Deutschland/Indonesien: Die Diskussionen um das Kunstwerk People’s Justice des indonesischen Kollektivs Taring Padi haben die documenta gelähmt. Mitglieder von Taring Padi berichten im Interview über ihre Lernprozesse und betonen ihre Bereitschaft zum Dialog.
Kate Brown: Können Sie mehr über den Entscheidungsprozess erzählen, der zur Entfernung des Kunstwerkes geführt hat?
Alexander Supartono (AS): Als Hestu, ich und ein weiteres Mitglied von Taring Padi an jenem Montag im Juni zum Treffen mit ruangrupa und der documenta-Leitung kamen, hatten wir eine hitzige Debatte darüber, ob wir das Werk verhüllen sollten oder nicht. Einige waren sehr aufgebracht wegen der Verhüllung des Werks und drohten damit, die Ausstellung zu verlassen. Als jemand von der documenta-Leitung sagte, dass niemand wüsste, ob sie am nächsten Tag noch einen Job hätten oder nicht, war uns sofort klar, was wir zu tun hatten. Wir können nicht die Existenz von jemand anderem wegen unserer Arbeit aufs Spiel setzen. Bei unserer Arbeit geht es um Menschlichkeit.
Hestu Nugroho (HN): Der schwarze Stoff war ein Symbol der Trauer, ein erstes Statement. Es ist jedoch auch wichtig, dass wir die lumbung-Gemeinschaft [der Künstlerkollektive, die von ruangrupa für die documenta fifteen zusammengebracht wurden] respektieren. Hätten wir einfach vor unserer Arbeit gestanden und uns geweigert, sie zu entfernen, hätten wir auch das Fortbestehen der gesamten documenta fifteen und aller daran beteiligten Gruppen riskiert.
Sie sagten, der schwarze Stoff sei ein Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs. Sie versuchen, diesen Dialog zu finden. Das ist interessant zu hören, denn das haben wir auch von anderen relevanten Parteien gehört. Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, der als externer Berater hinzugezogen wurde (und schließlich zurücktrat), sagte ebenfalls, dass es schwierig gewesen sei, einen Dialog zu führen. Dasselbe hatte ich schon vor diesen Ereignissen von jüdischen Kunstschaffenden in Deutschland gehört. Warum war es aus Ihrer Sicht so schwer?
AS: Das ist sehr interessant, dass Sie das auch hören. Wir wollen reden. Nachdem entschieden worden war, das Werk zu verhüllen, gab es keine weiteren Diskussionen. Der Vorstand hat uns per E-Mail mitgeteilt, dass einstimmig beschlossen wurde, das Werk innerhalb von zwei Stunden abzubauen.
Wir hören hier und dort etwas, aber ein Dialog findet weiterhin nicht statt. Jetzt sind wir dabei, selbst einen Dialog anzustoßen, ohne die documenta. Wir hoffen, dass sie sich daran beteiligen wird, und vielleicht versuchen sie es auch anderswo, ohne Erfolg und ohne uns darüber zu informieren. Aber lassen Sie uns niemandem die Schuld geben. Machen wir es einfach selbst.
In Kassel hat es auch positive Entwicklungen gegeben. Mitglieder der jüdischen Gemeinde und von ruangrupa haben zusammen Abend gegessen und planen ein gemeinsames Fußballspiel. Das ist der beste Weg, etwas zu unternehmen – dem Zirkus in den Medien und im Bundestag den Rücken zu kehren und wirklich den Menschen zu begegnen, die betroffen sind.
Es gab auch für uns Solidarität. Leute kamen zu uns und haben uns erzählt, was in den lokalen und nationalen Zeitungen geschrieben wurde oder was im Radio diskutiert wurde, weil sie wussten, dass wir kein Deutsch sprechen.
Es gab eine Podiumsdiskussion, die von Meron Mendel organisiert wurde. Haben Sie daran teilgenommen und was haben Sie dort gelernt?
HN: Wir haben viel über die Komplexität von Antisemitismus im Verhältnis zu Antirassismus gelernt – und viel über die postkoloniale Diskussion im deutschen Kontext.
Dort wurde über blinde Flecken in der dekolonialen Diskussion gesprochen, wenn es um jüdische Themen geht.
AS: Ja, und das stimmt auch. Es gibt einen blinden Fleck, der mit kühlem Kopf überdacht werden muss. Wie haben sich die antisemitischen Ansichten der Niederländer während der Kolonisierung Indonesiens auf die Menschen dort ausgewirkt? Welche Vergleiche lassen sich zwischen den Bildern, die die Nazis von Jüd*innen mitbrachten, und der Darstellung der Chines*innen in den 1910er und 1920er-Jahren ziehen? Wir recherchieren aktiv dazu und lernen.
Lassen Sie uns nochmals über das Werk sprechen, das von der documenta-Leitung entfernt wurde. Wie kam es dazu, dass diese Figuren in Ihrer Arbeit People’s Justice erschienen?
AS: Diese Frage wollen wir gerne beantworten, aber wir sind uns nicht hundertprozentig sicher, wer sie gemalt hat, auch wenn es in den Medien dazu einige Spekulationen gab. Wir arbeiten alle zusammen mit großen Stoffbahnen auf dem Boden. Einige Leute zeichnen die Umrisse, und dann kann sie jede*r ‚ausmalen’. Zu der Zeit als das Werk entstand, im Jahr 2002, hatten wir das alte Gebäude unserer Kunsthochschule besetzt. Wer auch immer auftauchte, konnte helfen und etwas zum Bild beitragen. Jemand hat vielleicht die Figur gemalt und ein*e andere*r die rote Farbe aufgetragen. Wieder jemand anders könnte die Reißzähne dazugefügt haben und so weiter. Wir glauben, dass mehr als eine Person daran gemalt haben.
Die Militärfigur [des Mossad] ist leichter zu verstehen. Wir wollten die Beteiligung der westlichen Staaten darstellen, die die Militärdiktatur Suhartos unterstützt haben. Wir machen keine Satire. Wir wollen Menschen, die wir als Unterdrückende ansehen, ‚entmenschlichen‘. Also ‚verwandeln‘ wir sie in andere Dinge, wie Tiere oder Roboter. Wenn wir auf Indonesisch fluchen, bezeichnen wir die Leute mit Tiernamen, also verfluchen wir sie in gewisser Weise.
Das Porträt des orthodoxen Juden mit den scharfen Zähnen und all diesen Details ist Teil einer Gruppe weiterer ‚dämonischer‘ Figuren. Warum befindet es sich dort? Was hat sich der- oder diejenige dabei gedacht, der oder die das gemalt hat? Welche Art von kollektivem Bewusstsein hat diese Figur dorthin gebracht? Was wissen wir über antisemitische Bilder und die Art und Weise, wie Nazis jüdische Menschen in abwertender Weise dargestellt haben? In den historischen Traditionen der wayang-Puppen Indonesiens werden antagonistische Figuren immer mit solchen roten Augen und Reißzähnen ‚entmenschlicht‘. Das war lange vor der Art und Weise, wie die Nazis Jüd*innen darstellten. Wir versuchen zu verstehen, wie diese verschiedenen Elemente hier alle kombiniert wurden.
HN: Wir hatten das Werk schon vorher ausgestellt, sodass wir die Figuren aus unserer Perspektive kannten. Wir wussten nicht, welche starke Reaktion sie in Deutschland auslösen würden. Wenn Menschen Elemente in eine Arbeit einbringen, wollen wir sie nicht auslöschen. Wir wollen sie und den Kontext diskutieren. Das ist unsere Art zu arbeiten.
AS: Ja, wir haben noch nie jemanden zensiert, der an unseren Stücken arbeitet, aber vielleicht müssen wir diese Regel noch einmal überdenken. Vielleicht ist es zu naiv, solche Dinge zu tun.
Also wussten Sie, dass diese Figuren da waren?
AS: Ja, das wussten wir. Wir übernehmen die Verantwortung. Aber wir haben sie in den vergangenen 21 Jahren so häufig gesehen. Das ist wie mit Dingen in deinem Wohnzimmer – irgendwann hörst du auf, sie dir wirklich anzuschauen und darüber nachzudenken, weil du an sie gewöhnt bist. Also haben wir nie angenommen, dass diese Figuren in einem anderen Kontext eine so große Wirkung haben könnten. Wir haben sie irgendwie nie richtig wahrgenommen, wenn wir sie in anderen Ausstellungen präsentiert haben, weil wir nie nach ihnen gesucht haben.
Nichts davon ist eine Entschuldigung für das, was passiert ist. Als wir unsere Werke auf der documenta aufgebaut haben, waren wir, ehrlich gesagt, mehr wegen der roten Sterne besorgt, die überall auf unseren Arbeiten verteilt sind – wegen Russlands Krieg in der Ukraine.
HN: Ja, wir haben uns nie wirklich über eine einzelne Figur in unseren Werken Sorgen gemacht, weil es vorher nie Probleme gab. Wir haben stattdessen immer die großen Narrative diskutiert.
Was werden Sie nun mit dem Kunstwerk machen?
AS: Wir wissen noch nicht genau, was wir damit machen sollen. Natürlich wollen wir das Werk nicht zensieren. Wir haben einen Fehler gemacht, aber wir wollen unsere Fehler nicht auslöschen. Fehler sollten uns als Ermahnung dienen, aber auch als Ausgangspunkt für Diskussionen. Wenn wir die Arbeit zerstören, würden wir bloß die islamischen Fundamentalisten kopieren, die unser Werk verbrannt haben. Aber ganz sicher werden wir das Banner nicht noch mal auf dieselbe Weise in der Öffentlichkeit präsentieren.
Dies ist Teil II des Interviews. Hier geht’s zu Teil I.
Übersetzt aus dem Englischen von: Nora Drohne und Christina Schott
Das Interview erschien auf Englisch im Online-Magazin artnet und wurde für die Broschüre Indonesien auf der documenta fifteen: Von der Kunst, in Dialog zu treten herausgegeben von der Stiftung Asienhaus und der Abteilung für Südostasienwissenschaft der Universität Bonn ins Deutsche übersetzt. Für die südostasien wurde diese Übersetzung redaktionell bearbeitet.