Philippinen: Das Bildungssystem prägt die soziale Struktur, die nationale Identität und das Verhältnis zu Autorität. Ein Erfahrungsbericht.
Meine Schullaufbahn führte durch verschiedene Bildungseinrichtungen in den Philippinen und Deutschland – sowohl durch öffentliche als auch private. Dabei fiel mir auf, dass die Unterschiede im philippinischen Schulsystem weit über Äußerlichkeiten wie Uniformen und Gebäude hinausgehen. Vielmehr spiegeln sie koloniale Hierarchien wider, die das Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen prägen.
Sowohl Spanien als auch die USA haben als Kolonialmächte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Bildungswesens genommen. Trotz unterschiedlicher Ansätze hatten beide ein gemeinsames Ziel: die Anpassung der Bevölkerung an ihre eigenen Interessen und Ideologien.
Religiöse Bildung unter spanischer Kolonialherrschaft (1521–1898)
Während der spanischen Kolonialzeit war das Bildungssystem eng mit der katholischen Kirche verknüpft. Ziel war es, die indigene Bevölkerung zu missionieren und an spanische Werte und Kultur anzupassen. Die kirchlichen Schulen, die von katholischen Orden wie den Augustinern und Jesuiten betrieben wurden, konzentrierten sich stark auf religiöse Inhalte. Der Zugang zu Bildung war jedoch elitär: Nur Kinder wohlhabender Spanier*innen oder Kinder aus Verbindungen wohlhabender Spanier mit Einheimischen [koloniale Bezeichnung: Mestizen] hatten die Möglichkeit, Schulen zu besuchen. Für die indigene Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten, blieb der Bildungsweg weitgehend verschlossen.
Trotz der Elitenbildung war die Gründung der Universität Santo Tomas im Jahr 1611 eine bedeutende Errungenschaft. Sie ist heute die älteste Universität Asiens. Dennoch beschränkte sich das Bildungsangebot überwiegend auf religiöse und juristische Fächer. Spanisch als Unterrichtssprache schuf eine klare Kluft zwischen den kolonialen Eliten und der einheimischen Bevölkerung.
Entfremdung unter amerikanischer Kolonialherrschaft (1898–1946)
Mit der Übernahme durch die USA Ende des 19. Jahrhunderts wurde das philippinische Bildungssystem radikal umstrukturiert. Die Amerikaner sahen Bildung als Schlüssel zur ‚Zivilisierung‘ der Bevölkerung und führten ein öffentliches Schulsystem ein, das erstmals allen Kindern offenstand – unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft. Englisch war Unterrichtssprache. Es wurden Werte wie Demokratie und Individualismus vermittelt. Einen zentralen Einfluss hatten die sogenannten Thomasites – amerikanische Lehrpersonen, die in die Philippinen geschickt wurden, um das Schulsystem aufzubauen.
Diese Maßnahmen führten zu einem raschen Anstieg der Alphabetisierungsrate und zur Gründung neuer Bildungsinstitutionen wie der „University of the Philippines“ im Jahr 1908. Doch trotz dieser Fortschritte brachte das amerikanische Schulsystem auch eine Entfremdung von einheimischen Traditionen und kulturellen Normen mit sich, wie kapwa (Gegenseitigkeit, ein geteiltes Wir-Gefühl), utang na loob (innere Schuld) und pakisamahan (Gemeinschaft). Diese zentralen philippinischen Werte betonen Solidarität, Loyalität und den Vorrang des kollektiven Wohls. Im Gegensatz dazu steht im Kern westlicher Werte für die Filipin@s das Prinzip, zunächst an sich selbst zu denken, bevor sie die Bedürfnisse anderer berücksichtigen. („Brown Skin White Minds“, F.J.R.David, 2013, S. 109 bis 112).
Ungleiche Chancen bestehen fort
Englisch ist nach wie vor eine der Hauptunterrichtssprachen und nach Filipino die zweite Amtssprache. Die starke Ausrichtung auf westliche Ideale führte dazu, dass lokale Traditionen und Werte in den Hintergrund traten, wie pakiramdam (Einfühlsamkeit) und bayanihan (kollektives Helfen).
