Indonesien: Für marginalisierte Minderheiten in Städten erhöhte die Covid-19-Pandemie den strukturellen Druck unter dem sie ohnehin leiden. Doch während der Staat nicht schnell genug reagierte, entwickelte die Bevölkerung verschiedene Formen der Solidarität.
Die Covid-19-Pandemie hat das Leben der Menschheit verändert. Menschen, die zuvor in Nähe und Gemeinschaft lebten, müssen auf einmal in Abstand zueinander gehen. Auf unterschiedlichste Weise versuchen die Menschen, mit der neuen Situation umzugehen. Dabei gibt es auch jene, die versuchen, Profit aus ihr zu schlagen. In Indonesien geschah dies beispielsweise mit dem Durchpeitschen des Omnibus-Gesetzes, von dem die Eliten des Landes profitieren (vgl. dazu den Artikel Covid-19 und das Omnibusgesetz in Indonesien auf suedostasien.net) Auch in Thailand und Myanmar wurde Covid-19 von den Herrschenden instrumentalisiert, um ihre Position zu stärken.
Für Minderheiten, wie der marginalisierten Bevölkerung in Großstädten, hat die Pandemie den strukturellen Druck, unter dem sie leiden, noch erhöht. Die Ansteckungsgefahr in beengten Wohnverhältnissen, die eingeschränkte Bewegungsfreiheit sowie die Reduzierung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten trifft diese Bevölkerungsgruppe besonders hart.
Städtische Arme, die keinen Zugang zu Land haben, auf dem sie selbst Nahrungsmittel anbauen können, kommen in einer derartigen Situation schnell in existentielle Not. Angesichts einer Regierung, die im ersten Jahr der Corona-Pandemie kaum etwas tat, um ihre Bürger*innen zu schützen, schien Selbstorganisation und Solidarität der wirksamste Weg aus der Krise. Dieser Artikel besteht aus zwei Teilen und stellt drei Solidaritätsnetzwerke marginalisierter Gruppen in den drei indonesischen Großstädten Jakarta, Semarang und Yogyakarta vor. Er basiert auf Interviews des Autors mit Akteur*innen sowie Informationen aus Online-Publikationen.
Jakarta: Selbstorganisierte Kontaktreduzierung und solidarische Versorgung
Jakarta, die 10,56 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt Indonesiens, hatte im März 2020 4,5 % Einwohner, die der Regierungsstatistik zufolge als arm galten. Der Gini-Koeffizient, der die Verteilung von Vermögen misst [0 = gleiche Verteilung, 1 = maximale Ungleichverteilung], stieg von 0,38 im Jahr 2019 auf 0,39 im Jahr 2020 (Zahlen der Nationalen Statistikbehörde, Stand März 2020).
Als Graswurzelorganisation, deren Mitglieder der städtischen Unterschicht angehören, war Jaringan Rakyat Miskin Kota (Netzwerk der armen städtischen Bevölkerung, JRMK) sehr direkt mit der Tatsache konfrontiert, wie schnell mittellose Menschen in der Covid-19-Pandemie vor existentiellen Problemen standen. Als die Nachrichten über Covid-19 im Februar 2020 zum ersten Mal die Runde machten, setzten Panikkäufe ein. Masken und Handdesinfektionsmittel wurden in großer Zahl gekauft. Doch wer das Geld dafür nicht aufbringen konnte, ging leer aus und sah sich ungeschützt der Ansteckungsgefahr und damit auch der potentiellen Möglichkeit, an einer Infektion zu sterben, ausgesetzt.
JRMK forderte daher seine Mitglieder auf, zwei Wochen lang zu Hause zu bleiben und von dort aus zu arbeiten. Das Konzept des home office oder von bezahlter Kurzarbeit sollte nicht der Mittelschicht vorbehalten bleiben. „Auch die städtischen Armen müssen diese Möglichkeit haben“, sagt JRMK-Koordinator Gugun (Interview am 18. März 2021). Während dieser zwei Wochen sammelte JRMK Spenden über die Internetplattform kitabisa.com. Bis zum Ende der Spendensammlung kamen 260 Millionen Indonesische Rupiah (rund 15.200 Euro) von mehr als 1.000 Spender*innen zusammen. Dieses Geld wurde an 465 Familien des JRMK-Netzwerkes verteilt – verbunden mit der Auflage, zu Hause zu bleiben.
