Thailand: Seit den 1990er Jahren verbreiten sich Convenience Stores in rasantem Tempo und verändern das Konsumverhalten in dem Land. Was bei den Einen für einen modernen praktischen Lifestyle steht, ist für die Anderen ein weiterer Schritt in die Prekarisierung.
Nachdem sie ihren Korb geleert hat, nimmt die Frau in Angestelltenuniform eine tragbare Registrierkasse heraus, um eine Quittung für ihren Kunden auszustellen. Sobald die späte Essenslieferung erledigt ist, kehrt die uniformierte Frau an ihren Arbeitsplatz zurück.
Die Frau in Uniform arbeitet nicht für ein Restaurant oder einen Lieferservice, sondern für einen Convenience-Store im Herzen der Stadt Bangkok. Nach Eingang einer Bestellung über die App des Geschäfts holt das Personal die ausgewählten Gerichte, wärmt sie in der Mikrowelle auf, verpackt sie und liefert sie in ein Haus, das etwa 200 Meter von ihrem Geschäft entfernt liegt.
Das Versprechen vom einfachen Leben
„Das ist sehr bequem. Ich brauche keinen Fuß aus meinem Haus zu setzen“, sagt eine Kundin, Mitte 70, die hinter der Tür ihres zentral gelegenen Hauses steht und anonym bleiben möchte. Im Umkreis von 100 m befinden sich mindestens ein Lebensmittelgeschäft, zwei Cafés und zwei weitere 7-Eleven-Verkaufsstellen.
Die Frau gehört zu den Millionen, die den jüngsten urbanen Lebensstil genießen. Abgesehen von den Essensläden am Straßenrand, die über die ganze Stadt verstreut sind, können die Städter*innen einfach zu Fuß zu einem Convenience-Store gehen, der an jeder Ecke auftaucht, um ein zum Verzehr fertiges Essen und Getränk zu bekommen.
Wer in Bangkok und anderen thailändischen Städten einen Convenience-Store betritt, findet als Kund*in fast alles, was man sich vorstellen kann. Von Fertiggerichten bis zu frisch gebrühten Getränken oder von Snacks bis zu frischen Zutaten zum Kochen, von Körperpflegeprodukten bis zu Basismedikamenten. Viele Convenience-Stores bieten auch eine Essecke an. Auch Dienstleistungen wie Kreditkarten- oder Rechnungsbezahlung, Postdienste oder Fotokopien sind in vielen Filialen zu finden.
Das Leben ist scheinbar viel einfacher geworden: Fast alle oben genannten Artikel können mit wenigen Klicks über das Smartphone an die Haustür geliefert werden. Diese Art bequemen Lebensstils ist nach dem Lockdown aufgrund der Corona-Pandemie üblicher geworden, da die Thailänder*innen dazu ermutigt wurden, von zu Hause aus zu arbeiten und nur für notwendige Strecken herauszugehen. Immer mehr Menschen haben sich zunehmend auf Essenslieferungen verlassen, und zwar durch Lieferserviceunternehmen, Restaurants und Convenience-Stores.
Convenience Stores so weit das Auge reicht
Die Convenience-Store-Kultur ist für Thailand nichts Neues. 7-Eleven war die erste Convenience-Store-Kette, die 1990 in dem Land ankam. Die Kette startete langsam und feierte 1998 ihre tausendste Filiale. Als sich die Menschen an einen neuen Lebensstil zu gewöhnen begannen, wuchs die Kette drastisch und hatte 2002 die zweitausendste Filiale und 2009 dann die fünftausendste. Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Filialen verdoppelt. Derzeit verfügt die Kette landesweit über 10.268 Filialen, von denen sich 4.556 in Bangkok und in Randgebieten befinden. Das Unternehmen rühmt sich, dass täglich rund 11,8 Millionen Kund*innen seine Filialen besuchen.
Laut Stock Exchange of Thailand (SET) ist der Nettogewinn von CP All Plc, dem Betreiber von 7-Eleven, von 16,67 Milliarden Baht (ca. 416,7 Millionen Euro) im Jahr 2016 auf 19,9 Milliarden Baht (ca. 517,5 Millionen Euro) im Jahr 2017, 20,92 Milliarden Baht (ca. 544 Millionen Euro) im Jahr 2018 und 22,34 Milliarden Baht (ca. 670 Millionen Euro) im vergangenen Jahr gestiegen. Der Nettogewinn des ersten Quartals 2020 erreichte bereits 5,6 Milliarden Baht (ca. 153 Millionen Euro).
