Vietnam gilt als erfolgreich bei der Bekämpfung von Covid-19. Liegt es an den Maßnahmen der Regierung? Und wie sind diese durch die Bevölkerung akzeptiert worden?
In neueren Zeitungsartikeln wird Kritik an Europas Versäumnissen bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie geäußert. Diese hätten durch die Anwendung von erfolgreichen Maßnahmen, wie sie einige asiatische Länder durchgeführt hatten, verhindert werden können. Eine eurozentristische Sichtweise, die den Erfolg dieser Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf autoritäre Strukturen allein zurückführt, versperrt den Blick auf jene wirksamen Maßnahmen, die – in abgewandelter Form – auch in Europa hätten durchgeführt werden können. Beispielsweise hätten auch in Deutschland konsequentere lokale Lockdowns, eine Pflichtquarantäne in zentralisierten Einrichtungen für Einreisende aus Risikogebieten oder Verbote der Ausreise in Risikogebiete eingeführt werden können.
Maßnahmen zur Kontaktreduktion und -rückverfolgung
Die hohe Alarmbereitschaft Vietnams zeigt sich deutlich an der zügigen Grenzschließung zu China am 1. Februar 2020. Ein Grund ist der geregelte Austausch zwischen Vietnam und China im Falle einer Pandemie. Gleichzeitig kann auch ein gewisses Misstrauen Vietnams gegenüber China bezüglich der Nachrichtenlage zu Covid-19 nicht ausgeschlossen werden. So wurde von einem vietnamesischen Cyber-Angriff auf China berichtet, was von offizieller Seite jedoch abgestritten wurde. Schnell setzte die vietnamesische Luftfahrtbehörde zuerst Flüge nach Wuhan und dann nach ganz China aus. Die Einreise internationaler Tourist*innen ist seit dem 22. März 2020 nicht mehr möglich.
Der erste und bis dato einzige landesweite Lockdown galt ab dem 1. April 2020 für 15 Tage, wo ausschließlich für wichtige Besorgungen oder in Notfällen das Haus verlassen werden durfte.
Bei späteren Ausbrüchen gab es gezielte lokale Lockdowns. Ende Dezember 2020 zum Beispiel gab es in Ho-Chi-Minh-Stadt einen Infektionsfall, auf den hin alle 72 Wohnungen eines Wohnblocks komplett abgeriegelt wurden. Leider gab es auch Extremfälle: in Hanoi ist im Mai 2020 ein Gebiet mit circa 120 Haushalten komplett abgeriegelt worden, nachdem eine Person Fieber und ein Engegefühl in der Brust gemeldet hatte. Rigoros wurde auch bei Verdacht auf Superspreading-Events vorgegangen: am 16. März 2020 wurden ein ganzes Dorf sowie eine Moschee abgeriegelt, nachdem eine infizierte Person identifiziert worden war.
Eine weitere Kontakt reduzierende Maßnahme war das Verbot größerer kultureller und religiöser Veranstaltungen mit mehr als 20 Personen im Frühjahr 2020. Die erste und einzige landesweite Schulschließung galt von Februar bis Mai 2020. Bei späteren Ausbrüchen gab es gezielte lokale Schulschließungen.
Contact Tracing
Vietnam wurde schnell für seine effektive Rückverfolgung bekannt. Bereits am 9. März 2020 wurde landesweit die App NCOVI bereitgestellt, mit der Benutzer*innen ihren aktuellen Gesundheitsstatus eingeben und auf Karten bestimmte Hotspots einsehen konnten. Am 18. April 2020 wurde zusätzlich die Warn-App Bluezone eingeführt. Diese arbeitet ähnlich der deutschen Corona Warn-App mit Bluetooth- und GPS-Daten. Sie wurde bis September 2020 bereits 22,5 Millionen Mal heruntergeladen.
Die gesellschaftliche Akzeptanz der Freigabe persönlicher Daten zum Wohl der Gesellschaft ist in Vietnam relativ groß. Gleichwohl gibt es auch Bedenken. Nach Aussage eines vietnamesischen IT-Sicherheitsingenieurs kann die App auch ohne Einverständnis der Nutzer*innen auf deren Benutzerdaten zugreifen. Ebenfalls kritisch zu sehen ist die herkömmliche analoge Kontaktpersonennachverfolgung. Medien zufolge nutzen vietnamesische Tracer nicht nur die Informationen, die die Personen ihnen freiwillig geben, sondern gleichen diese zusätzlich mit deren Facebook- oder Instagram-Posts ab.
