Kambodscha: Phnom Penh versinkt in Abfall, der nicht-organischer Natur ist und sich trotzdem wie selbstverständlich in das Bild der Stadt eingeprägt hat. Insbesondere Plastikmüll säumt die Straßen und Abwasserkanäle und wird dank der Müllsammler*innen, die diesen zur weiteren Verarbeitung aufsammeln und damit die einzige funktionierende Infrastruktur darstellen, im Zaum gehalten. Dabei ist es noch nicht lange her, dass Plastik als ‚Bote von Modernität und Wohlstand’ nach Kambodscha kam …
Mühsam beugt sich eine ältere Frau mit runzliger Haut, einem bunt karierten Hemd und einem ebenso bunt karierten Sonnenhut auf den Straßenboden hinab und greift nach einer Handvoll leerer Plastikwasserflaschen, die sich den Platz in einem weißen, rechteckigen Styroporbehälter mit anderen Müllresten teilen. Da liegt neben Plastikflaschen vor allem Hausmüll: verschmutze Styroporpackungen, dünne Plastiktüten, leer getrunkene grüne Kokosnussschalen, Pappe, kaputtes Spielzeug und Haushaltwaren. Wirklich nützlich sind für die Müllsammlerin Champei [1] jedoch nur saubere, wieder verwertbare Abfälle, also Plastikflaschen oder Aluminiumdosen, aus denen sie die Reste entleert, bevor sie sie mit Schwung auf ihren Ziehwagen befördert. Je nach Grad der Verschmutzung werden die potentiell interessanten Abfälle von Champei kritisch beäugt, sind sie zur weiteren Verwertung nutzbar oder nicht? Nach welchen Kriterien entschieden wird, hängt von ihren zwanzigjährigen Erfahrungen als Müllsammlerin in den Straßen Phnom Penhs ab. Am liebsten sammle sie Plastik oder Aluminium, betont sie, während sie mit dem Finger auf die sich langsam anhäufenden blau-weißen Plastikwasserflaschen und Milchbehälter, roten, gelben und grünen Aluminiumdosen von Coca-Cola, Sprite bis hin zu 7up und Angkor-Bier, deutet: „Das bringt am meisten Geld!“.
Geld bekommt Champei von den vietnamesischen Betreibern des Mülldepots, von denen sie auch den Ziehwagen gepachtet hat. Für den muss sie einen festen Betrag zahlen, der direkt von ihrem Tageseinkommen abgezogen wird. Bezahlt wird der Müll nach Gewicht, gewogen wird auf den in Kambodscha allgegenwärtigen grasgrünen Waagen, die jeder Haushalt zu besitzen scheint. Aluminium bringt am meisten, dicht gefolgt von Kupfer und eben (dickwandigem) Plastik. Champei sammelt Müll auf der Straße, in den dicht aneinander gedrängten Mülleimern vor der Internationalen Schule im Süden des Sangkats (Viertels) Toul Tom Pong oder sie kauft Abfall von Haushalten ab. Ab und an findet Champei dabei auch das Eine oder Andere zur eigenen Weiterverwertung: ein nützliches Utensil etwa oder etwas, das sie als Dekorationselement am Ziehwagen anbringt. So war schon ein quietschrotes Plastikspielzeug für ihren jüngsten Sohn, oder ein Löffel und ein Teller, für ihren eigenen Haushalt mit dabei. Zudem führt Champei immer zwei große ausgewaschene Plastikflaschen mit sich, in die sie die letzten Reste Speiseöl oder Essig aus fast leeren aufgesammelten Flaschen füllt.