Außerdem verteilte JRMK selbst genähte Masken und selbst hergestellte Desinfektionsmittel. Zur Immunstärkung wurde Jamu (auf Kräutern und Wurzeln basierende Naturmedizin, siehe Artikel Jamu – Kräutermedizin ist gelebter Pluralismus auf suedostasien.net) von Jamu– Hersteller*innen aus Yogyakarta bestellt und verteilt. All diese Maßnahmen wurden vor dem Hintergrund ergriffen, dass die arme städtische Bevölkerung in sehr beengten Wohnverhältnissen lebt. Kam es zu Fällen von Ansteckung, so begaben sich die Betreffenden dennoch freiwillig in die Isolation – und wurden von den eigens errichteten Gemeinschaftsküchen des Netzwerkes mit Nahrung versorgt.
Allzu lange zu Hause zu bleiben konnten sich die JRMK-Mitglieder, die überwiegend im informellen Sektor arbeiten, jedoch nicht leisten. Doch die generell heruntergefahrene wirtschaftliche Aktivität in Jakarta sorgte dafür, dass die Verdienste drastisch sanken. Die einzige Lösung bestand darin, die eigenen Ausgaben für Nahrungsmittel zu verringern.
Reis ist für Javaner*innen das Hauptnahrungsmittel. Üblicherweise kommt er aus den „Reisgebieten“ West- und Zentraljavas nach Jakarta. Der Beginn der Pandemie fiel mit der Reisernte in Zentraljava zusammen, doch durch die eingeschränkte Mobilität kam es auch zu Lieferengpässen von Reis. So kam es zur widersprüchlichen Situation, dass die Bäuer*innen ihre Reisernte zunächst lagerten, weil es kaum Transportmöglichkeiten gab, während die arme Stadtbevölkerung diesen dringend brauchte und nur wenig Geld dafür hatte.
Solidarität mit Geschichte
Um an bezahlbaren Reis zu kommen und die Zwischenhändler, die den Preis hochtreiben, beiseite zu lassen, kaufte JRMK direkt von den Bäuer*innen. Hierbei wurden alte solidarische Netzwerke wieder belebt. In Zentraljava am Kendeng-Gebirge gibt es Reisbäuer*innen, die seit Jahren gegen Landraub durch Zementfabriken protestieren. In der Vergangenheit hatte JRMK die Bürgerinitiative der Bäuer*innen vom Kendeng-Gebirge bei ihren Protestaktionen in der Hauptstadt unterstützt, zum Beispiel als sie sich vor dem Präsidentenpalast ihre Füße einzementiert hatten. „Also dachten wir uns, diesmal bitten wir sie um Unterstützung“, so JRMK- Koordinator Gugun.
So bekam JRMK Reis zu einem Preis, der 20 bis 30 Prozent unter dem Marktpreis lag. Bis heute haben die Bäuer*innen vom Kendeng-Gebirge 24 Tonnen Reis nach Jakarta geschickt. Nach Aussage von Gunretno, Reisbauer und Koordinator der Bürger*innen-Initiative am Kendeng-Gebirge, solle dies den Menschen helfen, die selbst keinen Zugang zu Land und dem Anbau von Reis haben. Zugleich gehe es auch darum, dass die Fruchtbarkeit des Landes am Kendeng- Gebirge und seine Schutzwürdigkeit auch Menschen in der Ferne vor Augen geführt würden.
Umgekehrt ‚warben’ auch die Mitglieder einer Kooperative von Fischern, die sich innerhalb der JRMK organisiert, für ‚ihre Produkte`. Sie schickten 50 Kilo Trockenfisch mit dem LKW, der den Reis geliefert hatte, von Jakartas Küste nach Zentraljava zum Kendeng-Gebirge. „Mit Reis kommen, mit Fisch nach Hause fahren“, kommentierte JRMK-Koordinator Gugun das Geschehen.
Es zeigt sich am Beispiel der Initiative von JRMK, wie die Menschen aus dem Geschehen der Covid-19-Pandemie neue Wege der Solidarität entwickeln. Im zweiten Teil des Artikels lest ihr über zwei weitere Beispiele von Solidaritätsformen. Dann wird es um selbst verwaltete Gemeinschaftsgärten in Semarang und den Aufbau von Küchen für Alle (KüfAs) in Yogyakarta gehen…
Übersetzung aus dem Indonesischen von: Anett Keller
Das ist der erste Teil des Artikels „Solidarität in Pandemie-Zeiten“. Hier geht es zu Teil II.