Deutschland/Indonesien: Im Juni 2023 fanden die Olympics World Games 2023 zum ersten Mal in Deutschland statt. 2027 wird Indonesien der Gastgeber sein. Ein Interview mit Warsito Ellwein, Vorsitzender von Special Olympics Indonesia (SOINA).
südostasien: Was ist der Unterschied zwischen den Special Olympics und ‚anderen‘ Olympischen Spielen?
Warsito Ellwein lebte mehr als 30 Jahre in Deutschland. Er war früher politischer Aktivist und langjähriges Vorstandsmitglied der Südostasien Informationsstelle (SOAI). Nach dem Rücktritt von Diktator Suharto 1998 kehrte Warsito nach Indonesien zurück und engagierte sich in unterschiedlichen Initiativen zur Stärkung der Demokratie. Nach mehrjähriger Tätigkeit im Mitarbeiterstab des Gouverneurs von Zentraljava, Ganjar Pranowo, wurde Warsito 2019 zum Vorsitzenden des indonesischen Special Olympics Verbandes (SOINA) gewählt.
Warsito Ellwein: Die Special Olympics sind eine Bewegung, sie sind etwas Besonderes. Im Gegensatz zu den Olympischen und Paralympischen Spielen nehmen an den Special Olympics Athlet*innen teil, deren Beeinträchtigung meist auf das Down-Syndrom zurückzuführen ist. Menschen mit Down-Syndrom werden mit einer genetischen Störung, einer Chromosomenanomalie, geboren, die zur Entwicklung einer Intelligenz führt, die meist unter dem Durchschnitt liegt. Das Hauptziel der Special Olympics besteht nicht darin, Medaillen zu gewinnen, sondern in der Gemeinschaft und im Bemühen, Menschen ins gesellschaftliche Leben einzubeziehen.
Indonesien ist ja nicht zum ersten Mal dabei…
Indonesien ist seit 1986 Mitglied der weltweiten Special-Olympics-Bewegung. Deshalb nehmen wir auch immer an den Special Olympics World Games teil, 2019 in Abu Dhabi, 2023 in Berlin. Aber diese Beteiligung und die Spiele waren der Öffentlichkeit bisher kaum bekannt. Wir hoffen, dass es künftig mehr mediale Aufmerksamkeit geben wird.
Was tut SOINA, der indonesische Verband für die Special Olympics, dafür?
Wir haben das Ganze in Indonesien dieses Mal anders aufgezogen, angefangen bei den sprachlichen Bezeichnungen. Die Athlet*innen bezeichnen wir nicht mehr als „Menschen mit Behinderung“, wie man sie früher nannte, sondern „Menschen mit speziellen Begabungen“, auf Indonesisch „orang bertalenta khusus“. Für Menschen mit (geistiger) Behinderung gibt es in Indonesien sehr große Hürden. Sie erleben häufig soziale Stigmatisierung, werden als Belastung oder sogar als Schande für die Familie angesehen. Oft wird ihr Zustand als eine ‚Strafe Gottes‘ angesehen, zum Beispiel wegen Verfehlungen der Eltern oder anderer Familienmitglieder. Sie werden verspottet und für dumm gehalten, auch von ihren eigenen Familien. Sie werden oft geschlagen oder sogar gefesselt, weil sich die Familien für sie schämen.
Kann man das verändern, indem man diese Menschen anders bezeichnet?
Ja. Als Erstes wollten wir die Bezeichnungen „behindert“ streichen. Denn für uns sind sie Menschen mit spezieller Begabung. Sie sind also besondere Menschen. Ja, sie haben einen niedrigeren Intelligenzquotienten als andere, aber dafür haben sie auch andere Stärken. Und das wirkt. Seit wir die Bezeichnung geändert haben, und für diese „Menschen mit spezieller Begabung“ werben, bekommen wir mehr Sponsoren aus der Wirtschaft. Plötzlich gibt es Sportbekleidungsfirmen und Schuhfirmen, die unsere Athlet*innen ausstatten wollen.
Gab es weitere Veränderungen, über die sprachliche Ebene hinaus?
Wie gesagt, früher geschah alles eher unter dem Radar. Der Verband wählte einige Athlet*innen, meistens aus Jakarta oder aus Westjava, und schickte die Delegation anschließend zu den Special Olympics World Games. Es gab kaum Publikationen darüber, keine Berichte in den Medien. Wir sind bei den Vorbereitungen dieses Mal in die Provinzen gereist, haben mit den Regionalregierungen gesprochen, und baten sie um Hilfe bei der Wahl der Athlet*innen mit speziellen Begabungen. Und siehe da, viele Provinzen machen mit und viele Eltern kommen, um ihre Kinder registrieren zu lassen. Städte und Provinzen haben dann zusammen mit uns regionale Special Olympics Games veranstaltet, die so genannten PESODA. Und die besten Athlet*innen kommen dann zu PESONAS, den nationalen Special Olympics, die wir im Juli 2022 mit Unterstützung der Provinz-Regierung in Semarang, der Hauptstadt von Zentraljava, organisierten.
Wie war der Zuspruch unter Athlet*innen und Zuschauer*innen?
Die Resonanz war unglaublich, wir konnten es fast nicht glauben. Es kamen über 1000 Athlet*innen aus den Provinzen. Viele Delegationen kamen von fernen Inseln mit Bussen oder mit Schiffen, weil sie nicht genug Geld für ein Flugticket hatten. Es gab Familien, die ihre Kinder eigens finanzieren. Ganze Familien kamen nach Semarang. Wir hatten ja als nationaler Verband kein Budget aus staatlichem Haushalt. Aber es kamen viele Spenden. Und in Semarang hatten wir viele, viele Freiwillige, die bei der Durchführung von PESONAS helfen wollten. Die Athlet*innen brauchen ja Betreuung, und zwar 24 Stunden am Tag. Sie dürfen nicht allein gelassen werden. Die Begeisterung war außergewöhnlich. So viele Sportler*innen und so viele Freiwillige wollten sich engagieren, auf regionaler und auf nationaler Ebene. Nach PESONAS fingen wir dann direkt mit der Vorbereitung für die Special Olympics in Berlin an. Die ausgewählten Athlet*innen aus 17 Provinzen wurden zunächst in ihren Heimatstädten betreut, und dann später in einem speziellen Trainingscamp in Semarang vorbereitet. Und dieses Mal haben viele Medien darüber berichtet, regionale und auch nationale Medien. Bevor wir nach Berlin flogen, wurden wir von Präsident Joko Widodo empfangen.
Du hast lange in Deutschland gelebt, wo man dich als politischen Aktivisten gegen das Suharto-Regime kannte. Wie kommst du zur Position als Vorsitzender des indonesischen Special Olympics-Verbandes SOINA?
Nach Suhartos-Rücktritt (1998) bin ich nach Indonesien gegangen und habe mit unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen gearbeitet, vor allem in Zentraljava. Als der langjährige Vorsitzende der SOINA aus gesundheitlichen Gründen sein Amt zur Verfügung stellte, hat man mich als einen der Kandidaten für dieses Amt nominiert. Anfangs wollte ich die Nominierung nicht annehmen, da ich, ehrlich gesagt, nicht viel von Sportorganisation verstehe. Aber viele Freunde haben mich dazu gedrängt. Ich habe dann verstanden, das Special Olympics anders ist, es ist kein Leistungssport. Hier ist vielmehr der Solidaritätsgedanke, das Miteinander, die Teilhabe an gesellschaftlichem Zusammenleben wichtig. Also habe ich zugestimmt. Und dann wurde ich tatsächlich auch gewählt, obwohl es andere Sportfunktionäre gab, die sich zur Wahl gestellt hatten. Vielleicht, weil die darauf folgenden World Games in Berlin stattfinden sollten. Ich hatte ja vorher an vielen deutsch-indonesischen Projekten mitgearbeitet.
Hast du das Gefühl, du kannst in dieser Funktion tatsächlich gesellschaftlich etwas ändern, zum Beispiel beim Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen in Indonesien?
Es ist ein langer Prozess, aber die Antwort ist: ja. Man sieht das jetzt schon, mit der Durchführung der nationalen Special Olympics (PESONAS) 2022. Plötzlich bekommen wir viel Aufmerksamkeit. Wir haben jetzt im Verband Sektionen in 34 Provinzen, die 35. ist in Vorbereitung. Wir haben jetzt über 4.700 aktive registrierte Sportler*innen. Außerdem fast 600 registrierte Trainer*innen und genauso viele registrierte Freiwillige, die sich freiwillig engagieren. Sie bekommen keine Bezahlung dafür.
Du sprichst über Solidaritätsgedanken und Miteinander. Wie wird das für dich spürbar?
Man spürt den Unterschied zwischen „Leistungssport“ und Special Olympics. Als wir mit über 1.000 Athlet*innen das Sportfest in Semarang veranstalteten, man muss sich erst einmal klarmachen, was das bedeutet. Diese Menschen sind ja etwas anders, sie vergessen sehr oft ihre Sachen und legen sie einfach auf einen Tisch oder eine Bank. Aber wir konnten ihre Smartphones, Uhren und andere Wertsachen immer wieder finden. Nichts wurde geklaut, alle waren fröhlich dabei.
Vielleicht noch eine kleine Geschichte… Am Anfang, als wir unser Fußballteam trainierten, ist uns aufgefallen, dass es den Spieler*innen anscheinend schwer fiel, Tore zu schießen. Jemand stand oft schon vor dem Tor, doch anstatt den Ball rein zu schießen, beförderte er den Ball ins Aus. Wir Trainer und Betreuer haben das am Anfang nicht verstanden, warum schießt er den Ball nicht ins Tor? Als wir den Spieler fragten, antwortete er: „Ich habe es nicht übers Herz gebracht, der Torwart ist doch mein Freund. Wenn ich den Ball ins Tor schieße, wird man nachher über ihn lachen oder ihn als schlechten Torwart bezeichnen. Das will ich nicht.“ So sind sie eben, diese speziellen Athlet*innen. So ist ihr Geist der Solidarität und des Miteinanders.
Und wie habt ihr dann trainiert? Beim Fußball müssen doch Tore fallen?
Wir haben ein Fußballspiel mit fünf Toren erfunden. Und die Spieler sollen Tore machen, egal in welches Tor. Und die anderen sollen die Tore verhindern. Das hat funktioniert.
Gab es bei den Special Olympics in Berlin für die indonesischen Athlet*innen ein Medaillenziel?
Ja, das Medaillenziel ist notwendig, um die Anforderungen der Gesellschaft und der Menschen in der Heimat gerecht zu werden. Es heißt eben Sport, und die Leute zu Hause wollen wissen, ob wir erfolgreich sind oder nicht. Deshalb haben wir von SOINA gesagt, wir wollen in Berlin neun Goldmedaillen gewinnen [die indonesischen Athlet*innen errangen zehn Mal Gold, fünf Mal Silber und acht Mal Bronze, d.R.] . Aber was für uns noch wichtiger ist, ist zu zeigen, dass die Sportler*innen herausragende Leistungen erbringen können und dass sie auch im Namen Indonesiens unterwegs sind. Wenn die Gesellschaft das erkennt, gibt es einen größeren Raum für ihre Teilhabe am Leben. Sie können mit weniger Diskriminierung und ohne Stigmatisierung leben. Zumindest ihre Familien sind jetzt sehr stolz auf diese talentierten Menschen, weil sie nach Berlin geflogen sind und dort Indonesien vertreten haben.
Interview und Übersetzung aus dem Indonesischen von: Hendra Pasuhuk