2013 und 2015 erneut zu landesweiten Streiks.
Gerade in den industriellen Zentren sind Gewerkschaften ein ernstzunehmender Akteur auf der Konföderationsebene und sind in der Lage die Massen zu mobilisieren. Aber sie sind eben auch Teil gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und nehmen darin nicht unbedingt eine progressive und pro-demokratische Rolle ein. Ihre eigene Marginalisierung ist nicht nur ein Resultat aus machtpolitischen und rechtlichen Verhältnissen in Indonesien, sondern auch das Resultat ihrer eigenen Schwächung durch die immer größer werdende Zersplitterung. Gleichzeitig gibt es gerade von meinen Gesprächspartner*innen dahingehend den klaren Appell an die politische Verantwortung der Gewerkschaften im Kampf um gute Arbeit und ein gutes Leben in Indonesien, für alle.
Gewerkschaften – ein umkämpftes Terrain
Dina verweist explizit darauf, dass bei all den Schwierigkeiten innerhalb und für die Gewerkschaften, diese als Massenorganisationen in der derzeitigen politischen Landschaft die Möglichkeit haben, gesellschaftliche Verhältnisse entgegen der zunehmenden Neoliberalisierung und Islamisierung des Landes, zu gestalten und zu verändern. Aber es ist eben hier wie dort so, dass Gewerkschaften ein umkämpftes Terrain sind. Und so kämpfen progressive Gewerkschaftsmitglieder und Aktivist*innen hier wie dort für eine fortschrittliche und emanzipatorische Arbeiter*innenbewegung.