Indonesien/Deutschland: Bei der Debatte um Antisemitismus ist viel von historischer Verantwortung die Rede. Diese Verantwortung sollte sich auch auf die westdeutsche Rolle beim Indonesian Genocide erstrecken, an den das Kollektiv Taring Padi in seinem umstrittenen Kunstwerk erinnert.
Der documenta-Eklat war ausgelöst worden durch ein Werk der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi, in dem Militaristen als Schweine und Monster gezeigt wurden. Darunter sahen Kritiker auch zwei antisemitisch interpretierbare Karikaturen, wofür sich Sabine Schormann, die Generaldirektorin der documenta 15 entschuldigte, das Kunstwerk zuerst verhüllen, dann abbauen ließ. Taring Padi entschuldigten sich ebenfalls. Schormann trat schließlich zurück.
Weder die Generaldirektorin der Weltkunstschau noch andere deutsche Akteur*innen kamen darauf, dass auch die indonesischen Künstler*innen Grund zur Kritik gehabt haben könnten: Am geringen Interesse der deutschen Kunstszene, Regierung und Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der westdeutschen Rolle beim Indonesian Genocide 1965. Der Inhalt des beanstandeten Kunstwerks von Taring Padi, einer meterhohen Plakatwand mit einer Art Wimmelbild, wurde in der vom Antisemitismus-Vorwurf dominierten Debatte kaum benannt: Der Indonesian Genocide.
Dies nährt den Verdacht, bei der Entfernung des Werks könnte es auch um anderes gehen als die vordergründig angeprangerten antisemitischen Detailfiguren: Um die Zensur von Kritik an der westdeutschen Rolle beim antikommunistischen Massenmord von 1965. Der Massenmord und die Absetzung von Indonesiens erstem Präsidenten Sukarno, einem Mitbegründer der Blockfreien- Bewegung, schufen die Basis für die über 30 Jahre dauernde Diktatur des prowestlichen Generals Suharto, mit der die Bundesrepublik beste wirtschaftliche und politische Beziehungen pflegte.
Womöglich geht es also sogar um die Unterdrückung von Information über einen besonders dunklen Fleck auf dem Image der westlichen Staatengemeinschaft, die bislang einer breiten Öffentlichkeit völlig unbekannte Jakarta-Methode. Das in Deutschland zensierte Kunstwerk war im Kern eine Anklage gegen ein Verbrechen, an dem wohl auch die damalige Bundesregierung beteiligt war.
People‘s Justice und der Indonesian Genocide
Die Brutalität des Indonesian Genocide, die Grausamkeit faschistischer Militärs, die Drahtzieherrolle ausländischer Geheimdienste und ihrer heimlichen Geldgeber – das alles ist Thema des inkriminierten Kunstwerks People‘s Justice. Einer dieser geheimen Geldgeber der indonesischen Massenmörder scheint 1965 die westdeutsche Regierung gewesen zu sein. So belegte es im Jahr 2020 eine Enthüllung, die aber kaum Wellen in deutschen Medien schlug:
„Bislang geheime Akten des Bundesnachrichtendienstes (BND) erhärten den Verdacht, dass die Bundesrepublik Deutschland die indonesischen Militärs beim Putsch 1965 unterstützte. Der Machtübernahme durch die antikommunistischen Generäle folgte ein Genozid mit Hunderttausenden Toten. Bis heute mussten sich Täter nicht vor Gericht verantworten. Nun steht eine deutsche Mitverantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Debatte.“ Jonas Mueller-Töwe, T-Online Nachrichten, 13.7.2020.
Die Nachrichtenredaktion von T-Online gab im Juli 2020 an, umfangreiche Dokumente aus den Beständen des Bundesnachrichtendienstes (BND) ausgewertet zu haben, die eine Kooperation der Bundesrepublik mit den indonesischen Militärputschisten belegen. Die Rede ist von Regierungskontakten auf Offiziersebene. Eine BND-Akte schildere Überlegungen, die Putschisten heimlich zu finanzieren. Ein Dokument aus anderer Quelle lege nahe, dass wirklich Gelder flossen, wobei dafür verantwortlich der damalige Staatssekretär Karl Carstens (CDU), der spätere Bundespräsident, sein könnte.
Das westdeutsche Geld, eine Barzahlung in Höhe von 1,2 Millionen D-Mark, werde „hauptsächlich für Sonderaktionen gegen KP-Funktionäre und zur Durchführung von gesteuerten Demonstrationen benötigt“, heiße es in der Akte. Die BND-Akten legten darüber hinaus den Verdacht einer deutschen Mitverantwortung für die Massaker nahe: Ein auf den 3. November 1965 datierter BND-interner Bericht mit dem Betreff „Föhrenwald“ schildere „ein regelrechtes Abschlachten von Kommunisten“, so das Nachrichtenportal T-Online.
Es sei zwar unklar, wie genau der BND und die Bundesregierung damals mit dieser Bitte aus Indonesien verfahren wären: Während das Dokument mit dem handschriftlichen Vermerk „Abgelehnt Nichteinmischung“ gekennzeichnet sei, halte der BND unter anderem die zugehörige „Beschaffungsbitte“ aus Gründen des nachrichtendienstlichen Methodenschutzes weiter zurück. T-Online gesteht ein, das Dokument zwar nicht unabhängig verifizieren zu können, es enthalte jedoch nachweislich richtige Angaben über andere BND-Auslandsoperationen. Der spätere Bundespräsidenten Karl Carstens sei damals in verdeckte Waffengeschäfte unter Beteiligung des BND verstrickt gewesen.
Bonner Kommunistenjäger
Die Bonner Republik stand im Kalten Krieg treu an der Seite der USA und ihre Vergangenheitsbewältigung der Nazi-Diktatur war äußerst lückenhaft. Es brauchte Menschen wie den jüdischen Oberstaatsanwalt Fritz Bauer, um gegen erbitterten Widerstand vieler Juristen wenigstens einige NS-Massenmörder im Auschwitz-Prozess anzuklagen. Die Behörden und vor allem die Justiz der BRD waren, gelinde gesagt, nicht frei von alten Nazi-Kadern.
Erinnert sei an die Personalie Hans Globke, ‚der starke Mann hinter Adenauer‘. Als Adolf Hitlers Starjurist arbeitete Globke die furchtbaren NS-Rassegesetze aus, als Adenauers Staatssekretär war er später 14 Jahre lang einer der mächtigsten Regierungsfunktionäre der jungen Bundesrepublik. Globke wurde unter Hitler eine steile Beamtenkarriere zuteil: Bis 1945 war er Ministerialrat in Hitlers Reichsinnenministerium, verfasste einen teuflischen Kommentar zu den Nürnberger Rassengesetzen von 1935, die der Juden-Verfolgung in Deutschland einen ‚rechtsstaatlichen‘ Anschein gaben. Globkes Amtszeit in der BRD währte bis zu Adenauers Rücktritt 1963. Dann übernahm Ludwig Erhard die Kanzlerschaft. Der Transatlantiker Erhard war im Westbündnis ein noch USA- treuerer Partner als der ‚Gaullist‘ Adenauer.
Seite an Seite mit Washington
1965 planten Washington und London eine streng geheime Intervention in Jakarta. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Erhards Staatssekretär Karl Carstens unter Anleitung von US-Geheimdiensten Kontakte zu rechtsextremen Militärs in Indonesien knüpfen sollte. Dass dabei die westdeutsche Staatskasse in Regime-Change-Pläne der USA eingebunden wurde, legen die Recherchen von T-Online nahe. Dafür spricht auch die Nähe des BND zu federführenden US-Geheimdiensten, die den gewaltsamen Regime Change in Indonesien nach dem Muster der US-Operationen in Guatemala und Iran organisierten. In westdeutschen Geschichtsbüchern suchte man den Indonesian Genocide vergeblich. Man fand dort nur die Propaganda-Version der Putschisten, sie hätten einen kommunistischen Umsturzversuch niedergeschlagen. Damit wurde den Opfern des Massenmordes (bis zu drei Millionen Menschen) auch noch die Schuld dafür in die Schuhe geschoben.
Das wahre Ausmaß des Massakers wird bis heute herunter gespielt. Lange waren es in westlichen Schul- und Geschichtsbüchern nur einige Tausend Tote (in der DDR war das anders, aber das tat man im Westen als „Propaganda“ ab). Inzwischen, wo nicht mehr zu leugnen ist, dass mindesten eine halbe bis eine Million Opfer zu beklagen sind, spricht man von „Hunderttausenden Toten“.
„Es gab da Massenmorde“
Bei deutschen Kulturpolitikern, -managern und -journalisten scheint historisches Wissen über die oft peinlich verschwiegenen Aspekte westlicher Politik eher rar zu sein. Immerhin erwähnt Elke Buhr, Chefredakteurin des Kunstmagazins Monopol, im NDR-Interview die Suharto-Diktatur:
„Taring Padi ist eine Gruppe, die sich Ende der 1990er-Jahre gegründet hat, aus der Erfahrung der Diktatur Suhartos, die da gerade zu Ende ging. Das war eine sehr harte Erfahrung für Indonesien: Das war ein Diktator, der als der korrupteste Diktator der Welt galt. Es gab da Massenmorde. Suharto wurde von den westlichen Mächten im Rahmen des Kalten Krieges unterstützt, wie das so oft war bei diesen Regimes. Diese Gruppe nutzt Agitprop-Ästhetik, Karikaturen, sehr politische Zeichnungen und Banner dazu, um Kunst in die Gesellschaft zu tragen.“ Elke Buhr im NDR.
Elke Buhr hatte zeitweise die documenta-Kuratoren gegen die Vorwürfe des Antisemitismus in Schutz genommen. Sie hatte für Verständnis mit Künstler*innen aus den Ländern des Globalen Südens und für die Freiheit der Kunst plädiert. Das großflächige Wimmelbild People‘s Justice wurde seit 20 Jahren ausgestellt, meist in Indonesien, aber auch in Australien – wo es die dortige jüdische Gemeinde offenbar nicht zu Protesten anregte.
Bundespräsident, Kunst und Politik
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte in seiner kritischen documenta-Rede, die Kunst müsse sich, wenn sie das Terrain der Politik betrete, an politischen Maßstäben messen lassen. Steinmeier setzte sich aber nicht wirklich mit dem als antisemitisch inkriminierten Kunstwerk auseinander, geschweige denn mit dessen Hintergrund: Der Indonesian Genocide von 1965/66 gilt als der nach dem Holocaust zweitschlimmste Massenmord des 20. Jahrhunderts mit mindestens einer halben bis drei Millionen Todesopfern.
Massakriert wurde von den an die Macht geputschten Militärs und ihren Todesschwadronen die Kommunistische Partei Indonesiens, die damals mehr als drei Millionen Mitglieder zählte. Ganze Familien wurden grausam getötet. Hunderttausende wurden ohne Gerichtsverfahren über Jahre in Gefängnissen eingesperrt. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde danach jahrzehntelang vertuscht. Es hätte unserem Bundespräsidenten gut angestanden, sich mit möglichen deutschen Verstrickungen in diese Massenmorde auseinanderzusetzen.
Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Das gilt aber auch für die Finanzierung von Putsch und Völkermord. Vielleicht hilft der aktuelle documenta-Eklat, einen ganz anderen Skandal endlich bekannt zu machen: Die fortgesetzte Anwendung von Massenmord als Mittel geheimer Außenpolitik.
Massenmord als Außenpolitik
Bereits 2014 hatte die Linksfraktion im Bundestag kritische Fragen zur deutschen Rolle bei den Massakern von 1965 gestellt, die vom Auswärtigen Amt unter Verweis auf Geheimhaltung äußerst reserviert beantwortet wurden. André Hahn, stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, wollte in einer Parlamentarische Anfrage im August 2020 wissen, ob der T-online-Bericht zutreffend sei – was die Bundesregierung schriftlich dementierte. Hahn kritisierte nach Akteneinsicht die mangelnde Transparenz der Bundesregierung: „Die darin enthaltenen konkreten Zahlen zu tatsächlich geleisteten Unterstützungen des Regimes sollen offenkundig nicht bekannt werden.“ Demnach verdichten sich auch für den Abgeordneten die Hinweise, „dass der BND formell eine Mitverantwortung an den Massenmorden trägt„.
Der BND hatte 1965 offenbar weitere Leute vor Ort, einer davon war Rudolf Oebsger-Röder. Oebsger-Röder war SS-Obersturmbannführer, SD-Mann und Chef von Einsatzgruppen, dann heuerte er bei der Organisation Gehlen, dem späteren BND an. Wie viele Geheimdienstler war Ex-SS-Mann Oebsger-Röder ab 1959 in Indonesien in der Maske des Journalisten unterwegs, als O.G. Roeder war er Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Aus Roeders Feder stammt auch die erste englischsprachige Biographie von Diktator Suharto mit dem Titel The Smiling General – eine wohlwollende Bezeichnung, die westliche Medien fortan gern zur Beschreibung des indonesischen Machthabers verwendeten.
Die Jakarta-Methode: Washingtons antikommunistischer Kreuzzug
Das 2019 auf Englisch erschienene Buch „Die Jakarta-Methode: Washingtons antikommunistischer Kreuzzug und das Massenmordprogramm, das unsere Welt prägte“ von Vincent Bevins könnte in der im Oktober 2022 erscheinenden deutschen Übersetzung für etwas mehr öffentliche Wahrnehmung dieses blinden Flecks im deutschen historischen Bewusstsein sorgen. Das Buch beschreibt die Massaker in Indonesien und spätere Wiederholungen der Jakarta Methode in Lateinamerika und anderswo.
Dass die Entfernung des Kunstwerks People’s Justice des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi etwas mit den Versuchen westlicher Geheimdienste zu tun hat, ihre Jakarta Methode weiter zu verbergen und den Indonesian Genocide weiter herunterzuspielen, mag reine Spekulation sein. Bundeskanzler Olaf Scholz könnte jedoch helfen, mehr Licht auf das dunkle Geschichtskapitel in Indonesien und die deutsche Beteiligung zu werfen: indem er die betreffenden BND-Akten endlich freigibt. Das wäre nach aller Kritik am mangelnden Geschichtsbewusstsein der indonesischen Künstler*innen auf der documenta ein angemessener Schritt in punkto historischer Verantwortung.
Dieser Artikel erschien zunächst auf Telepolis und wurde für die südostasien gekürzt und redaktionell bearbeitet.