Indonesien: Das Kendeng-Gebirge bietet wegen seiner zahlreichen Quellen die Lebensgrundlage für Hunderttausende Menschen. Doch Zementfabriken bedrohen in der Region die Umwelt und den sozialen Frieden. In den Dörfern regt sich Protest und die Menschen besinnen sich auf alte, mystische Kräfte.
Ibu bumi wis maringi – Mutter Erde hat uns gegeben
Ibu bumi dilarani – Mutter Erde wurde verletzt
Ibu bumi kang ngadili – Mutter Erde wird richten
Ein drei Meter langer roter Drache windet sich energisch. Umringt wird er von neun Frauen, die auf dem Rathausplatz der Distrikthauptstadt Pati sitzen und mit getragener Stimme Gedichte über Mutter Erde vortragen. Um sie herum stehen Hunderte weitere Menschen im Kreis. Die Szenerie ist Teil einer künstlerischen Performance, mit der die Anwohner*innen Widerstand gegen Zementfabriken ausdrücken, die am nördlichen Kendeng-Gebirge derzeit geplant werden. Mit theatralischen Mitteln zeigen die Bäuer*innen, wie sie sich um den Erhalt ihres Lebensraumes bemühen. Sie drücken so nicht nur die Verzweiflung der Menschen am Fuß des Gebirges aus, sondern auch die von mythischen Wesen, die in den Kalkfelsen des Kendeng-Gebirges leben. Drachen gelten dem lokalen Glauben nach als Vertreter aller Tiere und Pflanzen am nördlichen Kendeng-Gebirge.
Das Kendeng-Gebirge ist eines von drei großen Karstgebirgen auf Java und liegt im Norden der Insel. Es erstreckt sich über mehrere tausend Quadratkilometer von Zentraljava bis nach Ostjava an die Spitze der Insel Madura. Die Charakteristik von Kalkstein, dessen Oberfläche durch Regenwasser gelöst wird, sorgt für den Verkarstungsprozess und die Entstehung von Höhlen und unterirdischen Flüssen. Deshalb ist dieses Gebirge ein für die Bevölkerung so wichtiger Ort: es sichert die Wasserversorgung für zehntausende Menschen, die an den Ausläufern der Kendeng-Berge leben.
Zement-Pläne bringen Unruhe in die Dörfer
In diesem Gebiet, in dem früher ein friedliches Miteinander herrschte, ist es sehr unruhig geworden, seit hier zwei Entwicklungsmodelle miteinander konkurrieren. Seit 2006 kämpfen Bauern, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen, gegen mehrere Zementkonzerne, die vor Ort Material für die Zementherstellung abbauen wollen. Vier Unternehmen haben hier Interessen angemeldet. Der Staatskonzern PT Semen Indonesia hat bereits eine Fabrik am südlichen Ende des Gebirges errichtet. Die Nationale Menschenrechtskommission hat im Gebiet um die Fabrik in Tuban Untersuchungen durchgeführt, weil 28 Menschen in der Nähe der Fabrik binnen kurzer Zeit plötzlich und unerwartet verstorben sind. Es wurde vermutet, dass die Bergbauaktivitäten und die dadurch verursachte Luftverschmutzung dafür verantwortlich waren. Weitere Unternehmen haben am nördlichen Kendeng-Gebirge Interessen angemeldet. Eines von ihnen ist PT Indocement, das im Mehrheitsbesitz der deutschen HeidelbergCement ist.
Zementherstellung braucht vor allem drei Bestandteile: Kalkstein, Ton und Eisensand. Der Kalkstein in den Karstgebirgen ist unersetzbar, weil er so gut Wasser absorbieren kann. Sein Abbau führt daher zu Wasserverlust. Hinzu kommt, dass – wie Höhlenforscher belegt haben – das System der unterirdischen Flüsse sehr weit verzweigt ist. So kann der Abbau von Karstgestein an einer Stelle des Gebirges dazu führen, dass auch weit davon entfernt Quellen versiegen. Die Sorge um das Versiegen der Quellen hat die Menschen wach gerüttelt und dazu gebracht, sich auf verschiedene Weise zur Wehr zu setzen. Es gab Massendemonstrationen, Gerichtsprozesse wurden geführt, wissenschaftliche Gutachten erstellt. Und die Menschen besannen sich eines alten Mythos: dem vom Drachen als Hüter der Berge.
Die Drachenlegende als Narrativ einer sozialen Bewegung
Das Kendeng-Gebirge ist ein sehr altes Gebirge, das viele kulturelle Schätze birgt. Die Skelette von Tieren aus der Vorzeit wurden hier ebenso entdeckt wie Tempelbauten aus dem 14. Jahrhundert. Das Gebirge – in vielen alten Schriften als ‚Insel Kendeng‘ bezeichnet – ist reich an Mythen und Legenden. Es gilt als ein Schauplatz der im Schattenspiel erzählten javanischen Adaption alter hinduistischer Epen. Auch eine wichtige Kulturstätte der islamischen Geschichte Javas ist hier zu finden: das Grab von Ki Ageng Sela, einem Vorfahren des Sultans von Mataram. Das Grab ist bis heute erhalten, es stellt eine wichtige kulturelle Stätte für die Lokalbevölkerung dar und wird von zahlreichen Pilgern besucht.
Eine wichtige Legende in der Region ist die von Angling Dharma, einem Herrscher des Königreiches Malwapati, der angeblich die Fähigkeit besaß, mit allen Tieren kommunizieren zu können. Er besaß einen Drachen als Leibwächter, der Nagaraja (Drache des Königs) hieß. Dem lokalen Glauben nach wurde Angling Dharma im Dorf Mlawat begraben. Südlich des Grabes gibt es eine Quelle mit Namen Jolotundo, von der man sich erzählt, dass der Drache des Königs hier verschwunden sei.
Bis heute erzählen sich die Menschen am Kendeng-Gebirge die Geschichte vom Drachen. Die Bäuerin und Umweltaktivistin Gunarti [1] hat die Geschichte von ihren Großeltern gehört. „Eines Tages erzählte Opa Tarno, mein Großvater, vom Kendeng-Gebirge, das sich dahinstreckt wie ein schlafender Drache“, erinnert sie sich. Die Menschen am Kendeng-Gebirge sind überzeugt davon, dass der Drache eine Art astrale Kreatur ist, der das Kendeng-Gebirge beschützt. Joko Prianto, ein Bauer und ein wichtiger Vertreter des Widerstandes gegen die Zementfabriken, hörte zum ersten Mal von seinen Nachbarn davon, dass sie über ihrem Dorf einen fliegenden Drachen gesehen haben. „Sie erzählten mir, wie sie den Drachen fliegen sahen und dass er Feuer spuckte, das wie flammende Tropfen zur Erde fiel“, so Joko. Er selbst habe auch schon einmal eine rote Wolke gesehen, die sich in Gestalt eines Drachens formte, bevor sie hinter einem Hügel am Ende des Dorfes verschwand. Weitere Vertreter der lokalen Umweltbewegung berichten ähnliche Erlebnisse, zum Beispiel Jum und Bambang, denen einmal ein großer Drachenkopf mit einer Krone erschien. Viele Menschen am Kendeng-Gebirge hatten schon direkte Begegnungen mit seinem Wächter-Drachen. „Anfangs hatte ich Angst“, so Jum, der bereits seit 2009 in der lokalen Umweltbewegung aktiv ist. „Aber dann habe ich verstanden, dass der Drache mehr ist als ein Mythos. Es gibt ihn und er sendet uns eine Botschaft.“ Diese Botschaft scheint immer mehr Menschen zu erreichen, denn es gibt immer mehr Berichte über Begegnungen mit dem Drachen, darüber wie er in Träumen erscheint und darüber, dass Menschen seine Stimme hören.
Für viele Menschen steht der Drache als Symbol für den natürlichen Wert des Kendeng-Gebirges. „Ich betrat einmal zusammen mit mehreren Menschen eine Höhle im Kendeng-Gebirge, die zum Teil mit Wasser gefüllt war“, berichtet Petra, ein Höhlenforscher. „Jeder in unserer Gruppe spürte, wie etwas Großes, Schlangenähnliches um unsere Füße schlängelte“, erinnert sich der Wissenschaftler. Seit 2009 untersucht eine Forschergruppe von verschiedenen Universitäten gemeinsam mit den Anwohner*innen die Höhlen und unterirdischen Flüsse des nördlichen Kendeng-Gebirges und verzeichnet diese in Karten. Diese Erfahrung bringt für die Anwohner*innen ein neues Verständnis der unterirdischen Flüsse, die sich dahin schlängeln wie Drachen. Das Wissen über die hydrogeologische Funktion des Gebirges wird quasi ‚verpackt‘ in Erzählungen über den Kendeng-Drachen.
Mythen als Wertevermittlung mit Hilfe von Symbolen
Bereits im 19. Jahrhundert sahen Wissenschaftler, die sich mit alten Mythen beschäftigten, diese als außerhalb des faktisch Beweisbaren an. Mit der Zeit änderte sich jedoch diese Sicht und inzwischen gelten Mythen als eine Dokumentationsform für bestimmte Informationen, die mit Hilfe einer symbolischen Sprache vermittelt werden. In seinem Erklärungsansatz zu Mythen hat der Anthropologe Claude Lévi-Strauss diese als Form der Informationsübermittlung gedeutet. Anders jedoch als die übliche sprachliche Vermittlung, die auf Worten und Sätzen basiert, kann der Mythos eher als musikalische Struktur gesehen werden. Es beginnt mit Tönen als kleinsten Teilchen, von denen sich eine Vielzahl zu einem Rhythmus vereint.
So folgen Mythen auch weniger einer ‚logischen‘ Struktur, sondern betonen vielmehr das, was zum Überbringen der hauptsächlichen Botschaft wichtig ist. Es ist nicht wichtig, dass die Erzählungen vom Drachen sehr verschieden sind. Wichtig ist die Botschaft, die ihnen innewohnt, nämlich, dass das Kendeng-Gebirge vor Zerstörung bewahrt werden muss. Erfahrungsgemäß lässt sich das lokale Wissen, das auf mystische Weise erscheint, nur schwer mit wissenschaftlichen Beweisen verbinden. Immer wieder wurde in Diskussionen zwischen Anwohnern und von der Regierung bzw. den Unternehmen geschickten Gutachtern deutlich, dass die Ansichten der Lokalbevölkerung kaum Raum bekamen. Deswegen braucht es in der Strategie der Bewegung eine Art ‚Übersetzung‘ der Symbolsprache des Drachen-Mythos.
Neues Wissen für den Erhalt des Kendeng-Gebirges
Doch auch die Zementunternehmen beziehen offenbar übernatürliche Kräfte in ihre Strategie mit ein. Sie würden Schamanen benutzen, um ihr Vorhaben voranzubringen, berichtet Umweltaktivistin Gunarti. Die PR-Teams der Zementindustrie nutzen ebenfalls Schlagwörter wie „die Natur erhalten“ oder „Wohlstand schaffen“, um ein umweltfreundliches Bild ihrer Vorhaben zu zeichnen. Es ist deshalb umso wichtiger, der Öffentlichkeit die Erfahrungen aus dem täglichen Leben der betroffenen Anwohner*innen zu vermitteln, um die Wichtigkeit des Ökosystems des Kendeng-Gebirges ins Blickfeld zu rücken. Zum Beispiel mit der Betonung des Kendeng-Drachens, der stellvertretend für die Fauna und Flora des Gebirges steht, die von Auslöschung bedroht wäre, wenn ihre Umwelt zerstört würde.
Zahlreiche Wissenschaftler*innen, die sich mit den Anwohner*innen solidarisch erklärt haben, versuchen daher, das lokale Wissen und die Symbolsprache des Drachen-Mythos in einen wissenschaftlichen Diskurs zu übersetzen – und umgekehrt. Daraus entsteht eine Art ’neues Wissen‘ innerhalb der Bewegung für den Erhalt des Kendeng-Gebirges. Dieses ’neue Wissen‘ beinhaltet die Mythen der Vorfahren als kognitive und moralische Botschaft um in der Gegenwart aktiv zu werden – für die Zukunft. „Unser Ziel als Bewegung ist es nicht nur, unsere Welt im Heute zu beschützen“, sagt die dreifache Mutter Gunarti, „sondern das, was unsere Kinder und Enkel in Zukunft zum Leben benötigen.“
[1] Gunarti vertrat die Bürgerinitiative JMPPK im Frühjahr 2017 bei einem Besuch in Deutschland, wo sie auf die drohende Umweltzerstörung durch Zementunternehmen in ihrer Heimat aufmerksam machte.
Übersetzung aus dem Indonesischen von: Anett Keller.