Singapur: Die COVID-19-Pandemie hat soziale Spannungen zwischen Singapurer*innen und Nicht-Singapurer*innen offen gelegt und verschärft. Dies ist kein neues Phänomen. Doch es stellt eine soziale Kluft dar, die es zu bewältigen gilt.
Krisen haben die Tendenz, soziale Spannungen aufzudecken und zu verschärfen. COVID-19, eine Pandemie von globalem Ausmaß, bildet da keine Ausnahme. Singapur hat im Kampf gegen Covid-19 zunächst international Lob für seine Fähigkeit geerntet, die Ausbreitung des Virus durch effiziente Erkennung und Isolierung neuer Fälle einzudämmen.
Sozioökonomische Auswirkungen der Pandemie-Bekämpfung
COVID-19 ist jedoch nicht nur eine Gesundheitskrise. Die Bemühungen, steigende Infektionsraten einzudämmen, haben nicht nur die Art und Weise verändert, wie wir mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft umgehen, sondern haben auch zu einem allgemeinen Gefühl erhöhter Unsicherheit aufgrund der sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie beigetragen.
Die Abschottungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Virus haben auch zu einer Verringerung der weltweiten wirtschaftlichen Aktivität geführt, wobei die Weltbank eine COVID-19-Rezession prognostiziert, die wahrscheinlich die schwerste in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften seit dem Zweiten Weltkrieg sein wird. In Singapur ist die Wirtschaft im Jahr 2020 um rekordverdächtige 5,8 % gesunken. Zudem hat die Arbeitslosenquote ein 16-Jahres-Hoch erreicht.
Darüber hinaus hat sich die Angst vor dem Virus weltweit in einer ausländerfeindlichen Stimmung manifestiert, da Ausländer*innen nicht selten als Sündenböcke für die Ausbreitung des Virus dienen. In Amerika berichtet einer von vier asiatisch-amerikanischen Jugendlichen, dass sie aufgrund der Pandemie rassistische Anfeindungen erfahren haben. In Europa wurden koreanische, chinesische und japanische Geschäfte verwüstet. In Kuwait forderte eine Schauspielerin die Abschiebung von Wanderarbeiter*innen, um Krankenhausbetten für einheimische Patient*innen freizuhalten. Singapur ist keine Ausnahme.
COVID-19 und Fremdenfeindlichkeit in Singapur
In der Anfangsphase der Pandemie blieb auch Singapur nicht von der ersten Welle der Sinophobie verschont, die über den Globus rollte. Eine Petition mit über 100.000 Unterschriften machte die Runde, die das Verbot aller Reisenden aus China forderte. In einem Facebook-Post erklärte ein religiöser Führer in Singapur, das Virus sei die „Vergeltung Allahs“ für Chinas Unterdrückung der muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang. Diese Ereignisse stehen vor dem Hintergrund von fremdenfeindlichen Gerüchten, Posts und Kommentaren in den sozialen Medien.
Singapurs Kampf gegen die Ausbreitung von COVID-19 wurde anfangs international gelobt, weil es neue Fälle effizient aufspüren und isolieren konnte (vgl. dazu den Artikel Singapurs gebrochenes Versprechen auf suedostasien.net. Doch als der Stadtstaat erneut in die internationalen Schlagzeilen geriet, geschah dies aus weniger erfreulichen Gründen. COVID-19-Cluster begannen, in Wohnheimen für Wanderarbeiter*innen aufzutauchen und offenbarten ein Versäumnis in Singapurs zuvor gepriesener Strategie. Diese schlecht bezahlten Arbeitskräfte, hauptsächlich Männer aus Bangladesch und Indien, übernehmen Jobs, die von den Singapurer*innen gemieden werden, wie in der Bau- und Produktionsbranche und bei Sicherheitsdiensten.
Als Reaktion darauf wurde in der chinesischsprachigen Singapurer Zeitung Zaobao ein Leserbrief veröffentlicht, in dem die Wanderarbeiter*innen und ihre vermeintlich mangelhafte Hygiene für den Ausbruch von COVID-19-Fällen in den Wohnheimen verantwortlich gemacht wurden, obwohl es Beweise dafür gibt, dass die Ursache der Ausbrüche mit den engen und unhygienischen Wohnverhältnissen, die dort herrschen, im Zusammenhang steht.
Zusätzlich hat es während der Pandemie öffentliche Schuldzuweisungen mit rassistischen und fremdenfeindlichen Untertönen gegeben. Zum Beispiel tauchte im Internet ein Video auf, in dem ein Paar von Schaulustigen beschimpft wurde, weil es keine Masken trug, mit einer Bildunterschrift, die lautete: „Wir sollten sie zurück nach Indien schicken“.
Auch die Ministerin für Kultur, Gemeinschaft und Jugend, Grace Fu, thematisierte die „heftige Reaktion“ auf Berichte über Ausländer*innen, die die Abstandsregeln missachteten.
Während Singapur unter der Covid-19-Ression leidet, fühlen sich ausländische PMETs (Professionals, Managers, Executives and Technicians) inmitten der fremdenfeindlichen Hetze im Internet zunehmend unwillkommen. Diese Kommentare unterstreichen die Wahrnehmung, dass Ausländer*innen mit Singapurer*innen auf einem durch die Pandemie zusätzlich angespannten Arbeitsmarkt um Jobs konkurrieren.
Gerechtfertigte Angst oder tiefer liegende Spannungen?
