Werk der Künstlerin Ku Kue aus Myanmar mit dem Titel Unser Htamein = unsere Flagge = unser Sieg (Htamein = Wickelrock für Frauen). © Ku Kue
„Es kommt kein Individuum um die Gemeinschaft je herum!“ reimt, so kurz wie treffend, die Lyrikerin Gudrun Zydek. Dass wir Menschen nicht in erster Linie raffgierige Individuen im einsamen Überlebenskampf sind, sondern bis heute dank sozialen Verhaltens überlebt haben, rückt spät, aber hoffentlich nicht zu spät, immer mehr ins öffentliche Bewusstsein.
Die diesjährige documenta wird für den Globalen Norden und seine Kunstwelt, die bislang überwiegend das kreative Individuum und seine Ausdrucksweise betonten, ein Lernfeld darstellen. Erstmals kuratiert ein Kollektiv die weltweit angesehene Kunstschau – und dieses Kollektiv kommt aus Südostasien! ruangrupa, kurz ruru genannt, gründete sich in Indonesien kurz nach Ende der Suharto-Diktatur und wirkt seitdem gemeinschaftlich im Rahmen eines gewachsenen Netzwerkes von Künstler*innen – vor allem Gruppen aus dem Globalen Süden.
Die Vision von ruru ist zugleich Alltagspraxis. Lumbung – so heißt die Leitidee für das Entstehen der documenta fifteen, die im Juni dieses Jahres eröffnet werden wird. Vorbild ist die gleichnamige Reisscheune in Indonesien, in die ein Dorf seine Ernte einfährt, um sie hinterher nach Bedarf umzuverteilen.
Nach diesem Vorbild arbeitet auch ruru: auf eine nachhaltige, soziale Weise, bei der sich die Beteiligten gegenseitig helfen und fördern, ohne den eigenen Gewinn in den Vordergrund zu stellen. Die Journalistin Christina Schott stellt dieses Konzept in ihrem Artikel Kunst und Leben sind nicht voneinander zu trennen vor. Die Wurzeln des gemeinschaftlichen Arbeitens in der indonesischen Kunst und wie sie sich im letzten Jahrhundert weiterentwickelt hat, analysiert die Kunsthistorikerin Claudia König in ihrem Essay Das Verständnis indonesischer Kollektivität.
Auch in Myanmar spielen Künstler*innen eine starke, solidarische Rolle für die Gesellschaft. Zugleich standen und stehen die kreativen Kräfte des Landes nach dem Militärputsch von 2021 und während der Covid-19- Pandemie vor andauernden Herausforderungen, wie die Galeristin Nathalie Johnston berichtet. Eine der Künstler*innen, deren Werke von der Protestbewegung inspiriert wurden und zugleich als Poster bei Aktionen diese Bewegung prägen, ist Ku Kue. Sie zeigt und beschreibt ihre Werke in der Fotostory Ich möchte wie ein Mensch in meinem Land leben.
Leang Seckon gehört zur ersten Generation zeitgenössischer kambodschanischer Künstler*innen der 2000er-Jahre. Im Interview mit südostasien-Redakteur Simon Kaack gewährt er Einblicke in sein künstlerisches Schaffen, mit dem er politische Strukturen sichtbar macht. Kathrin Eitel hat ebenfalls in Kambodscha den Künstler Lina Sokchanlina besucht und stellt ihn und seine Werke vor. Lina ist Teil des Sa Sa Arts Projects, das ebenfalls auf der documenta fifteen zu Gast sein wird. Welche weiteren Künstler*innen aus Südostasien die Kunstschau in Kassel mitgestalten, verrät uns Tanja Gref in ihrem Artikel: Kunst als transformative Kraft.
Wir dürfen uns auf eine starke, gemeinschaftliche künstlerische Präsenz aus Südostasien freuen, die in diesem Sommer in Kassel und darüber hinaus wirken wird. Diese Vorfreude teilen wir mit Euch in dieser Augabe der südostasien.
Erstmals werdet ihr an dieser Stelle ein mit der Ausgabe wachsendes Editorial lesen. Denn die südostasien startet immer mit vier Artikeln, denen dann ein Vierteljahr lang im Wochentakt ein bis zwei weitere folgen. Diese stellen wir hier nach und nach vor:
Lasst euch überraschen von einem wachsenden südostasien-Werk, das – wie die diesjährige Kunstschau in Kassel – nur möglich ist, weil viele Menschen gemeinschaftlich daran mitwirken. Genau so entsteht jede unserer Ausgaben. Auch die kommende Ausgabe 2/2022 zum Thema Digitalisierung, zu der wir Autor*innen hiermit herzlich einladen: Call for Paper
Viel Freude mit Eurer neuen, wachsenden südostasien wünscht euch: das Redaktionsteam.
Anett Keller hat in Leipzig und Yogyakarta Journalistik, Politikwissenschaft und Indonesisch studiert. Sie hat mehrere Jahre in Indonesien gelebt und von dort als freie Korrespondentin berichtet. Derzeit arbeitet sie als freie Autorin, Moderatorin und Übersetzerin und koordiniert (auf Teilzeitbasis) die Redaktionsarbeit der südostasien.
Indonesien – Mit dem Buch „Pemenang Kehidupan/Winners of Life“ setzen der Fotograf Adrian Mulya und die Autorin Lilik HS den Frauen ein Denkmal, die während der Suharto-Diktatur als Kommunistinnen verfolgt wurden.
Indonesien – Der Dokumentarfilm „Sexy Killers“ thematisiert die massiven Eingriffe in die Natur durch Steinkohleabbau und die verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt. Zugleich zeigt der Film, wie eng die Verzahnung von Politik und Unternehmen beim wertvollen Rohstoff Kohle ist.
Indonesien war ein umkämpfter Schauplatz des Kalten Krieges. 1965 ergriff der prowestliche Militärdiktator Suharto 1965 die Macht. Es begann einer der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Heute erinnern junge Musiker*innen gemeinsam mit Überlebenden an das Erbe der politisch Verfolgten
Indonesien – Aktivist*innen aus Yogyakarta klären über die Gefahren von Plastik und Chemikalien in Menstruationsbinden auf und werben für waschbare Stoffbinden. In Workshops geben sie ihr Wissen an Frauen weiter und nähen mit ihnen gemeinsam farbenfrohe und umweltfreundliche Alternativen zu herkömmlichen Einwegbinden.
Indonesien – Seit mehr als 20 Jahren streitet das Künstlerkollektiv Taring Padi mit kreativen Mitteln für die Rechte der Arbeiter*innen. Die Poster, Banner und Murals der Gruppe sind sowohl Aufruf zum Kampf als auch Dokumentation der indonesischen Arbeiterbewegung
Laura Faludi hat an der Universität Hamburg Südostasienwissenschaften (Schwerpunkt Vietnam und Indonesien) sowie Friedens- und Konfliktforschung studiert. Sie lebt, forscht und arbeitet seit mehreren Jahren in Südostasien. Sie hat als Beraterin für Menschenrechtsdokumentation und visuelles datenbasiertes Storytelling in Myanmar gearbeitet. Zurzeit ist sie als Friedensfachkraft für den Ziviler Friedensdienst in Myanmar und Thailand tätig. Sie schreibt seit 2015 für die südostasien.
Südostasien – In drei Comics arbeiten Autor*innen ihre persönliche und kollektive Vergangenheit auf und setzen auf die Kraft der visuellen Sprache. Ihre Bilder sind mehr als reine Illustrationen des Textes. Sie stellen dar, was sich schwer in Worte fassen lässt.
Myanmar – Sawangwongse Yawnghwe’s Werke untersuchen die Bedeutung von anhaltendem Verlust und Trauma und den Kreislauf gebrochener Versprechen für eine bessere Zukunft. südostasien hat anlässlich seiner Ausstellung „The broken white umbrella“ im April 2022 in Bangkok mit dem Künstler gesprochen
Myanmar – Sawangwongse Yawnghwe spricht im Interview mit südostasien über die Position eines Künstlers im Exil, die politische und künstlerische Marginalisierung ethnischer Minderheiten sowie das Gespenst einer sich wiederholenden Vergangenheit.
Vietnam – Die Kurzgeschichten in “Mein Vietnam” sollen das Land ‚unverfälscht’ darstellen und dem deutschen Publikum junge Autor*innen vorstellen. Ein lobenswertes Projekt. Doch sind die Geschichten weder unverfälscht noch eine gute Einführung in vietnamesische Literatur.
Vietnam/USA: Entschlossene Viet-Cong Kämpfer, ein US-Kriegsfilm und die Mühen der ‚boat people’ im neuen Land: Alles, was wir über Vietnam zu kennen glauben, stößt im Roman “Der Sympathisant” aufeinander. Doch die Geschichte ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Es werden Klischees umgekrempelt und niemand ist so, wie er scheint.
Simon Kaack absolviert seinen Master in Human Rights Studies an der Universität Lund. Besonderen Fokus legt er in seinem Studium auf die Institutionalisierung der ASEAN sowie auf Kambodscha und Myanmar. Zudem ist er Mitglied der ASEAN Youth Organization Germany
Kambodscha – Viele kambodschanische US-Amerikaner*innen teilen Fluchterfahrungen und Traumata. Amy Lee Sanford adressiert diese mit ihrer Kunst und versucht so, gemeinsame Heilungsprozesse anzustoßen.
Kambodscha – In seinen Werken verarbeitet Leang Seckon persönliche Erinnerungen sowie historische und aktuelle Ereignisse. Die Umwelt sei Zeuge von Verbrechen, die ideologische und globale Ursachen hätten, sagt er im Interview.
Indonesien – Die Ausschreitungen gegen ethnische Chines*innen im Jahr 1998 schockierten Menschen auf der ganzen Welt. Von der vorkolonialen Zeit bis zum unabhängigen Indonesien gab es immer wieder Fälle von anti-chinesischer Gewalt.
Südostasien – Viele Missstände in den Polizei- und Sicherheitsapparaten Südostasiens gehen auf ausländische Einflussnahme zurück. Die USA betrieben, vor allem im Rahmen des Kalten Krieges, aggressive und repressive Sicherheitskooperationen, oft getarnt als Entwicklungszusammenarbeit.
Kambodscha – Der große chinesische Einfluss auf das Königreich ist bekannt. Doch auch die Anrainerstaaten und das Erbe der Roten Khmer beeinflussen Kambodschas Außenpolitik stark, wie der Politikwissenschaftler Sovinda Po im Interview berichtet.
Deutschland/Philippinen – Maite Hontiveros-Dittke erzählt von der gespaltenen Diaspora seit Rodrigo Duterte in den Philippinen an der Macht ist – aber auch von der verbindenden Kraft des Essens.
Philippinen – Zwar erließ die Regierung vor fast 20 Jahren ein umfassendes Abfallwirtschaftsgesetz, doch die Umsetzung verläuft lokal sehr verschieden. Informelle Müllsammler*innen besorgen den Großteil der Müllentsorgung. Immerhin gibt es inzwischen in über 20 Städten Plastikverbote.
Südostasien/Europa: Greenpeace Philippines und Greenpeace International sind Teil der ‚Break Free From Plastic’ Bewegung. Das Ziel ist, auf die weltweite Umweltverschmutzung durch Plastik aufmerksam zu machen. Im Interview berichtet Manfred Santen, Chemieexperte bei Greenpeace Deutschland, von ‚Plastikmonstern’ und deren Auswirkungen.
Christina Schott hat 20 Jahre lang aus Indonesien und anderen südostasiatischen Ländern berichtet. Seit 2021 lebt die Mitbegründerin von weltreporter.net in Berlin und arbeitet als freie Journalistin.
Indonesien – Bei der documenta fifteen, kuratiert vom indonesischen Kollektiv ruangrupa, werden nicht Kunstwerke an sich im Mittelpunkt stehen, sondern ihre Entstehung, Aktivismus und soziale Kämpfe. Unsere Interviewpartner*innen Mella Jaarsma und Nindityo Adipurno vom Cemeti Art House in Yogyakarta begleiten ruangrupa seit mehr als 20 Jahren.
Indonesien/Deutschland – Nachhaltig, ökologisch, engagiert: Das indonesische Künstler*innen-Kollektiv ruangrupa präsentiert mit dem Lumbung-Konzept für die documenta fifteen eine radikale Neuorientierung der internationalen Kunstschau.
Indonesien – Die Hamburger Künstlerin Katharina Duve hat im Rahmen eines Künstlerresidenz-Programms des Goethe-Instituts drei Monate in der indonesischen Stadt Yogyakarta verbracht. Zum Abschluss präsentierte sie ihre Recherchen zum Thema Geisterglauben in Java sowie die Ergebnisse ihres Workshops mit dem Titel “(Im)possible Identities – or how can we learn from ghosts?”
Rezension zu: Reimar Schefold: Ein bedrohtes Paradies. Meine Jahre bei den Sakkudei in Indonesien.
Rezension zu: Yvonne Spielmann: Indonesische Kunst der Gegenwart, Logos Verlag, Berlin, 2015, 204 Seiten, 49 €