
In der Phổ-Đà-Pagode in Berlin-Lichtenberg erinnern Papiertafeln an die ungeborenen Kinder vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen in der DDR. © Max Müller
Deutschland/Vietnam: Wie ein buddhistisches Ritual an Zwangsabtreibungen in der DDR erinnert und Raum zum Trauern schafft.
Die ehemalige Gastarbeiterin Quách Thị Hoa veröffentlichte 1990 in der südostasien einen offenen Brief. In eindringlichen Sätzen schilderte sie, wie vietnamesische Frauen in der DDR (Deutschen Demokratischen Republik) gezwungen wurden, ihre Schwangerschaften abzubrechen oder vorzeitig in ihr Heimatland zurückzukehren. „Uns wurde unmissverständlich klargemacht, dass Intimbeziehungen zwar als normal angesehen werden, wir jedoch unter keinen Umständen schwanger werden durften. Schwangere Frauen wurden unverzüglich nach Vietnam zurückgeschickt. Diese Bestimmung schwebte wie ein Damoklesschwert über unserem Schicksal.“
Mit diesem Brief rückte Hoa eine Geschichte ins Licht, die lange Zeit unsichtbar war. Die systematische Kontrolle der Körper vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen durch die Behörden der DDR, gefördert und gebilligt von der sozialistischen Regierung in Hà Nội. Der Brief machte öffentlich, wie Frauen in den 1980er Jahren in der DDR zwischen zwei repressiven Systemen aufgerieben wurden: Auf der einen Seite drohte das Stigma in Việt Nam, wenn sie unverheiratet mit Kind zurückkehrten. Auf der anderen Seite standen die Betriebe und Behörden der DDR, die bei einer Schwangerschaft oftmals die sofortige Rückreise einleiteten – auf eigene Kosten.

Die von außen unscheinbare Phổ-Đà-Pagode ist ein wichtiger Ort für Andachten und Rituale. Eines davon ist das „Lễ Câu Siêu Thai Nhi Sản Nạn“, eine Gedenkzeremonie für ungeborene Kinder. © Max Müller
Viele dieser Frauen kehrten nach dem Ende der DDR Anfang der 1990er Jahre nach Việt Nam zurück, oft belastet von mehrfachen Schwangerschaftsabbrüchen und den psychischen Folgen dieser Zwangsabtreibungen. Wer in Deutschland blieb, baute sich hier eine Existenz auf, schwieg aber oft weiterhin über das Erlebte. 40 Jahre nach dem Erscheinen von Hoas Brief beschreibt unser Autor ein Heilungsritual, mit dem Raum geschaffen wird für das Leid, das zuvor unsichtbar blieb.
Das Ritual der ungesagten Worte
Zwischen Plattenbauten, inmitten eines grauen Gewerbegebiets in Berlin-Lichtenberg, liegt in einem alten Pförtnerhäuschen die Phổ-Đà-Pagode. Lediglich das geschwungene Dach und ein kleiner geschmückter Vorhof deuten darauf hin, dass es sich hier nicht mehr um ein gewöhnlichen Industriekomplex, sondern einen religiösen Ort handelt.
Betritt man die Pagode, steigen einem sofort der Duft von Räucherstäbchen und gekochtem Klebreis in die Nase. Die Wände sind geschmückt mit goldenen Buddha-Statuen. Auf dem Ahnenaltar thronen die Fotos der Verstorbenen der Gemeinde.
Während offizielle Gedenkveranstaltungen oft auf nüchternen Podien stattfinden, ist diese Pagode ein Ort verschiedenster Sinneseindrücke. Hier finden nicht nur Andachten und Gemeindezusammenkünfte statt, sondern auch aufwendige Zeremonien, in denen die Pagodengemeinde Rituale für Verstorbene durchführt. Eines dieser Rituale ist das „Lễ Câu Siêu Thai Nhi Sản Nạn“, eine Gedenkzeremonie für ungeborene Kinder, die durch Abtreibung oder Totgeburt das Licht der Welt nicht erblicken konnten.
