Vietnam: Ein Unterziel der Sustainable Development Goals (SDG) lautet: Verringerung des Abfalls bis 2030 durch Vermeidung, Verminderung, Verwertung und Wiederverwendung. Informelle Müllsammler*innen sorgen dafür – und werden dennoch diskriminiert.
Täglich von der Morgendämmerung bis weit nach Sonnenuntergang befahren Müllsammler*innen mit ihren Fahrrädern die Straßen von Hanoi. Sie sind auf der Suche nach Materialien, die sie verkaufen können. Unter ihnen ist Lương Thị Hoa, deren wettergegerbtes Gesicht die drei Jahrzehnte zeigt, die sie diesen Job schon macht. Sie sagt, sie habe schon alles gesehen und gehört und sei mit allen möglichen Namen beschimpft worden. Erst kürzlich rief ihr jemand zu: „Đồng nát, verpiss dich von hier!“
Đồng nát bedeutet wörtlich „zerbrochenes Kupfer“, aber heute verstehen die Leute darunter „Plünderung“. Hoa und ihre Kolleg*innen werden oft mit den Namen der Dinge bezeichnet, die sie kaufen und verkaufen: đồng nát, ve chai (Flaschen), sắt nhựa (Eisen und Plastik) – eigentlich alles, was wieder verwendet und weiterverkauft werden kann – und phế liệu (Abfall). Die Beschimpfungen sollen die Abfallsammler*innen herabsetzen. Dabei ist die Arbeit, die sie leisten, entscheidend für das Wohlergehen der Gemeinden, in denen sie tätig sind.
90 Prozent Recycling leisten informelle Arbeiter*innen
Informelle Abfallsammler*innen wie die 50-jährige Hoa sind Vorreiter gegen den Klimawandel. In Ländern, in denen es kein offizielles Recycling-System gibt, sind sie in der Regel für das Sammeln, Sortieren und Recyceln einer beträchtlichen Menge von Müll zuständig. In einem Bericht aus dem Jahr 2021 über die ‚informellen Recycler‘ beschreibt die Global Alliance for Incinerator Alternatives (GAIA) Menschen wie Hoa sogar als treibende Kraft auf dem Weg zu einer abfallfreien Welt.
In Vietnam kaufen diese Arbeiter*innen 30 Prozent der Abfälle in den Städten auf. Mehr als 90 Prozent der Recycling-Aktivitäten im Land werden ebenfalls von informellen Arbeiter*innen durchgeführt, vor allem in den so genannten ‚Handwerksdörfern‘, wo Menschen damit ein zusätzliches Einkommen neben ihrer landwirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeit erzielen.
Hoàng Đức Vượng, Vorstandsvorsitzender von Vietcycle, einem in Hanoi ansässigen Unternehmen, das sich mit Kunststoffabfällen befasst und Abfallarbeiter*innen unterstützt, schätzt, dass es in ganz Vietnam etwa zwei bis drei Millionen Abfallarbeiter*innen gibt.
Unerkannter Teil des Kreislaufs
Seit 2009 sind die Müllsammler*innen sichtbarer geworden und haben sich zu Fragen des Klimawandels geäußert. Vietnam ist sogar Mitglied der International Alliance of Waste Pickers geworden, um die Einbindung und Sichtbarkeit dieser Arbeiter*innen in formellen Abfallwirtschaftssystemen zu verbessern. Dennoch, so Hoàng, fangen Klimaprojekte in Vietnam gerade erst an, sie einzubeziehen.
„Es müssen mehr Anstrengungen unternommen werden, um informelle Abfallsammler*innen einzubeziehen“, sagt Hoàng. „Bislang konzentrieren sie sich nur auf die Gewinnung von Wertstoffen für den Verkauf.“
Der Kreislauf des informellen Abfallrecyclings umfasst das Einsammeln und Kategorisieren von Schrott durch Sammler*innen, die das Getrennte an Sammelstellen verkaufen. Diese Zentren wiederum sortieren die Abfälle erneut und transportieren sie zu weiteren Sammelstellen und schließlich zur professionellen Weiterverwertung. Nach Angaben von GAIA führt die Arbeit der informellen Abfallsammler*innen zu Einsparungen im Abfallsektor in Form von geringeren Transport- und Entsorgungskosten, Einnahmen aus dem Verkauf von Wertstoffen und geringeren Sammelkosten.
Trotz ihrer wichtigen Rolle im Abfallwirtschaftssystem werden informelle Abfallsammler*innen oft als arbeitslos oder unterbeschäftigt angesehen. Das mangelnde Verständnis für ihre Arbeit hat auch dazu geführt, dass sie in der Regel diskriminiert und geächtet werden. In Vietnam ist das Bild, das die Bevölkerung von den Müllwerker*innen hat, meist negativ: klebrige Finger, schlecht ausgebildet, minderwertig und schmutzig.
