Indonesien/Deutschland: Nachhaltig, ökologisch, engagiert: Das indonesische Künstler*innen-Kollektiv ruangrupa präsentiert mit dem lumbung-Konzept für die documenta fifteen eine radikale Neuorientierung der internationalen Kunstschau.
Das Herz der documenta fifteen schlägt auf dem Parkdeck einer alten Kaufhalle mitten in der Kasseler Fußgängerzone. Drei Biertische samt Bänken stehen dort neben einer provisorischen Treppe, die zu den Büros in den oberen Etagen führt. Außer bei Regen sitzen hier fast immer einige Menschen zusammen. Sie rauchen, trinken Kaffee und besprechen die nächsten Schritte einer Produktion, Visaprobleme von Gästen oder wie man die Kinderbetreuung für die Mitarbeiter*innen organisiert. Durch eine Metalltür kommt man in ein improvisiertes Großraumbüro-Lager-Studio: die ehemalige Werkstatt der Sportarena, die das 5000 Quadratmeter große Gebäude 1999 übernommen hatte, bevor es 2018 in den Leerstand entlassen wurde. Einige Student*innen arbeiten hier an einem Designprojekt. Von nebenan dringt Baustellenlärm herüber.
„Wir wollten einen neuen Raum schaffen, einen Treffpunkt, um unsere gemeinschaftliche Arbeitsweise zu stärken“, erklärt Reza Afisina, Mitglied des neunköpfigen Kollektivs ruangrupa (übersetzt etwa: Gestaltender Raum, kurz: ruru), das die künstlerischen Leitung der documenta innehat, die im Juni 2022 eröffnet wird. Fünf weitere internationale Kunstschaffende vervollständigen das Artistic Team. Außerdem sitzen die kuratorialen Assistentinnen und das Produktionsteam unter dem gleichen Dach. „Hier im ruruHaus können wir uns alle jederzeit treffen, gemeinsam essen und trinken, uns besser kennen lernen, während wir alle zusammenarbeiten. So wie wir das auch in Jakarta tun.“
Nachhaltige und solidarische Arbeitsweise
Das Team im ruruHaus lebt das lumbung-Konzept vor, nach dem das Kollektiv aus Indonesien die documenta gestaltet. Lumbung ist eine Reisscheune, in die ein ganzes Dorf seine Ernte gemeinsam einfährt, um sie hinterher nach Bedarf umzuverteilen. Jeder nimmt sich nur so viel, wie er braucht. Überschuss wird entweder aufgespart oder in gemeinschaftliche Projekte investiert. Es geht um eine nachhaltige, soziale Arbeitsweise, bei der sich die Beteiligten gegenseitig helfen und fördern, ohne den eigenen Gewinn in den Vordergrund zu stellen. Dabei handelt es sich nicht um abstraktes Streben nach einer gerechteren Welt, sondern um ein sehr pragmatisches Verhältnis: Jedes lumbung-Mitglied hat klar definierte soziale Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber.
Das Wort lumbung mag zunächst für Menschen im Westen exotisch daher kommen, doch entsprechende Begriffe und Erfahrungen gibt es auch hier: Allmende, Genossenschaft, Kooperative zum Beispiel. „Die Gefahr ist tatsächlich, dass unsere Idee im westlichen Kunstbetrieb als Exotismus abgestempelt wird“, sagt Reza Afisina. „Aber eigentlich ist es überhaupt nichts Neues – Kunstschaffende in Indonesien und vielen anderen Ländern arbeiten schon lange auf diese Weise. Sonst könnten sie gar nicht überleben.“
In Europa, wo Kunst häufig vom Staat gefördert wird, können Künstler*innen individuell agieren und „Kunst um der Kunst willen“ entstehen lassen. In vielen anderen Ländern dagegen, vor allem auf der Südhalbkugel der Erde, wäre zeitgenössische Kunst ohne kollektives Zusammenarbeiten gar nicht möglich. In Indonesien etwa können sich viele Kunststudent*innen nur über Wasser halten, indem sie sich Räume zum Wohnen, Schlafen und Arbeiten teilen. Oft dienen die bescheidenen Behausungen zugleich als Ausstellungsräume oder andersherum.