Jede Papiertafel symbolisiert ein totes Kind
„Wir wollten einen Raum schaffen, in dem Mütter und Väter ihre Trauer zeigen können“, erklärt der leitende Mönch der Pagode, Thích Pháp Nhẫn, der von allen nur respektvoll thây, also Lehrer genannt wird. Um ihn herum bereiten freiwillige Helfer:innen den Altar für diese besondere Zeremonie vor, in dem sie kleine Fläschchen mit Babymilch, Spielzeug und Schalen mit Speiseopfern aufstellen. Daneben leuchten Kerzen und Räucherstäbchen, deren Rauchschwaden sich wie Schleier über kleine Abbilder aus Papier legen — jede symbolisiert ein totes Kind. Der Altar, der extra für diesen Anlass aufgebaut wird, erstrahlt in warmem Kerzenlicht. Darauf thronen rund 120 Papiertafeln. Auf einigen Tafeln ist ein Name notiert, auf anderen nur ein Datum. In einer feierlichen Prozession werden buddhistische Texte rezitiert und abschließend die Papiertafeln verbrannt.

Teilnehmende des Trauerrituals. © Max Müller
Viele der anwesenden Frauen und Männer sind bereits im Rentenalter, manche begleitet von ihren erwachsenen Kindern. Sie alle haben ihre ganz eigenen Geschichten. Doch an diesem Tag verbindet sie eine geteilte Trauer. Das Ritual schafft einen Raum für Gefühle, die in vielen Fällen jahrzehntelang verborgen blieben.
Von Việt Nam in die DDR
Um zu verstehen, warum dieses Ritual eine so besondere Bedeutung hat, braucht es den Blick in die Vergangenheit: In den 1980er Jahren holte die DDR tausende junge Vietnamesinnen und Vietnamesen als sogenannte ausländische Werktätige ins Land. Offiziell stärkten sie die ’sozialistische Bruderschaft‘ zwischen beiden Ländern. In der Praxis benötigte die DDR billige Arbeitskräfte für Textilfabriken und andere Industriebetriebe. Dabei wurde das Leben der vietnamesischen Werktätigen auf strengste kontrolliert: Geschlechtsgetrennte Unterbringungen in eigenen Wohnblöcken, Bespitzelung durch Stasi (Ministerium für Staatssicherheit) und Vertreter:innen der vietnamesischen Botschaft, Kontaktverbot zur ostdeutschen Bevölkerung.
Zwar galten die ostdeutschen Behörden im Vergleich zu westlichen Regierungen als aufgeschlossen gegenüber berufstätigen Frauen, doch diese Offenheit endete für ausländische Werktätige bei Schwangerschaft und Familienbildung. So wurde den vietnamesischen Arbeiterinnen sehr früh klargemacht, dass eine Schwangerschaft als Arbeitshindernis galt, welches strikt zu vermeiden war. Die DDR-Betriebe und der vietnamesische Staat duldeten kaum Schwangerschaften, denn sie galten — nach äußerst kapitalistischer Verwertungslogik — als produktivitätsmindernd und waren damit unerwünscht. Wer schwanger wurde, stand vor einer grausamen Wahl: Abtreibung oder Abschiebung.
Räucherstäbchen und Reuegebete
Die Zeremonie beginnt schon Tage zuvor mit der Rezitation eines traditionellen Sutras („Tụng Lương Hoàng Sám“), das zur spirituellen Reinigung dient und die Gemeinde auf die Gedenkfeier vorbereiten soll. Am Tag des eigentlichen Rituals versammeln sich alle Teilnehmenden im Hauptraum der kleinen Pagode. Das Reuegebet („Sám Hôi“) erklingt und schafft eine berührende Atmosphäre. Die Stimmen der Gläubigen verweben sich mit dem stetigen Takt einer kleinen Trommel, hin und wieder wird ein Gong geschlagen. In einem der Gebetstexte, der von einem Mitglied der Gemeinde vorgetragen wird, heißt es sinngemäß:
„Ich nahm dir das Leben, noch ehe du Gestalt annahmst, obwohl du mein eigenes Kind warst, habe ich dich abgeschnitten von meinem Herzen. […] Mögest du uns diese karmische Verstrickung verzeihen, uns vergeben und die alten Feindschaften lösen, auf dass du in eine höhere Existenzebene eingehen kannst.“

Vietnamesische Näherinnen im Rostocker Jugendmodebetrieb „Shanty“. © Bundesarchiv, Bild 183-1990-0702-001 / Sindermann, Jürgen / CC-BY-SA 3.0
Während des Vortrags senken viele ihre Köpfe, andere halten die kleinen Papierbildnisse schützend vor ihre Brust, als ob sie das verlorene Kind nun endlich umarmen könnten. Manche lassen ihren Tränen freien Lauf, andere schluchzen leise. Der Raum ist erfüllt von einer Mischung aus Schmerz, Scham und vorsichtiger Erleichterung, endlich darüber sprechen und trauern zu dürfen.