Die meisten Müllsammler*innen sind Frauen
Hoa sagt, dass viele Leute so denken, weil Müllsammler*innen wie sie „nhà quê“, also als vom Lande kommend, aussehen und klingen. Sicher ist, dass viele der städtischen Abfallsammler*innen in Vietnam aus den Nachbarstädten kommen, viele von ihnen sind Frauen. Im vietnamesischen Abfallrecyclingsystem sind 60 Prozent der Arbeiter*innen Frauen, obwohl die Arbeit oft körperlich anstrengend ist. Hoa und ihre Kolleg*innen sagen, dass sie jeweils bis zu 30 Kilogramm auf ihren Fahrrädern befördern und im Durchschnitt 20 Kilometer pro Tag zurücklegen, egal ob es regnet oder die Sonne auf sie herab brennt.
Hoa zufolge sei es besser, wenn nur wenige Männer diese Arbeit übernehmen. Frauen, so Hoa, könnten kleine Demütigungen besser ertragen, während Männer dazu neigten, ein großes Ego zu haben. „Wenn Männer von Fremden gedemütigt werden“, sagt sie, „könnten sie in eine Schlägerei geraten und Ärger mit der Polizei bekommen“.
Der Vietcycle-Vorsitzende Hoàng stellt seinerseits fest, dass die meisten Müllsammlerinnen Frauen aus wirtschaftlich schwachen Familien sind. Er bemerkt: „Wenn die Männer nicht in der Lage sind, ihre Familien zu ernähren, opfern sich die Frauen oft auf und jonglieren mit mehreren Jobs, um über die Runden zu kommen. Das ist sozusagen unsere Tradition.“
Ausgangspunkt Kupferschrott
Laut dem 2021 erschienenen Buch Scavengers and Scavenging in Hanoi: Visibility in the Community von Nguyễn Thái Huyền von der Architekturuniversität Hanoi hat die vietnamesische Müllsammel-Industrie ihre ersten Wurzeln im Dorf Nôm in der Gemeinde Đại Đồng in der nördlichen Provinz Hưng Yên. Die Frauen des Dorfes, das für seine Bronzegießerei bekannt war, mussten Kupferschrott sammeln oder kaufen und ihn an Gießereien verkaufen, um die Ausbildung ihrer Männer zu finanzieren. Bald wurde der Schrottverkauf zu einer beliebten Beschäftigung nicht nur für die Frauen, sondern auch für diejenigen, die kein Interesse mehr an der Arbeit in der Landwirtschaft oder in der Bronzegießerei hatten.
Für einige der heutigen Schrottsammlerinnen in Hanoi waren es die 22. Südostasienspiele, die sie zu einer solchen Tätigkeit trieben. Vietnam war 2003 Gastgeber der Spiele. Zu den Bemühungen der Behörden von Hanoi, die Hauptstadt für das regionale Sportereignis zu säubern, gehörte das Verbot von Straßenverkäufer*innen an mehreren Stellen in der Stadt.
Nguyễn Thị Mây war damals Straßenhändlerin; sie sah ihren Lebensunterhalt praktisch verschwinden. Aber Mây erinnert sich: „Ich hatte keine Zeit, um über meinen Verlust zu weinen. Ich habe einfach sofort angefangen, (als Müllsammlerin) zu arbeiten.“
Trần Thị Tuy machte eine ähnliche Erfahrung. Mit nur kleinem Kapital, einem Paar Handschuhe und einer Maske begann Tuy 2003 in Hanoi mit dem Sammeln von Abfällen, da die Spiele ihren früheren Lebensunterhalt beeinträchtigten. Im Jahr darauf zog sie nach Hồ Chi Minh City, sammelte dort aber weiter Müll.
Mây, Hoa und Tuy haben keine Schulung zu den technischen Aspekten der Abfallsammlung, -sortierung und -verwertung erhalten. Erfahrenere Abfallsammler*innen brachten ihnen bei, wie man weggeworfene Gegenstände von Hand sammelt und kategorisiert. Aber sie müssen noch viel über wieder verwertbare Materialien lernen und lassen sich dazu verleiten, Abfälle ohne wirtschaftlichen Wert zu kaufen.
Einmal kaufte Mây eine Wasserpumpe, weil sie dachte, sie sei aus massivem Kupfer und sie könne sie mit einem schönen Gewinn weiterverkaufen. „Als ich in der Mülldeponie ankam, sagte mir der Besitzer, dass sie aus Aluminium sei, und zahlte mir viel weniger als den Betrag, für den ich sie gekauft hatte. Ich habe einen großen Verlust gemacht,“ erzählt sie. Mây hat jetzt immer einen Magneten dabei, um zu prüfen, ob es sich bei einem Gegenstand um echtes Kupfer oder nur um verkupferte Eisen-Teile handelt.