Obwohl die Amerikaner Bildung für alle zugänglich machten, bestehen soziale Ungleichheiten weiterhin. Insbesondere in ländlichen Gebieten ist der Zugang zu höherer Bildung erschwert. Private Schulen und Universitäten sind für viele unerschwinglich, während das öffentliche Bildungssystem oft überlastet und unterfinanziert ist. Der Bildungsweg bleibt für viele ein entscheidender Faktor für den sozialen Aufstieg.
Das koloniale Erbe im Bildungssystem zeigt sich auch in der Elitenbildung an renommierten Institutionen wie „Ateneo de Manila oder De La Salle University“, die nur für die wohlhabendsten Familien zugänglich sind. Gleichzeitig profitieren die USA und weitere Staaten bis heute von den gut ausgebildeten philippinischen Arbeitskräften. Viele Filipin@s arbeiten im Ausland – und ihre Rücküberweisungen tragen erheblich auch zur philippinischen Wirtschaft bei.
Autoritäten und Privilegien
Ich begann meine Schullaufbahn in öffentlichen Schulen, bevor ich ab der zweiten High-School-Klasse das katholische „Canossa College“ für Mädchen aus gehobenen Kreisen besuchte. Dort waren die Gebühren hoch. Das privatwirtschaftliche System spiegelte einen Gewinnfokus wider, dennoch war die Bildungsqualität hervorragend. Viele Mitschülerinnen waren seit dem Kindergarten am „Canossa College“. Ihre höflich-distanzierten Umgangsformen unterschieden sich deutlich von denen anderer Schulen. Der Unterricht folgte dem nationalen Lehrplan, wurde jedoch anders vermittelt und begann täglich mit einer Zeremonie, gefolgt von der Nationalhymne und Gebeten.
Besonders in Englisch förderte man Debatten und Redewettbewerbe. So hielt ich eine Rede über die Proteste vor dem Präsidentenpalast Malacañang. Die privaten Schulen legten Wert auf individuelle Meinungen sowie die Förderung von Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung. Die absolute Autorität der Lehrpersonen und Geistlichen wurden jedoch nicht in Frage gestellt. Veranstaltungen wie der Schulball (Junior Senior Prom), Exerzitien und Paraden sowie ein tägliches Gebet in der Kapelle betonten den religiösen und westlichen Einfluss der Schule. Die Schule bot zudem Zugang zu medizinischem Personal wie Ärzt*innen, Zahnärzt*innen und Psycholog*innen sowie einen jährlichen IQ-Test – Privilegien, die in öffentlichen Schulen nicht verfügbar waren.
Unterschiedliche Schulkulturen
Insgesamt unterschieden sich private und öffentliche Schulen trotz ähnlicher Strukturen durch ihre jeweilige Schulkultur. In öffentlichen Schulen herrschte oft eine distanzierte Atmosphäre. Lehrer*innen galten als Autoritätspersonen, zu denen die Schüler*innen wenig persönliche Bindung aufbauten. Disziplin und Hierarchie standen im Vordergrund, während individuelle Förderung und Interaktion auf Augenhöhe kaum eine Rolle spielten.
Im Gegensatz dazu war die Atmosphäre in katholischen Privatschulen, die oft von Nonnen oder Priestern geleitet wurden, zwar disziplinierter, aber zugleich persönlicher und freundlicher. Die Schülerinnen des „Canossa College“ waren stets gut vorbereitet und fehlten nur bei triftigen Gründen. Im Gegensatz dazu waren die öffentlichen Schulen häufiger von Abwesenheiten, Verspätungen und einer gewissen Nachlässigkeit bei der Bearbeitung von Hausaufgaben geprägt.