In der Tat ist Angst der Grundpfeiler einer jeden Pandemie. Und diese Angst wird oft auf die soziale Sphäre als Angst vor dem ‚Anderen’ projiziert. In Singapur manifestiert sich die Angst vor COVID-19 in der Stigmatisierung des fremden ‚Anderen’, ein Phänomen, das oft eher als Pragmatismus und Wunsch nach sozioökonomischer Stabilität dargestellt wird und weniger als Fremdenfeindlichkeit.
Die Marginalisierung von Mitgliedern bestimmter Bevölkerungsgruppen wurde so als ‚praktische’ und nicht als fremdenfeindliche Reaktion rationalisiert. Durch das von der Angst vor Covid-19 geprägte Handeln, wurden einige chinesische Arbeitskräfte und Unternehmen in Singapur, und auch im Rest der Welt, ausgegrenzt.
Eine Petition, die das Verbot chinesischer Staatsbürger und Reisender aus China forderte, wurde mit dem Anspruch begründet, „das Wuhan-Coronavirus davon abzuhalten, an unsere Türen zu klopfen“. Vielleicht war es eine ähnliche Denkweise, die einige Singapurer*innen beunruhigte, als eine unfundierte WhatsApp-Nachricht behauptete, dass Wanderarbeiter*innen das Virus auf ausländische Hausangestellte übertrugen, die dann das Virus zu ihren Arbeitgeber*innen zurückbrachten.
Die Sorgen über den wirtschaftlichen Abstieg hat die Singapurer*innen auch dazu gebracht, ihre Besorgnis über ausländische Konkurrenz zu äußern. Die Interessen der Bürger*innen sollten gegenüber denen der Ausländer*innen „vorrangig und nicht verhandelbar“ sein, so die entsprechende Forderung.
Neuer Anlass, alte Ressentiments
Auf den ersten Blick scheinen derartige Aussagen Projektionen der durch die Pandemie entstandenen Unsicherheit zu sein. Doch es wäre ein Fehler, die Tatsache zu vernachlässigen, dass fremdenfeindliche Tendenzen in Singapur nicht mit der Ausbreitung von COVID-19 begonnen haben. Schon vor der Pandemie spielte Fremdenfeindlichkeit eine große Rolle in der Einwanderungspolitik in Singapur und in den Diskussionen über die Rolle der Ausländer*innen im Stadtstaat.
Singapurs Diskriminierung von Mietern äußert sich beispielsweise in der Ungleichbehandlung von Inder*innen und Chines*innen, da sich Vermieter*innen auf vermeintliche Unterschiede in der Kultur und den Sauberkeitsstandards berufen. Auch die Ausgrenzung von Wanderarbeiter*innen ist ein langjähriges Problem in Singapur. Manche haben ihre Unzufriedenheit über den Bau von Wohnheimen für Wanderarbeiter*innen in der Nähe ihrer Wohngebiete geäußert und spiegeln somit eine ‚not in my backyard’-Perspektive wider, wenn es um die Unterbringung von Singapurs Wanderarbeitskräften geht.
Darüber hinaus erinnern Rufe nach privilegierten Rechten für Singapurer*innen gegenüber Nicht-Staatsbürger*innen an die Narrative ‚Singaporeans first’ und ‚Singapore for Singaporeans’, die während der Proteste im Jahr 2013 gegen das Population White Paper zu hören waren.
Der Blick nach vorne
Die Gesundheit eines Landes hängt von der Fähigkeit ab, mit diversen Bevölkerungsgruppen umzugehen. Wie der Ausbruch des Virus in den Wohnheimen für Wanderarbeiter*innen in Singapur zeigt, kann die Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe schwerwiegende Folgen haben. Die Pandemie hat unserer Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten und uns gezwungen, uns mit der Art und Weise auseinanderzusetzen, wie wir miteinander umgehen.
Es gibt jedoch auch einen Silberstreif am Horizont: Die Krise hat den Weg für neue Formen der Zusammenarbeit geebnet. Abgesehen davon, dass sich unsere Politiker*innen in der COVID-19-Krise mit China solidarisch gezeigt haben, haben sich auch Singapurer*innen in den sozialen Medien zu Wort gemeldet, um die online verbreitete Fremdenfeindlichkeit anzuprangern und ihre Unterstützung für die Bewohner*innen von Wuhan in der Frühphase der Pandemie zu demonstrieren.
Darüber hinaus wurden nach der ersten Veröffentlichung des fremdenfeindlichen Leserbriefs auch einige Antworten in der Zeitung Zaobao veröffentlicht, die die „haltlosen Anschuldigungen“ des Autors verurteilten und die strukturellen Ungleichheiten darlegten, welche zu den unzureichenden Lebensbedingungen geführt haben. Auch die Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen, die auf die Unterstützung von Arbeitskräften im Niedriglohnsektor abzielen, ist gewachsen. Das Bewusstsein für die systemische Misshandlung von Arbeitskräften mit Migrationshintergrund muss in Singapur geschärft werden, um diese Misshandlung zu bekämpfen.
Diese Solidarisierung durch die Gemeinschaft zeigt, dass die Gesellschaft die Vielfalt Singapurs begreift. Auch wird erkannt, dass Fremdenfeindlichkeit ein Problem ist, das das soziale Gefüge in Singapur plagt – ein Problem, das der Pandemie vorausging, ein Problem, das angegangen werden muss. In Zeiten von Krisen spiegeln solche Bemühungen die Stärke einer Gemeinschaft wider und zeigen, dass Singapur größer sein kann als die Summe seiner Ängste.
Dieser Artikel basiert auf dem englischsprachigen Kommentar COVID-19 and Sinophobia in Singapore von Yasmine Wong, den die Autorin für die südostasien aktualisiert und ergänzt hat.
Übersetzung aus dem Englischen von: Antonia Fuchs