Arbeitstage von 4 Uhr morgens bis 10 Uhr nachts
Ein typischer Arbeitstag beginnt für Mây um 4 Uhr morgens und endet um 10 Uhr nachts oder wenn sie mit dem Abliefern des letzten Abfallhaufens bei einem Depot fertig ist. Mây hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Abfall um 5 Uhr morgens in der Nähe von Bars und Restaurants einzusammeln, denn dann beginnen diese Lokale oft damit, die Getränkedosen der vorangegangenen Nacht wegzuwerfen. Sie sagt, dass die Zeit zwischen 18 und 19 Uhr ebenfalls eine gute Zeit sei, da Familien zu dieser Zeit ihren Hausmüll wegwürfen.
Mây sucht oft nach vier großen Abfallsorten, die sich gut verkaufen lassen: Papier und Kartons, Plastik, Aluminium und Eisen. Im Durchschnitt verdient sie 5 bis 6 Millionen VND (200 bis 238 Euro) im Monat, was in etwa dem monatlichen Mindestlohn von Angestellten im öffentlichen Dienst in Hanoi entspricht. „Metallschrotterin zu sein ist besser als Straßenverkäuferin“, erklärt Mây. „Ich kann sicher etwas am Tag verdienen. Ich muss nicht den ganzen Weg von meiner Heimatstadt nach Hanoi tragen und dann vielleicht noch verfaulte Früchte zurückschleppen.“
Hoa und Tuy kaufen zwar ausgewählte wieder verwertbare Abfälle, sammeln aber alles, was ihnen kostenlos gegeben wird. Im Allgemeinen wird der Hausmüll nicht an der Quelle getrennt. Die beiden Abfallsammlerinnen sagen, dass es für sie schwer sei, den wirtschaftlichen Wert der weggeworfenen Gegenstände auf den ersten Blick zu bestimmen. Daher nähmen sie einfach alles mit, was sie können. Außerdem wolle sich keine von ihnen lange in einer Gasse oder Nachbarschaft aufhalten, aus Angst, verjagt zu werden. „Manche Leute haben Mitleid mit mir, obwohl ich anbiete, zu kaufen und zu bezahlen“, sagt Hoa. Aber sie betont: „Ich bitte nicht um einen Gefallen“.
Schwankende Preise
Die Preise hängen von der Art des Abfalls und vom Markt ab. Auch das Timing spielt eine Rolle. „Letztes Jahr war ein Kilogramm Karton 4.000 VND (0,16 Euro) wert“, sagt Mây. „Dieses Jahr sind es nur noch 2.000 VND (0,08 Euro). Der Besitzer der Mülldeponie sagte mir, dass China diese Materialien nicht mehr abholt. Mir ist nicht klar, warum.“
Wie Hoa und Tuy stellt auch Mây die Schwankungen der Preise nur selten in Frage. Während in den Großstädten Mülldepots wie Pilze aus dem Boden schießen, sagen die drei Frauen, dass sie ihre Gegenstände nicht einfach an jeden verkaufen könnten. „Ich verkaufe nur an feste Abnehmer*innen zu guten Preisen“, sagt Tuy, obwohl sie unter dem Druck steht, alles, was sie gesammelt hat, bis zum Ende eines jeden Tages zu verkaufen. Ihre Vermieterin erlaubt ihr nicht, Abfälle in ihrem Zimmer zu lagern.
Aus ihrer langjährigen Erfahrung als Müllsammlerinnen können die drei Frauen sagen, dass die Arbeit immer härter werde – vor allem in den letzten drei Jahren. Vor allem Tuy sagt, dass sie ihre Anstrengungen im vergangenen Herbst und Winter verdoppelt habe, um „die COVID-Zeit“ auszugleichen, sowie den Sommer, in dem es zu schwer war, bei sengender Hitze durch die Hauptstadt zu fahren.
Auch aktuell konkurrieren sie nicht nur mit jüngeren Abfallsammler*innen, von denen sie glauben, dass diese sich besser mit elektronischen Wertstoffen auskennen, sondern auch mit weiteren Sammler*innen. Tuy sagt: „Immer mehr Frauen aus meinem Dorf haben die Landwirtschaft aufgegeben und fangen an, in Hanoi Müll zu sammeln.“ Mây schätzt sich jedoch immer noch viel glücklicher als ihren Mann, der in Hanoi als Rikschafahrer arbeitet. „Ich verdiene vielleicht nicht jeden Monat das Gleiche“, sagt sie, „aber ich werde mit diesem Job nie hungern, denn die Leute haben immer etwas zum Wegwerfen.“
Übersetzung aus dem Englischen von: Simon Kaack
Der Beitrag ist im Februar in englischer Sprache bei Asia Democracy Chronicles erschienen. Er wurde von der südostasien-Redaktion leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet.