Kambodscha/Südostasien: Schamanismus kann indigenen Völkern helfen, ihre Identität und ihr Territorium gegen den globalen Kolonialismus zu verteidigen
Das Konzept des Schamanismus als anthropologisches Konstrukt sorgt auch nach Jahrhunderten vor allem unter westlichen Gelehrten für Debatten. Wie die US-amerikanische feministische Anthropologin und Archäologin Alice Beck Kehoe in ihrer Abhandlung Schamanen und Religion betont, „ist die Beschreibung von Schamanen und anderen ein wichtiges Thema, um die westliche Konstruktion eines stereotypen, mythischen Anderen zu erkennen. Die Zusammenfassung von Heilern, Wahrsagern und Priestern außerhalb der globalen ‚Buchreligionen‘ unter dem Etikett ‚Schamanen‘ zeigt, wie schwierig es für uns Westler ist, das stereotype Andere zu erkennen, das in unsere Erziehung eingebettet ist.“
Ich stamme aus Südamerika, wo indigene Gemeinschaften – insbesondere in den Amazonas-Gebieten – das Wort Schamanismus ablehnen, um unsere spirituellen Ahnentraditionen zu beschreiben. Daher verwende ich dieses Wort mit Vorsicht und Respekt, da ich weiß, dass nur die ernsthafte ethnografische Erfahrung von Wissenschaftler*innen zu wirklichem Verständnis einer indigenen Gruppe führen kann.
Für mich ist das Leben in Kambodscha seit 1999 zu einer ethnografischen Erfahrung geworden, einschließlich des Erlernens der Sprache und des Zusammenlebens mit einer reichen tausendjährigen Kultur, die nicht nur das Volk der Khmer, sondern auch ein riesiges Netzwerk indigener Völker in ganz Asien umfasst. Im Bewusstsein meiner eigenen Identität als Ureinwohner Amerikas und Opfer jahrhundertelanger blutiger Eroberungen und Kolonisation habe ich die Existenz indigener Gruppen in Südostasien und insbesondere in Kambodscha verfolgt.
Globaler Feldzug über alle Kontinente
Die westliche Kolonisierung wurde zu einem globalen Feldzug, der alle Kontinente erfasste und auch Gebiete beeinflusste, die nicht direkt von ausländischen Mächten unterworfen wurden. Mit der Gründung der UNO endete jedoch nicht die Kolonisierung. Es änderte sich lediglich die Art der Einflussnahme, die zur Schaffung einer neuen Weltordnung führte. Die ehemaligen Kolonien wurden zur ‚Dritten Welt‘, dem heutigen ‚Globalen Süden‘. Nichtsdestotrotz halten die ehemaligen Kolonialmächte weiterhin an Machtbeziehungen, Ausbeutung und militärisch-politisch-kulturellen Interventionen unter der Flagge der Demokratie fest.
In der Geschichte der Eroberung und Kolonisierung von Regionen wie Südostasien ist es wichtig zu sehen, wie große ethnische Mehrheiten und Minderheiten unterschiedliche Wege gingen. Während die Mehrheiten von den eindringenden Eroberern militärisch unterworfen wurden, erfuhren ethnische Minderheiten zusätzliche Demütigungen und galten als primitiver und wilder. In Indochina etwa wurde deutlich, wie Frankreich und andere westliche Mächte die Gebiete nach ihren eigenen Interessen aufteilten, ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung zu nehmen, was zu Konflikten führte, die auch nach den Unabhängigkeitsereignissen fortbestanden.
Für die Kolonialmächte spielten die heiligen angestammten Gebiete der von ihnen unterworfenen Völker keine Rolle, da sie überhaupt keine Rechte besaßen – sie waren keine zivilisierten Menschen im Sinne des westlichen Standards. Weniger als ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution eroberte Frankreich Cochinchina und versklavte Vietnam, Laos und Kambodscha. Damit machten sie deutlich, dass ihr Konzept von „Liberte, Egalité, Fraternite“ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) definitiv nur für Europäer*innen galt, während das ‚Andere‘, das Nichtwestliche, immer noch barbarisch war und von den ‚echten Zivilisierten‘ unterworfen werden musste.
Alte Konflikte um Territorien bestehen fort
Die Umwandlung der europäischen Kolonien in unabhängige Länder zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert verlief nicht unumstritten. Der Beweis dafür ist, dass heute – nach Jahrzehnten der Unabhängigkeit und Souveränität – viele ehemalige Kolonien politisch instabil sind. Alte Konflikte um Territorien bestehen fort, einschließlich der Macht kleiner Eliten, die ihre Länder im Sinne ehemaliger Kolonialmächte verwalten.
Obwohl der indigenen Bevölkerung von offizieller Seite viel Aufmerksamkeit zuteilwird, weil sie ihre Rechte und Identität schützen wollen, gibt es in Südostasien noch viel zu tun. Während indigene Völker in Süd- und Nordamerika über legale Rechte verfügen und Souveränität über ihre Gebiete besitzen, ist dies in Südostasien nicht der Fall. Hier ist der Staat der Eigentümer der indigenen Gebiete, was den Weg für jede Art von Missbrauch wie Enteignung und Landraub öffnet.
„Welch Arroganz zu behaupten, das Land gehöre Ihnen, wenn sie doch dem Land gehören! Wie kann man etwas besitzen, das einen selbst überlebt? Nur die Ethnie besitzt das Land, weil die Ethnie ewig lebt. Einen Platz zu beanspruchen, ist das Geburtsrecht eines jeden“, sagte einst Macli-ing Dulag, Stammesführer der Butbut in der philippinischen Provinz Kalinga. Wegen seines Widerstands gegen ein Staudammprojekt auf dem Territorium seines Volkes wurde er von Soldaten des Diktators Marcos erschossen. Seine Worte leben jedoch weiter.
Indigene brauchen souveräne Gebiete
Für Indigene gehört das Land ihrer Vorfahren zu ihrer Identität. Wie eine junge Kreng-Frau Anfang 2024 bei einem Treffen indigener Völker im kambodschanischen Kep sagte: „Ohne das Land können wir nicht mehr sein, unsere eigene Existenz ist in Gefahr und wir haben kein Territorium, in dem die Asche unserer Vorfahren begraben ist.“ Die Schaffung von souveränen Gebieten könnte eine große Hilfe für die indigene Bevölkerung in Südostasien sein. Doch dies würde den guten Willen der jeweiligen Staaten voraussetzen, in denen es eine natürliche Tendenz zur erzwungenen kulturellen Assimilation gibt.
Weil in den Schulen keine ethnischen Sprachen gelehrt werden, sind Kinder und Jugendliche gezwungen, in der Landessprache zu sprechen. So finden es kambodschanische Jugendliche faszinierend, Englisch und Koreanisch zu lernen, während sie über die Sprachen der Jarai, Kreng oder Tampoung als etwas ‚Komisches‘ und ‚Seltsames‘ lachen. Damit sind wir beim Thema Diskriminierung von Minderheiten angelangt. Resilienz ist jedoch eine Stärke der indigenen Gemeinschaften, die als Erben und Bewahrer*innen alter Kulturen gelten. Um diese Kulturen und Sprachen zu bewahren, spielt die indigene Spiritualität eine sehr wichtige Rolle.
Schamanen stärken die Identität indigener Gemeinschaften
In diesem Sinne stellt die Figur des Schamanen ein Element des Zusammenhalts unter indigenen Menschen dar. Die Rolle des Cha Thom zum Beispiel, wie die Schaman*innen von den meisten indigenen Völkern Kambodschas genannt werden, ist für die dortigen Gemeinschaften sehr bedeutsam. Es hat für mich sogar den Anschein, dass eine Gemeinschaft eher der Gefahr kultureller Assimilierung und damit dem Aussterben der eigenen Kultur ausgesetzt ist, wenn es keine Schaman*innen mehr gibt. Wie einer meiner Studierenden sagte: „Unser Cha Thom ist derjenige, der die Geheimnisse unserer Vorfahren vermittelt, er oder sie kennt die Geister der Wälder, die Kraft der Pflanzenmedizin und der Tiere.“
Aber auch dieses wichtige kulturelle Element ist im Niedergang begriffen, und ein Hauptgrund dafür ist die engagierte Kampagne westlicher Missionare, die versuchen, die indigene Bevölkerung mit fundamentalistischen Annahmen zu bekehren. Auch wenn wir die Religionsfreiheit fördern und respektieren, müssen die indigenen Völker tief in ihre eigene Kultur eintauchen und sie verteidigen. Deshalb müssen auch ihre Schaman*innen gefördert werden, denn sie sind die Führer*innen ihrer Gemeinschaften und stellen ein Bindeglied zwischen ihrem Volk und der spirituellen Welt dar.