Eine weitere Marke, Family Mart, hat landesweit 1.040 Verkaufsstellen. Bis Mitte 2009 gab es landesweit 123 Filialen von Lawson 108 Convenience-Stores, die an Gebäude, Bahnhöfe und Tankstellen angeschlossen sind. Die Marke erwartete zu expandieren und bis Ende letzten Jahres 150 Filialen zu erreichen.
Während Lawson 108 für seinen verzehrfertigen Oden (japanischer Fischkucheneintopf) und andere japanische Lebensmittel bekannt ist, ist Family Mart für seinen frisch gebrühten Kaffee und Tee und 7-Eleven für seine große Auswahl an praktischen Artikeln des täglichen Bedarfs von Lebensmitteln bis hin zu Snacks und anderen Dienstleistungen bekannt.
Vor allem allein stehende Menschen nutzen das Angebot
Betrachtet man das Wachstum der Convenience-Stores in Thailand, so ist das Rund-um-die-Uhr-Geschäft, das veraltete Mom-and-Pop-Shops (Tante-Emma-Läden) ersetzt hat, zweifellos zu einem unverzichtbaren Lebensstil geworden.
„Wenn es ein 7-Eleven-Schild gibt, weiß ich, dass ich nicht verhungern werde“, sagt eine 39-jährige Büroangestellte, die es vorzog, nur Tai genannt zu werden. Als hingebungsvolle Kundin kauft Tai normalerweise alles, von Fertiggerichten bis zu Snacks und von Desserts bis zu Kochzutaten in einer Verkaufsstelle im Erdgeschoss ihrer Wohnung.
„Wenn mir nicht einfällt, was ich essen soll, gehe ich einfach in den Laden. Sie sind sehr kreativ, wenn es um Präsentation, Abwechslung und Portionierung geht“, sagt Tai, deren Mahlzeiten oft von der vielfältigen Präsentation der Convenience-Stores inspiriert sind, die für städtische Menschen, die oft allein leben, konzipiert sind.
Tai wählt manchmal ein Set mit gegrilltem Schweinefleisch und Klebreis in Vakuumverpackung zum Frühstück, eine Packung Mango-Scheiben mit Dip oder eine gegrillte Banane als Snack am Nachmittag. Alle oben genannten Produkte könnte man leicht auf der Straße finden, aber viele von ihnen werden in einer größeren Portion verkauft oder sind noch nicht fertig zum Verzehr. Die Produkte und Erzeugnisse in diesen Convenience-Stores sind gut verpackt, hygienischer und für eine Portion gemacht.
Dank der kleinen Portion, die für eine Person bestimmt ist, kann der Preis pro Einheit von Produkten in einem Convenience-Store höher sein. Aber die auf der Straße angebotenen Produkte werden oft in einer großen Portion angeboten, die ein oder zwei Personen nicht verzehren können. Eines der beliebtesten Produkte im Convenience-Store ist die Banane. Auf dem traditionellen Markt muss man eine Hand voll Bananen kaufen, die man kaum verzehren kann. Aber in Convenience Stores kann man einfach eine Banane für den täglichen Verzehr mitnehmen, ohne zu Hause einen ganzen Haufen lagern zu müssen.
„Alles ist für eine Person bestimmt, das ist perfekt für eine Single wie mich“, sagt Tai, die bereit ist, mehr zu bezahlen, damit sie am Ende nicht für den Teil bezahlt, den sie nicht aufessen kann.
Entfremdung von Nahrungsmitteln
Wie Millionen von Stadtbewohner*innen in Bangkok verbringt Tai viele Stunden bis spät abends bei der Arbeit. Aber sie hat mehr Glück als andere, die am Stadtrand wohnen und täglich zwei bis vier Stunden zwischen Wohnung und Arbeitsplatz pendeln müssen. Lange Arbeitszeiten im Büro und im Verkehr führen dazu, dass die Einwohner*innen Bangkoks nicht kochen können und meist auf Fertiggerichte angewiesen sind, die je nach Budget und Vorliebe entweder von einer/m Straßenverkäufer*in oder einem Convenience Store kommen.
In der Vergangenheit kauften die Menschen auf Märkten frische Waren ein. Sie lernten die Jahreszeiten der Lebensmittel kennen, wenn sie sorgfältig Gemüse von den Haufen auswählten. Sie kauften frischen Fisch, der nicht als Filet verpackt war, oder Teile von Schweinen oder Rindern, die nicht gewürfelt oder in Scheiben geschnitten waren.