Wer Erfolg hat und Werke verkaufen kann, gibt etwas davon an die Gemeinschaft ab. Selbst die wenigen Künstler*innen, die auf dem internationalen Markt hohe Preise erzielen, fördern die Jüngeren, indem sie Gemeinschaftsstudios zur Verfügung stellen oder Galerien eröffnen, in denen der Nachwuchs ausstellen und ohne Provision verkaufen kann. Werke, die in diesem gemeinschaftlichen Kontext entstehen, spiegeln meist auch eine gemeinsame Zielsetzung wider, die nicht selten eine sozialpolitische Wertung der eigenen Lebensumstände darstellt.
„Jedes Werk entsteht in einer bestimmten Umgebung, in einer bestimmten Zeit. Kunst und Leben sind einfach nicht voneinander zu trennen“, sagt Ade Darmawan, der formal als Direktor von ruangrupa agiert. Natürlich ist die Ästhetik eines Werks wichtig, um es als Kunst zu definieren. „Aber Ästhetik allein reicht nicht aus, wenn der Entstehungsprozess nicht erkennbar wird. Genauso wenig reicht allerdings ein rein sozialpolitischer Kontext aus, wenn die künstlerische Sprache oder Sensorik nicht damit zusammenspielen.“
RAIN – Netzwerk von Künstler*innen der südlichen Hemisphäre
Darmawan, der am Indonesischen Institut der Künste in Yogyakarta Grafik-Design studiert hat, stammt aus der Generation, die 1998 den Diktator Suharto mit Massenprotesten zu Fall gebracht hat. Er ist das einzige Mitglied von ruangrupa, das seit der Gründung 2000 bis heute in der Gruppe aktiv ist. Die ‚Saat‘ für die Entwicklung des lumbung-Konzepts für die documenta aber, so sagt er, stamme noch aus jener Zeit. Der 47-Jährige selbst verbrachte das Ende der 90er-Jahre an der Rijksakademie in Amsterdam. Von dort aus entwickelte er im E-Mail-Austausch mit Freunden in Jakarta den Plan, mit ruangrupa ein interdisziplinäres Kollektiv zu gründen, das sich eher als kulturgesellschaftliches Experimentallabor denn als klassische Künstlergruppe sah. Für das damalige Indonesien, das gegen Militärherrschaft und Zensur kämpfte, eine revolutionäre Idee. Später weitete sich ihr Blick auf andere Länder aus. Die Grundlage für das weltweite ruru-Netzwerk bildet dabei die von der Rijksakademie ins Leben gerufene Initiative RAIN für Künstlergruppen aus der südlichen Hemisphäre.
„Die Kunstwelt, wie sie jetzt ist, muss einmal richtig durchschüttelt werden“, sagt Darmawan. „Der Zustand der zeitgenössischen Kunst ist zunehmend besorgniserregend: immer machtbezogener, institutionalisierter und marktorientierter. Die Herausforderung besteht darin, wie künftig der Austausch von Kunst mit anderen Disziplinen gelingen kann, vor allem mit Politik, Bildung und Wirtschaft. Wir leben in einer Zeit, in der die drei Grundsäulen für eine Zukunft – auch in der Kunst – Nachhaltigkeit, Ökologie und die Verbindung mit Aktivismus sein müssen.“
So manche*r Kunstschaffende in Europa fühlt sich durch diese Herangehensweise kritisiert oder angegriffen. Auf die wiederholte Frage, ob sie überhaupt um die historische Bedeutung der documenta wüssten – oder ob ihnen klar sei, dass sie den westlichen Kunstbegriff in Frage stellen, holen die Indonesier tief Luft. „Wir haben seit Jahrzehnten ziemlich viel über die Kunstwelt im Westen gelernt. Wer so fragt, weiß aber andersrum vermutlich nichts über unsere auch nicht gerade kleine Welt“, sagt Ade Darmawan schließlich. „Wir mögen ein Risiko für die documenta darstellen. Aber die documenta ist auch ein Risiko für uns.“
ruangrupa arbeitet seit 20 Jahren mit internationalen Biennalen zusammen
Seit ihrer Gründung haben ruangrupa die Kultur- und Jugendszene im urbanen Indonesien durch ihre progressiven Trends geprägt. Auch international haben sie sich längst mit großen Kooperations- und Ausstellungsprojekten einen Namen gemacht: unter anderem bei der Gwangju Biennale (2002 und 2018), Istanbul Biennale (2005), Asia Pacific Triennial of Contemporary Art (Brisbane, 2012), Singapore Biennale (2011), Sao Paulo Biennale (2014), Aichi Triennale (Nagoya, 2016) und Sharjah Biennale (2019). Vor sechs Jahren kuratierte ruangrupa TRANSaction Sonsbeek im niederländischen Arnheim – was quasi zum Testlauf der documenta-Bewerbung wurde.
„Wir kuratieren nicht“, behauptet Reza Afisina bei einer Teamsitzung in Kassel. Sie seien allerdings auch nicht dagegen, erwidert sein Kollege Iswanto Hartono, während er sich eine Zigarette dreht. „Wir nennen es aber lieber fermentieren, kompostieren oder zusammensetzen. Kuratieren – das ist so ein Macht-Ding. Wir wollen lieber interagieren. In gewisser Weise zersetzen wir damit natürlich das alte System. Aber das ist nötig, um fortbestehen zu können. Für uns als Gruppe ist dieser Schritt einfacher als für eine einzelne Person.“
„Lumbung-Saat“ nennt ruangrupa das Produktionsgeld, das alle Teilnehmer*innen der documenta fifteen bekommen, ob Individuum oder Künstlergruppe. Alle Beteiligten sollten die gleichen Ausgangsbedingungen erhalten. Denn während Künstler*innen in westlichen Staaten mit einer documenta-Einladung in der Regel leicht Fördergelder für große Werkproduktionen beantragen können, gelingt dies in Afrika, Asien oder Lateinamerika nur selten. Auf den früheren Ausstellungen in Kassel waren kaum Künstler*innen aus der südlichen Welt präsent, aus dem in der asiatischen Kunstwelt wichtigen Indonesien sogar noch nie jemand. Auf die documenta fifteen sind nun ausschließlich Künstler*innen eingeladen, die nach Ansicht des Leitungsteams die „lumbung-Saat“ einsetzen, um weitere Initiativen gedeihen zu lassen und später vielleicht gar vom Ertrag nachhaltig leben zu können. Über jedes einzelne Konzept wurde vorab lange diskutiert, Projekte im ständigen Austausch mit der künstlerischen Leitung sowie mit verschiedenen Teilnehmer*ïnnen untereinander entwickelt. Das gilt für Gruppen aus Brasilien oder Mali genauso wie für die Kasseler Studenten-Initiative kmmn-practice, die das Corporate Design der documenta fifteen mitgestaltet. Sie sind auch verantwortlich für die bunte Außengestaltung des ruruHauses.
„Alle reden von ‚commons‘. Hier wird es gelebt.“
„Anfangs fand ich es gar nicht einfach, so ein offenes Konzept zu adaptieren“, sagt kmmn-practice-Mitglied Sebastian Hohmann, der an der Uni Kassel visuelle Kommunikation studiert. Das Großraumbüro im ruruHaus bietet ihm und seinen Kommiliton*innen seit der Corona-Zeit Platz, um sich trotz Abstandsregeln zu treffen und zusammenzuarbeiten. „Wir wussten zunächst nicht, wie wir kommunizieren müssen, wen wir erreichen sollen. Richtig verstanden habe ich das Prinzip erst, nachdem ich es eine Weile selbst erfahren hatte – jeden Tag hier im ruruHaus. Alle reden immer von ‚commons‘. Hier wird es gelebt.“
Die ruangrupa-Mitglieder Reza Afisina und Iswanto Hartono sind im Juli 2020 samt ihren Familien nach Kassel gezogen. Die Kinder gehen seither hier zur Schule, alle lernen Deutsch. Der Gruppe war es wichtig, dass immer jemand vor Ort ist, um den Kontakt zum Standort nicht zu verlieren – erst recht in der Corona-Zeit, in der sich das Reisen so schwierig gestaltet. Die übrigen ruru-Mitglieder, drei Frauen und vier Männer, sollten ursprünglich regelmäßig pendeln. Aufgrund von Corona allerdings fanden viele Reisen nur virtuell statt. Bei den fast täglichen Zoom-Besprechungen, die wegen der Zeitverschiebung immer am deutschen Morgen stattfinden müssen, erzählen tiefe Augenringe von der Daueranspannung unter der das Team steht. Die in Indonesien weit verbreitete Gelassenheit und Liebe zur Improvisation helfen ihnen zwar meistens, die komplizierten Arbeitsbedingungen wegzulächeln. Doch den direkten zwischenmenschlichen Kontakt vermissen alle schmerzhaft.