Missionare als Vorhut des Extraktivismus
Wenn ausländische Missionare versuchen, indigene Völker in Ländern wie Kambodscha zu ‚bekehren‘, kommt ihnen das Fehlen von Schriftsystemen in einheimischen Sprachen wie etwa Jarai zugute. So können die Missionen Gelder in spezielle Projekte zur Schaffung von Schriftsystemen investieren, um Bibeln und religiöse Texte in den einheimischen Sprachen zu veröffentlichen. Für Missionare in den Amazonasgebieten hat sich diese Methode bereits als erfolgreich erwiesen. Das beweist zwei Dinge: erstens das mangelnde Interesse ehemals kolonisierter Staaten, in kulturelle, ethnische und Bildungsprojekte zu investieren, die ihrer eigenen indigenen Bevölkerung zugutekommen. Und zweitens das Profitieren religiöser Sekten von diesen Unzulänglichkeiten. Wie wir in Brasilien anhand der umstrittenen Regierung von Jair Bolsonaro beobachten konnten, sind Aktionen von Missionaren, die die Indigenen mit ihrer religiösen Propaganda fügsam machen, für die Durchsetzung des Extraktivismus nützlich.
Cha Thom (wörtlich: älterer Mensch) dagegen ist der/die natürliche Führer*in der Indigenen. Er oder sie hat eine besondere Beziehung zum Dschungel, zur indigenen Spiritualität und zur Gemeinschaft, ist Heiler*in, aber auch der weise ältere Mensch, der die Gemeinschaft durch die Herausforderungen des Lebens und die Entscheidungen führt. Die Bedeutung von Cha Thom, von den Khmer Kru Thiey genannt, lässt sich nur schwer in einer kurzen Beschreibung zusammenfassen, da sie ein komplexes kulturelles Umfeld umfasst. So verhält es sich auch mit dem Konzept des Schamanismus, das – aus dem ursprünglichen sibirischen Kontext herausgelöst – reduziert wird, wenn es auf andere Kulturen angewandt wird.
Schaman*innen als Schlüssel zu Identitätssuche und Selbstschutz
Im Sinne von Resilienz und Dekolonialisierung halten die Cha Thom/Kruy Thiey in Kambodscha – wie auch die Schaman*innen in anderen Gebieten Südostasiens – den Schlüssel zu Identitätssuche und Selbstschutz. Das sind die grundlegenden Elemente für das Überleben von Kulturen und die Suche nach Ursprüngen und Werten ihrer Vorfahren, die meist in vorkolonialen Zeiten liegen. Wenn Indigene von der Bedeutung ihres Territoriums sprechen, geht es nicht um eine bloße Idee oder um ein menschliches Bedürfnis nach Lebensraum zu wirtschaftlichen Zwecken. Wir sprechen über den Sinn des Territoriums im Sinne dessen, was westliche Anthropolog*innen „Weltanschauung“ oder „Kosmologie“ der indigenen Bevölkerung nennen. Ich würde es jedoch als die Philosophie der Indigenen bezeichnen, die das Recht der nicht-westlichen Kulturen und Gesellschaften beinhaltet, ihre eigenen Anschauungen zu präsentieren.
Unter den vielen Elementen, die koloniale Mentalitäten und Systeme infrage stellen, erscheint mir die Rolle der Schaman*innen in indigenen Gemeinschaften deshalb so wichtig, weil sie die wichtigsten autorisierten Führer der Gemeinschaft sind: Durch ihre Suche nach Visionen bringen sie die Gemeinschaft zu ihren Ursprüngen zurück und inspirieren sie auf ihren Wegen in die Zukunft.
Übersetzung aus dem Englischen von: Christina Schott