Tai gehört zur jüngeren Generation, die in der Stadt aufwächst und am liebsten in einem klimatisierten Markt einkauft, wo die rohen Zutaten zum Kochen für ein oder zwei Personen abgepackt werden – Gemüse wird sauber verpackt, Fleisch fein geschnitten oder Fisch filetiert. Wie die Mehrheit der Stadtbewohner*innen kennt sie die Jahreszeiten der Produkte nicht oder weiß nicht, wie sich Dürre oder Überschwemmung auf die Produkte und andere Lebensmittel auswirken würde. Abgesehen von ihrer Lieblingsfrucht, der Durian, die um den April herum erhältlich ist, gibt Tai zu, dass die Jahreszeiten der Produkte oder der Meeresfrüchte außerhalb ihres Wissens liegen.
Nanthawat Rawangnam, ein anderer Stammgast, hat einen ähnlichen Lebensstil. Der 24-Jährige, der seit seiner College-Zeit fast jeden Tag Lebensmittel, Snacks und Desserts im 7-Eleven Convenience-Store kauft, sagt: „Ich mag es nicht, in einer langen Schlange und in der heißen Sonne auf das Mittagessen zu warten. Ich bin sicher, dass [die verpackten Tiefkühlprodukte] hygienischer sind als die aus dem [frisch gekochten] Straßenverkaufswagen“.
Menschen mit niedrigem Einkommen sind die Verlierer
Es braucht jedoch mehr als nur die Hitze Bangkoks, die unzureichende Hygiene der Garküchen und die zweckentfremdete Nutzung des öffentlichen Raums durch die Street-Food-Verkäufer*innen. Das Verbot von Street Food ist ein weiterer Faktor, der dem Convenience Store zum Wachstum verholfen hat. Seit 2015 hat die Stadtverwaltung von Bangkok (BMA – Bangkok City Hall) 508 Verkaufsstellen für Street Food in der gesamten Hauptstadt verboten. Mit Unterstützung des National Council of Peace and Order (NCPO) – der 2014 an die Macht gekommenen Regierung der Putschisten – begann die BMA 2015 mit dem Verbot von Street Food, um den öffentlichen Raum von ‚illegalen Straßenverkäufen’ zurückzuerobern und um ein ‚ordentlicheres und saubereres’ Erscheinungsbild zu erreichen. Als Grund für das Verbot wurde später die Verbesserung der Lebensmittelhygiene angegeben.
Von außen betrachtet schien die Maßnahme der Öffentlichkeit zu nützen. Tatsächlich aber schadete sie den Menschen vor Ort, vor allem Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die sich ein Essen in Kaufhäusern oder Restaurants nicht leisten können. Die Behörden hätten Vorschriften einführen können, um die Nutzung des öffentlichen Raums zu begrenzen und die Lebensmittelhygiene bei Straßenverkäufer*innen zu verbessern. Es war jedoch weniger kompliziert, ein generelles Verbot von allem Street Food durchzusetzen und nur zwei Orte – Chinatown und die Khaosan Road – in den Touristengebieten übrig zu lassen, was den Einheimischen tatsächlich sehr geschadet hat.
Es ist unbestreitbar, dass sich nach dem generellen Verbot von Street Food eine große Zahl von Städter*innen Convenience-Stores zuwendete, mit ihren Angeboten von Fertiggerichten, vom Mittag- oder Abendessen in der Mikrowelle über Desserts und Gebäck bis hin zu frisch gebrühtem Kaffee.
Thee M. arbeitete früher in der Gegend von Ploenchit, einem der Geschäftsbezirke der Stadt. Der Büroangestellte, Mitte 40, erzählt davon, wie einfach es war, Frühstück oder einen Nachmittagssnack von einem/r der Straßenverkäufer*innen vor seinem Bürogebäude zu bekommen.Doch da es im Herzen der Stadt schwieriger geworden ist, auf der Straße etwas zu essen zu finden, werden Leute wie Thee wegen des sich ändernden urbanen Lebensstils bald ihre Vorliebe aufgeben müssen. „Das pauschale Verbot hat mir keine andere Wahl gelassen, als Essen in einem dieser Convenience-Stores zu kaufen“, sagt Thee.
Übersetzung aus dem Englischen von: Dominik Hofzumahaus