Umso wichtiger ist die Rolle der Neu-Kasseler: Afisina und Hartono sind ständig vor Ort unterwegs, mischen sich unter die Besucher von lokalen Ausstellungen, Konzerten und Demos – oder kommen in Kneipen ins Gespräch mit Anwohner*innen. „Wir wollen die lokalen Ressourcen aktivieren. Dazu müssen wir Kassel und seine Menschen kennen lernen“, erklärt Afisina. Zur Kasseler Museumswoche im Juni 2020 legte der Sound- und Performance-Künstler im ruruHaus für jedermann Platten auf. Die Türen der alten Kaufhalle standen weit offen, einige Kasseler Künstler*innen und Student*innen verkauften selbst gemachte Postkarten, T-Shirts und Design-Objekte. Es gab Workshops, Film Screenings und Diskussionen – unter anderem zu Rassismus, kollektivem Publishing und Joseph Beuys. „Bisher sind die Ausstellungsbesucher*ïnnen immer nur zur documenta gekommen, aber nicht nach Kassel. Das wollen wir ändern“, so Afisina.
Sein Kollege Hartono, der in Jakarta und Neu-Delhi Architektur studiert hat, gab seinen Einstieg als Gastdozent an der Uni Kassel – wegen des Lockdowns per Zoom – und ist hauptverantwortlich für das Mapping der Ausstellungsorte. Diese sollen nicht mehr nur als Bühne für die Künstler*innen dienen, sondern Teil der Werke werden. „Wir wollen unsere lumbung-Praxis einsetzen, um einen horizontalen Austausch unter den Teilnehmern, aber auch mit den lokalen Communities zu ermöglichen“, erklärt der 49-jährige Konzeptkünstler. Natürlich gibt es Vorgaben von Seiten der Stadt und der documenta-Verwaltung, ruangrupa musste viel verhandeln und Kompromisse eingehen „Aber gestoppt hat uns bisher noch niemand“, lacht Hartono. Alle, die sich sorgen, dass die documenta 2022 keine Ausstellung im klassischen Sinne sein werde, beruhigt er: „Unser Ziel ist nicht, die documenta und ihre Bedeutung zu verändern.“ Alle teilnehmende Künstler*innen müssen am Ende auch etwas präsentieren – sei es in Form von Objekten, Dokumentationen oder Performances.
Die documenta als nachhaltiges Netzwerk
„Es wird alles geben, was man von einer großen Schau erwartet – es wird auch sinnlich und haptisch“, bestätigt Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta. Die größte Neuerung sei, dass sehr viele Menschen an der Produktion beteiligt sind und die Besucher*innen die Ausstellung mitgestalten werden. „Für ruangrupa ist der Weg das Ziel. Im lumbung-Prozess ist die documenta der Moment, in dem die Ernte eingefahren wird. Aber auch danach geht die Arbeit noch weiter. Das ist ein Ansatz, der in unsere Zeit passt.“
Der Ertrag, auf den ruangrupa hofft, liegt in der Zeit nach der documenta. Die Gruppe hat ihr Ziel erreicht, wenn die beteiligten Künstler*innen Projekte starten, die auch nach der Ausstellung nachhaltig weitergeführt werden, neue Initiativen anregen, andere inspirieren –sowohl in Kassel als auch in ihren Heimatländern, idealerweise weiterhin im gegenseitigen Austausch. Auch das ruruHaus soll nach Möglichkeit fortbestehen. Wenn das lumbung-Prinzip funktioniert, müsste sich die Einrichtung danach selbst finanzieren können und lokalen wie internationalen Kunstschaffenden weiterhin einen Ort bieten, wo sie sich einbringen und ausprobieren können.
Dieser Artikel erschien zunächst bei Riffreporter und wurde für die südostasien redaktionell bearbeitet. Die Rechte an Text und Fotos liegen bei der Autorin Christina Schott.