Die meisten Müllsammler*innen sind Frauen
Mindestens 2000 Müllsammler*innen [2] sind in Phnom Penh tagtäglich unterwegs. Der Großteil sind Frauen, die meist tagsüber in den Straßen wieder verwertbaren Müll sammeln. Eine kleinere Anzahl von Müllsammler*innen ist auf der einzigen städtischen Mülldeponie im Sangkat Dangkoa tätig und eine weitere Minderheit sammelt nachts in den Straßen. Sombo, eine jüngere Müllsammlerin, die Champei aus dem gemeinsamen Depot kennt, sammelt, wie viele Frauen, in zwei selbst gewählten ‚Schichten‘. Die erste morgens, ab 6 Uhr bis mittags um 11 Uhr und dann noch mal von 2 Uhr bis um 5 Uhr nachmittags. Während sie ihre Routen um das Depot zieht, wandern ihre Augen rastlos suchend am Straßenrand entlang. Keine einzige noch so kleine Plastikflasche entgeht ihr dabei. Viele Müllsammler*innen kaufen Plastik und anderen wieder verwertbaren Müll auch direkt von Haushalten auf. Das dafür verwendete Geld wird ihnen am Morgen vom Depotbesitzer ausgeliehen und am Ende des Tages von ihren Einnahmen abgezogen.
Sombo macht in einer kleinen Seitengasse an einem grün bewucherten Haus Halt. Laut ruft sie „ad chai!“, was soviel wie „Müllsammler*in!“ heißt und unterstreicht ihren Ruf mit ihrer Quietschtröte. Eine grau-gestreifte Katze schlängelt sich um den großen Baum im Hof und läuft miauend auf Sombo zu. Zugleich öffnet sich die Haustüre im Inneren des Hofs und eine ältere Frau hievt mithilfe ihres Enkels zwei große Säcke mit Plastik, Aluminiumdosen und vielen anderen recycelbaren Dingen heraus. Manchmal wird ein Pauschalpreis pro Sack ausgehandelt. Heute jedoch wird nach kurzer Verhandlung ein Stückpreis pro Materialart vereinbart. Sombo hockt sich neben die Säcke und zählt Plastikflaschen, Aluminiumdosen und weitere Müll-Sorten und multipliziert diese mit dem ausgemachten Preis.
Der Haushalt gehört zu einer Vielzahl an festen Haushalten, die Sombo regelmäßig abläuft und die sich als ihre ‚Kunden‘ etabliert haben. Dabei spielt neben der Kontinuierlichkeit der Geschäftsbeziehung auch die Bezahlung eine Rolle: „Sie [die Haushalte] verkaufen den Müll gerne an Müllsammler, mit denen man leicht arbeiten kann. Wenn man zum Beispiel bereit ist, ihnen ein wenig zusätzliches Geld zu geben, dann werden sie an einen verkaufen“, so Sombo.
’Plastik für alle’
Und das, obwohl es Plastik, das ist für alle ‚ad chais‘ ganz klar, in der Stadt im Überfluss gibt. Eine Konkurrenz zwischen den Müllsammler*innen sieht Sombo dennoch nicht, weil es genug ‚Plastik für alle‘ gibt. Oder, wie Sombo es ausdrücken würde: „Wir nutzen unser Recht, Wertstoffe zu sammeln.“ Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass Plastik gar keine und dann zunächst nur eine kleine Rolle in Kambodscha gespielt hat.
Nachdem Plastik während den Weltkriegen als Fallschirmmaterial und in Flugzeugauskleidungen Konjunktur hatte, wurde es insbesondere durch die Entwicklung der Nylon-Strumpfhosen von DuMont in den 1950er-Jahren, wobei das Nylon die bis dahin herkömmliche, sehr teure Seide ersetzte, zum Kassenschlager in den USA und bald überall in der Welt. Aus dem Mantra „leichter und besser“ der Kriegszeiten wurde schnell „leichter, besser und günstiger“. Das einmalig leicht formbare und langlebige Material ‚Plastik‘, hinter dessen Begriff sich eine Vielzahl an unterschiedlichen synthetischen Materialien verbirgt, wurde zur Massenware.