Quarantäne und Isolation
Am 3. Februar 2020 führte Vietnam die Quarantänepflicht für Einreisende aus der chinesischen Provinz Hubei ein. Am 12. März 2020 wurde sie auf alle Einreisenden erweitert. Bald mussten alle Menschen mit Covid-19-ähnlichen Symptomen sowie alle Erstkontakte in zentrale Quarantäneeinrichtungen. Dieses System hat sich als sehr effektiv erwiesen. Seit Beginn des Ausbruchs mussten (Stand: 01/21) insgesamt 10.409.779 Menschen in Quarantäne, 4.447.859 davon in zentralen Einrichtungen.
Kritikwürdig bleibt die Unfreiwilligkeit der Quarantäne. Tausende Menschen wurden zum Aufenthalt gezwungen ─ was gegen sämtliche Freiheitsrechte verstößt. Am 3. April 2020 wurde außerdem die konsequente Isolation Erkrankter verordnet: Mindestdauer 14 Tage und Entlassung erst nach zwei negativen Tests. Alle nachgewiesen Infizierten werden in Krankenhäusern medizinisch überwacht. Zweit- und Drittkontakte dürfen je nach Situation entweder die Quarantäne zu Hause verbringen oder müssen sich in eine Quarantäneeinrichtung begeben.
Offensichtlich ist also in Vietnam alles dafür getan worden, die Kontakte zu reduzieren. Die Grenzen wurden abgeriegelt, Einreisende in Quarantäne-Einrichtungen geschickt, alle Erkrankten isoliert und sämtliche Kontakte (F1, F2, F3 & F4) ermittelt. Dies funktionierte allerdings nur durch die Einschränkung von Freiheitsrechten.
Laut einer Studie unterstützten im April 2020 89% der befragten Vietnames*innen die Kontakt reduzierenden Beschlüsse der Regierung. Wie ist diese hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen zu erklären? Ein wichtiger Grund liegt sicherlich im ganzheitlichen Ansatz der Regierung zur Virusbekämpfung, was weitere Verunsicherungen in der Bevölkerung vermied. Außerdem waren die Umsetzung und Kontrolle aller Maßnahmen konsequent. Und schließlich ist entschieden gegen die Nichtbeachtung der Regeln sowie gegen öffentliche Opposition vorgegangen worden. Beispielsweise wurde von massiver Zensur berichtet, insbesondere in den Sozialen Medien. Kritik an Regierungsmaßnahmen konnte als Kritik an der Regierung selbst verstanden werden und somit unter anderem auf Berufung des Dekrets 15 (z.B. Teilen von Informationen, welche dem nationalen Interesse widersprechen) bestraft.
Gesellschaftsbewusstsein und Kollektivismus
Ein weiterer Grund für die gesellschaftliche Akzeptanz in Vietnam kann am stark ausgeprägten gemeinwohlorientierten Denken liegen. An dieses Bewusstsein (vn.: ý thức) wird stets appelliert. In kollektivistischen Gesellschaften sind Menschen eher bereit, ihre individuellen Freiheiten für das Wohl aller zu opfern. China-Korrespondentin Lea Deuber wehrt sich gegen die oft gehörte Behauptung, die asiatische Solidarität beruhe auf einer Art ‚Untertanen-Mentalität’. Vielmehr seien die Maßnahmen einfach nicht so politisiert worden wie hierzulande. Die Menschen fühlten sich durch ihren Staat geschützt. Doch neben Solidarität und Kollektivismus mögen auch bestimmte Ängste eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.
Dies zeigt sich beispielsweise an dem großen Einfluss eines BBC-Artikels, der am 30. Januar 2020 in den vietnamesischen sozialen Medien verbreitet worden ist. Darin stellte der Tropenmediziner Dr. Hoàng Kim Phúc Ideen vor, die Vietnam beim Umgang mit Covid-19 helfen könnten. Schon der Titel Vietnam braucht ein Quarantänemodell, damit die Gesundheitsversorgung im Falle eines Ausbruchs der Epidemie nicht zusammenbricht wirkt erschreckend, da die Möglichkeit eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems direkt angesprochen wurde. Unter anderem schlug er vor, beim Auftreten eines Ansteckungsfalles die örtlichen Schulen zu schließen und diese aufgrund ihrer guten Luftzirkulation stattdessen als Quarantäne-Einrichtungen zu nutzen.
Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in Vietnam ist relativ gering, stattdessen glauben viele Vietnames*innen an Selbstmedikation. Dies liegt unter anderem an einigen bestehenden Problemen in der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Gründe hierfür könnten unter anderem die relativ geringen staatlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem (9,3 % der vietnamesischen Staatsausgaben) sein.
Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem staatlichen Gesundheitssystem ist groß. Angesichts begrenzter Ressourcen sind sich die Menschen bewusst, dass jede*r Einzelne beim Kampf gegen das Virus einen aktiven Beitrag leisten muss. Die Hanoier*innen wussten um die mangelhafte Ausstattung ihrer Krankenhäuser, über die nur 300 Beatmungsgeräte in der Millionenstadt, welche das medizinische Personal bei einem größeren Covid-19-Ausbruch vor enorme Schwierigkeiten (inklusive Priorisierungs-Entscheidungen) stellen würde.
Angst und Kontrolle
Neben der Angst vor Ansteckung und Erkrankung riskiert man in Vietnam, beim Auftreten von Covid-19-Symptomen gemeldet zu werden. Aufrufe zur Denunziation seien augenfälliger Teil des Kampfs gegen die Verbreitung des Virus, berichtet der Soziologe Lê Trọng Phương (Persönliches Gespräch, 14.9.2020). Im Bewusstsein der Überwachung durch die Sicherheitsorgane ist die Bevölkerung zur Vorsicht angehalten. Durch den Kollektivismus, der die Zurückstellung eigener Bedürfnisse zum Wohle der Gemeinschaft fordert, kann eine Ansteckung für ein Individuum zu öffentlicher Anprangerung führen. Manche an Covid-19 Erkrankten wurden sogar derart gestalkt, dass sie sich öffentlich entschuldigten mussten.
Nicht nur der Solidaritätsgedanke trug zur gesellschaftlichen Akzeptanz der politischen Maßnahmen bei, sondern auch die diversen Ängste der Menschen: vor Ansteckung, vor Krankenhausaufenthalt, vor öffentlicher Anprangerung, vor Repressionen (z.B. die Bestrafung von Social-Media-Posts zu Covid-19), vor Überwachung oder dem Aufenthalt in einer Quarantäne-Einrichtung.
Fazit & Ausblick
Einige Asienwissenschaftler sehen Europas Umgang mit Covid-19 als gescheitert an, unter anderem aufgrund eines „Habitus der Überlegenheit“ gegenüber asiatischen Ländern, die kompetentes Krisenmanagement bewiesen. Deshalb liege Europas einzige Hoffnung nun in der raschen Impfung der Bevölkerung. Vietnam hingegen hat dank seines kompetenten Krisenmanagements einen relativ glimpflichen Verlauf der Covid-19-Pandemie erfahren. Die Gründe hierfür sind seine Pandemieerfahrung (die SARS-Pandemie 2003, die H5N1-Vogelgrippe 2004 und die H1N1-Schweinegrippe 2009) insbesondere in den Krankenhäusern, die verhältnismäßig junge Bevölkerung sowie die frühe Hospitalisierung Erkrankter.
Aufgrund der geografischen Nähe zu China ergriff Vietnam außerdem bereits Abwehrmaßnahmen, als man sich hierzulande noch in sicherer Entfernung wog. Gleichwohl haben einige der durchgesetzten Maßnahmen stark in die Menschenrechte eingegriffen. Unklar bleibt, wie lange Vietnam seine Grenzen geschlossen halten kann. Was wird passieren, wenn Vietnam wieder seine Grenzen für den Tourismus öffnet? Daher ist man auch hier bestrebt, die Bevölkerung zu impfen, weshalb an einem eigenen Impfstoff geforscht wurde. Die Regierung bestellte zudem im Januar 2021 30 Millionen Impfstoffdosen von AstraZeneca. Interessant wird außerdem sein, ob die vietnamesische Regierung eine Impfpflicht einführen wird. Solch eine Impfpflicht gibt es bereits für zehn Krankheiten wie Hepatitis B oder Diphterie.