Nach dem Vortrag beginnt das Klagen von „Xin Đừng Bỏ Con Mẹ Ơi“ („Bitte verlass mich nicht Mama“) im Hintergrund zu ertönen, ein Lied, in dem die Stimme eines Kindes die Mutter anfleht, es nicht abzutreiben. Diese Worte, teils flehend, teils bittend, treffen tief ins Herz vieler Anwesender. Ein Schluchzen geht durch die Reihen, Taschentücher werden gereicht. Als das Lied endet, herrscht für einen Moment andächtige Stille, die nur vom leisen Summen der Lüftung unterbrochen wird. Dann ertönt ein letztes Mantra, bevor die Anwesenden in den Vorgarten der kleinen Pagode gehen.
Reinigung durch Feuer und die Kraft der Gemeinschaft
Der Höhepunkt der Zeremonie ist das rituelle Verbrennen der Papiertafeln. In großen, feuerfesten Gefäßen werden sie nacheinander ins Feuer gegeben, begleitet von Gebeten und dem Klang kleiner Glocken. Die Flammen züngeln kurz auf und man kann förmlich spüren, wie sich eine Last löst – als wäre ein schwerer Vorhang ein Stück beiseitegeschoben worden. „In unserer Tradition glauben wir, dass die Seelen durch das Feuer transformiert werden“, sagt thây. „Aber auch psychologisch gesehen ist es ein Akt der Befreiung. Die Eltern verbrennen nicht nur ein Stück Papier, sondern symbolisch ihre langjährige stille Trauer und Schuld.“
Die Erfahrungen der 1980er Jahre wirken bis heute fort. Viele Frauen, die zu Zeiten der DDR mehrfach abtrieben, trugen körperliche und seelische Folgen davon. Manche litten unter Depressionen, Albträumen oder Schuldgefühlen, konnten aber nirgends Rat finden, weil das Thema nicht in die Öffentlichkeit drang. Gemeinschaftliches Gedenken, wie es in der Phổ-Đà-Pagode praktiziert wird, kann tiefe Wunden nicht ungeschehen machen. Doch es ermöglicht, die erlittene Gewalt zu benennen und sie in einem geschützten Raum zu verarbeiten. Hier entfaltet das Ritual seine besondere Kraft: Es verwebt das individuelle Leid nach einem erzwungenen Schwangerschaftsabbruch mit einer kollektiven Erinnerung an staatliche Willkür, Rassismus und die Last jahrzehntelangen Schweigens. Die Erfahrung der Menschen in der Pagode zeigt, wie notwendig es ist, diese Geschichte aufzuarbeiten.
Das Video eines viet-deutschen Nachrichtenportals zeigt Aufnahmen des „Lễ Câu Siêu Thai Nhi Sản Nạn“- Rituals aus dem Jahr 2023.
Der offene Brief von Quách Thị Hoa stand am Anfang dieser Suche nach Gerechtigkeit und Genesung. In der Phổ-Đà-Pagode findet sie eine ihrer eindrücklichsten Fortsetzungen. Sie bietet Menschen einen Raum, in dem ihre Erfahrungen nicht nur anerkannt, sondern aktiv verarbeitet werden können. Wer hierher kommt spürt: Die Folgen der Zwangsabtreibungen in der DDR sind noch immer präsent. Doch sie sind nicht länger unausgesprochen. Ihnen wird begegnet mit Ritualen, Liedern und Gemeinschaft, der für die Betroffenen Halt und Heilung verspricht.