Im Vergleich zu meinen Erfahrungen in deutschen Schulen, wo kleinere Klassen und eine offene Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen an der Tagesordnung waren, fiel in den Philippinen besonders die fast unterwürfige Haltung gegenüber Autoritäten auf. Diese Tendenz ist vor allem in ländlichen Gebieten stark ausgeprägt, wo koloniale Machtstrukturen besonders tief verankert sind.
Identitätskrisen durch koloniales Erbe verstärkt
Die Kolonialzeit hat nicht nur das Bildungssystem, sondern auch die Mentalität der Filipin@s beeinflusst. Die spanische Herrschaft hinterließ eine stark katholische Gesellschaft, in der Gehorsam und Respekt vor Autoritäten eine zentrale Rolle spielten. Die amerikanische Kolonialzeit führte hingegen zu einer stärkeren Betonung von Individualismus und persönlichem Erfolg. Diese duale Prägung zeigt sich auch heute noch: Filipin@s sind sowohl durch familiäre und religiöse Werte geprägt als auch durch den Drang nach Selbstverwirklichung und westlichem Fortschritt.
Besonders in der philippinisch-amerikanischen Gemeinschaft zeigt sich eine Identitätskrise, die durch das koloniale Erbe verstärkt wird. Viele Filipin@s in den USA fühlen sich weder vollständig als Amerikaner*innen noch als Filipin@s und kämpfen mit dem Gefühl, zwischen zwei Welten gefangen zu sein. („Brown Skin, White Minds“, F.J.R. David, 2013).
Intensive Ausübung religiöser Rituale
Rückblickend bin ich dankbar dafür, sowohl öffentliche Schulen als auch das private, katholische College kennengelernt zu haben. Die öffentliche Schulbildung gab mir ein Verständnis für die Umgangsformen, das Bildungsniveau und die Erwartungen der breiten Bevölkerung. Der Wechsel in die Privatschule vermittelte mir Liberalität, Toleranz und Weltoffenheit gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft und Mentalität. Gleichzeitig muss ich jedoch zugeben, dass die intensive Ausübung religiöser Rituale dort meine Distanz zur Religion vergrößert hat. Die auswendig gelernten Gebete und festgelegten Rituale der Kirche empfinde ich bis heute als wenig greifbar und ich konnte sie nie wirklich verinnerlichen.
Für mich ist klar, dass die Kolonialisierung durch Spanien und die USA die philippinische Kultur tiefgreifend verändert hat – oft zum Nachteil einheimischer Traditionen und Identitäten. Der Name ‚Philippinen‘ vereint viele Kulturen unter einer nationalen Identität, doch dabei geht die Vielfalt leicht verloren. Um diese zu bewahren, halte ich es für entscheidend, unsere traditionellen Praktiken und Sprachen zu fördern. Nur so können wir das kulturelle Erbe und die einzigartige Identität der Philippinen in einer globalisierten Welt erhalten. Die Kolonialmächte haben ein duales System geschaffen, das elitäre Bildung förderte und viele Menschen ausschloss – ein Muster, das bis heute nachwirkt und auch durch die aktuelle Bildungspolitik nicht gelöst wird.
Bildungspolitik heute
Für mich sind die größten Herausforderungen ungleiche Bildungschancen, chronische Unterfinanzierung und überlastete staatliche Schulen. Qualitätsmängel, wie sie internationale Studien zeigen, sind nicht zu übersehen. Ich nehme auch wahr, wie politische Einflussnahme und Korruption dringend notwendige Reformen behindern.
Dezentralisierung verschärft regionale Ungleichheiten. Auch sehe ich, wie populistische Maßnahmen eher auf kurzfristige Ergebnisse abzielen. Da Englisch das Bildungssystem dominiert, werden lokale Sprachen und Kulturen zu wenig gefördert.
Ich glaube, dass nachhaltige Verbesserungen nur durch höhere Investitionen, die Förderung kritischen Denkens und die Unterstützung für benachteiligte Regionen möglich sind. Ohne diese Veränderungen werden die Probleme des Systems sicher bestehen bleiben – ein Gedanke, der mich nachdenklich stimmt.