Auf den alten und noch vorhandenen kolonialen Routen – die Seidenstraße ‚rückwärts‘ gehend – fand Plastik in den ausgehenden 1940er und insbesondere in den 1950er Jahren seinen Weg in die südostasiatischen Staaten. Zum einen wurden dabei Plastikmaterialien, die bereits fertig oder teilfertig produziert und verbaut waren, über den Schiffsweg nach Südostasien gebracht, oder das Wissen um deren Herstellung wurde exportiert.
Handel auf kolonialen Routen
Neben Japan wurde die ehemalige britische Kronkolonie Hong Kong in den 1950er und 60er Jahren unangefochten zur größten Plastikproduktionsstätte in Ostasien. Die Fabriken waren dabei ausschließlich in chinesischer Hand und Rohmaterialien wurden maßgeblich von westlichen Firmen wie Monsanto, Dow und I.C.I. importiert. 1958 kamen die Rohstoffe zu 30,8 Prozent aus dem Vereinten Königreich, zu 23,8 Prozent aus den USA, zu 20 Prozent aus Kanada und zu 5,4 Prozent aus Deutschland, wie im Wirtschaftsjournal Far Eastern Economic Review 1959 berichtet wurde.
Auf kolonialen Handelswegen und durch ebensolche Herrschaftsstrukturen verwaltet, wurden im großen Stil Plastikmöbel, Schuhwerk, Kameras, Radios und insbesondere Plastikspielzeug und aus Kunststoff geformte Flaschen gefertigt und zu großen Teilen zurück an westliche Länder geliefert. Allen voran, so das Wirtschaftsjournal, profitierten die USA, das Vereinigte Königreich, Kanada und Australien von den Exporten. Der absolute Kassenschlager Ende der Fünfziger waren Plastikblumen, die so gut wie ausschließlich in der britischen Kronkolonie produziert und von dort aus in die Welt geliefert wurden. Auch nach Kambodscha – wenn auch nur im einem verschwindend geringen Maße und vor allem an die noch dort ansässigen französischen Ex-Kolonialherren im Land.
Plastikmaterialien, insbesondere Verpackungen, beispielsweise für Zigarren oder Softgetränke, sowie Zellophanmaschinen befanden sich unter den ersten Dingen, die bereits durch die französische Kolonialmacht nach Kambodscha importiert wurden. Die Unternehmen Coms, Button and other Plastic Articles und die Fabrik Aluminium Household Goods sorgten für den Import von Plastik und Aluminium, um ihre Produkte an die Bevölkerung zu verkaufen. Die französische Besatzungsmacht bereitete den Weg für eine weitere Verflechtung mit dem globalen kapitalistischen System – nach ähnlichen Mechanismen wie bei den in Kambodscha weit verbreiteten Kautschukplantagen, deren Erträge zu 99 Prozent ans koloniale Herkunftsland flossen. Zwar hatten Franzosen und Briten einst um die Vorherrschaft in vielen Teilen Südostasiens gekämpft. Doch offenbar einten gemeinsame Interessen die Besatzungsmächte und der Import von Plastikmaterialien von Hongkong nach Kambodscha stellte keine großen Handelsherausforderungen dar.
So wehten in den 50er Jahren, kurz vor dem Ende der französischen Herrschaft 1953, in Phnom Penh Plastikblumengirlanden an Verandatüren und die Franzosen betrieben ihr Großmachtstreben lässig aus mit Polyvinylchlorid beschichteten Rattanliegestühlen heraus. Erste synthetische Textilfasern wurden in Textilfabriken ab den 60er Jahren importiert und verarbeitet und prägten das Bild der postkolonialen Zeit, in der vor allem (ehemalige) chinesische Migrant*innen diese Handelszweige übernahmen.
