Kambodscha: Daniel Bultmann beschreibt in seinem Buch „Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten“ die Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha als Ausdruck der Moderne und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum historischen Verständnis des Schreckensregimes.
Das bundesdeutsche Urteil über die Roten Khmer unter Pol Pot, die von 1975-1979 in Kambodscha regierten, fällt relativ eindeutig aus: Steinzeitkommunisten, die jeden mit Brille sofort umbrachten. Massenmord, Killing-Fields, Agrarproduktion werden daher wohl auch die ersten Assoziationen sein, die man mit ihnen verbindet. Dass es ganz so einfach nicht ist, zeigt Daniel Bultmann in seinem jüngst erschienenen Buch „Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten“ auf. Bultmann, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Gesellschaft und Transformation in Asien und Afrika der HU Berlin arbeitet, vertritt im Buch die These, dass das Ziel der Khmer Rouge kein „archaisch-pathologischer Steinzeitkommunismus“ war, sondern ihre Herrschaft als „Programm nationaler Entwicklung und Modernisierung“ verstanden werden muss. Die umfängliche Kontrolle der Bevölkerung und die Ordnungsfantasie der Kader der Roten Khmer könne nur als Phänomen der Moderne verstanden werden, so Bultmann. Dieser Blickwinkel bereichert die Forschung über die Roten Khmer ungemein.
‚Sozialistisches Engineering‘
In seinem gut lesbaren Buch, das größtenteils auf akademisch-elitäre Sprache verzichtet, zeichnet Bultmann die Ursprünge der Bewegung unter Pol Pot nach und beschreibt die Maßnahmen zur Umformung des Staates. Ausführlich stellt er die Ursachen für die Gewalteskalation des Systems dar und wirft auch einen Blick auf das ‚Nachleben‘ der Roten Khmer. Deren Herrschaft gilt als eines der brutalsten Staatsverbrechen des 20. Jahrhunderts. Schätzungen zufolge kamen rund zwei Millionen Menschen während des vierjährigen Regimes ums Leben. Das Ziel war ein egalitärer Arbeiter- und Bauernstaat. Jedoch sollte nicht nur die Gesellschaft umgeformt werden, sondern auch die intimsten Gedanken und Wünsche der Bevölkerung. Zwangsarbeit, Indoktrination, Selbstkritikstunden sowie ein ausgeklügeltes System von Sicherheits- und Umerziehungslagern sollte die perfekte sozialistische Gesellschaft und perfekte Sozialist*innen erschaffen. Angkar („die Organisation“), wie die Partei in Kambodscha genannt wurde, war dabei eine omnipräsente aber auch unsichtbare Macht. Omnipräsent, weil kaum eine Regierung mehr Staat und Bürokratie hervorbrachte als die kommunistische Partei Kambodschas. Unsichtbar, weil die Strukturen der Bevölkerung nicht klar waren und auch ihr Führer, Pol Pot nur äußerst selten öffentlich auftrat.
Von Beginn an sei die Herrschaft der Roten Khmer als ’sozialistisches Engineering‘ zu verstehen, so Bultmann. Man müsse an den von Individualismus und Kapitalismus erkrankten Volkskörper eingreifen und die neue Ordnung schaffen. Daher wurden Schulen und Universitäten des ‚alten Systems‘ geschlossen, die Zentralbank gesprengt und Geld abgeschafft. Klare Normen und Vorgaben der Planwirtschaft bestimmten die industrielle Produktion. Haargenaue Listen sollten auch die Landwirtschaft nach fordistischer Manier organisieren. Diese ‚moderne Ordnungsfantasie des Regimes‘ mache deutlich, dass nicht die Steinzeit, sondern eine fordistisch-industrielle und egalitär-kollektivistische Massenproduktion das Ziel der Roten Khmer war. Die Herrschaft der Roten Khmer war für Bultmann die „vielleicht radikalste Umformung einer gesellschaftlichen Ordnung seit Menschengedenken“.
Die Hälfte der eigenen Kader wurde ermordet
Bultmann beschreibt relativ ausführlich das ‚geradezu bürokratisch organisierte Gefängnissystem und den damit verbundenen professionell organisiertem Verwaltungsmassenmord‘. 196 Sicherheits- und Umerziehungszentren im gesamten Land sorgten für eine ständige und enge Überwachung der Bevölkerung, aber auch der eigenen Kader. Im Laufe der vier Jahre wurde rund die Hälfte der eigenen Kader ermordet.
Neben diesem historischen Rückblick widmet sich Bultmann auch theoretischen Fragen rund um die Khmer Rouge und greift die Debatten auf, wie die Herrschaft und die Verbrechen begriffen werden können. Handelte es sich um einen Genozid, einen Politizid, einen ‚Auto-Genozid‘ oder um Rassismus? Für Bultmann sind all diese Benennungen schwierig, weil „die gesamte Struktur der Gesellschaft das Denken und das Fühlen der Menschen (…) entlang der eigenen Ordnungsfantasie umgestaltet wurde und sich somit die Roten Khmer in gewisser Weise auch den ‚alten‘ Begriffen entziehen“.
Auch der Einmarsch Vietnams 1979 und das Nachleben der letzten Guerilla-Truppen der Roten Khmer bis in die 1990er Jahre hin wird ausführlich beschrieben. Somit bietet das Buch einen guten Gesamtüberblick über die jüngste kambodschanische Geschichte. Etwas dünn fällt die Beschreibung der Politisierung der Kader der Roten Khmer im Paris der 50er Jahre aus. Ebenso erfährt man etwas wenig über den Konflikt zwischen Vietnam und Kambodscha. Wie es zum offenen Krieg zwischen den beiden kommunistischen Bruderstaaten kam, bleibt weitgehend im Dunklen.
Trotz dessen ist es dem Buch zu verdanken, mit der These des ‚Steinzeitkommunismus‘ aufgeräumt zu haben und die Roten Khmer als Ausdruck der Moderne zu begreifen. Damit leistet Bultmann einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Schreckensregimes der Roten Khmer.
Rezension zu: Daniel Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2017, 265 Seiten