Unter der Administration Prinz Sihanouks, der 1970 von dem von den US-Amerikanern favorisierten Marshall Lon Nol vom Thron gestürzt wurde und nach Thailand floh, duftete es in den sechziger Jahren noch nach wachsender Prosperität in den Nasen der Plantagenbesitzer*innen, der Politiker*innen und der US-Amerikaner*innen. Viele von ihnen hatten sich während des – je nach Perspektive als ‚Resistance War against America’ oder als Vietnamkrieg (1957–1975) bezeichneten – Kriegs im Nachbarland in Kambodscha, insbesondere in Phnom Penh niedergelassen. Nach der Implementierung der Marionettenregierung Lon Nol zogen jedoch viele Städter weg aus Phnom Penh, um in den noch nicht von den USA besetzen so genannten ‚freien‘ Gebieten in der Hand der National Unity Front Zuflucht zu suchen und im entstandenen Bürgerkrieg an der Seite Sihanouks gegen die Vietnamesen zu kämpfen.
Vorläufiges Ende des Konsums nach westlichem Muster
Zum Problem wurde auch eine stetig steigende Inflationsrate, der in den Gassen und schummrigen Ecken der einst schillernden Königsstadt realpragmatisch mit Glücksspielen und Geldwäsche ‚entgegen‘ gewirkt wurde. Mit dem Start der so harmlos klingenden ‚Cambodian Campaign‘ von US-Präsident 1970 endete zunächst die Zeit des Konsums nach westlichem Muster und des Interesses an neuen und internationalen (Plastik-)Produkten, die sich beispielsweise in Form von Softdrinks großer Beliebtheit erfreuten.
Schätzungsweise 5.000 Bomben wurden binnen eines halben Jahres über dem ländlichen Kambodscha abgeworfen. Zwei Millionen Flüchtlinge strömten bis 1975 vom Land zurück nach Phnom Penh. Kurze Zeit später sahen sich eben jene Städter*innen nach der Machtübernahme der Khmer Rouge 1975 erneut gezwungen die Stadt zu verlassen – sie wurden zur Zwangsarbeit in Arbeitslager in ländliche Gebiete gebracht. Die Erinnerungen an die Folgejahre (1975-1979 sind bis heute ein ständiger Begleiter der Menschen, die diese Zeit überlebt haben. Massenmord, Haft und Folter haben sich tief in das kollektive Bewusstsein eingeprägt. Ehemalige Plantagen, Fabriken und bereits bestandene Handelswege waren zerstört, oder ihre Besitzer*innen ermordet worden.
Auch nach der Schreckensherrschaft der Khmer Rouge und der Befreiung der Bevölkerung durch vietnamesische Truppen 1979 blieb Kambodscha ein Spielfeld verschiedener Interessengruppen, die sich Kämpfe um die politische Vorherrschaft lieferten. Die Wirtschaft Kambodschas – und damit auch der Zugang zu ‚modernen‘ Produkten – erholte sich nur langsam und nahm erst ab Mitte der 1980er Jahre und letztlich mit dem Abschluss der Pariser Friedensverhandlungen 1991 stärker Fahrt auf. Wenn auch die Mehrzahl der verbliebenen Kambodschaner*innen sich eher in der Situation wieder fanden, an Wasser für ihre trockenen Reisfelder kommen zu wollen, oder einen Weg zurück aus dem Exil, oder aus den an der thailändischen Grenze liegenden Flüchtlingslagern in ihre Heimat zu finden als sich Gedanken über die neuesten in Plastik gehüllten Konsumverheißungen zu machen.
[1] Alle Namen wurden von der Autorin geändert
[2] Genaue Zahlen gibt es nicht. Die letzten Schätzungen wurden von IGES 2011 erbracht, die in ihrem Report A guide for technology selection and implementation of urban organic waste utilisation projects in Cambodia die Zahl der Müllsammler*innen auf etwa 2000 schätzen. In Anbetracht des ständigen Bevölkerungszuwachses in Phnom Penh bei gleichzeitiger geographischer Erweiterung kann davon ausgegangen werden, dass die Anzahl der Sammler*innen um ein Vielfaches höher liegt.
Das ist der erste Teil des Artikels „Müllsammler*innen und ihr Umgang mit Plastik in den Straßen Phnom Penhs“ (hier geht’s zu Teil II).