Myanmar: Das Militär behauptet sich an der Macht, wird aber zunehmend von ethnischen bewaffneten Gruppen unter Druck gesetzt. Fragen nach Staatsbürgerschaft und Verfassungswesen für eine Zeit ’nach der Junta‘ werden gestellt.
südostasien: Wie beurteilen Sie den derzeitigen Machtkampf in Myanmar?
Mikael Gravers ist emeritierter außerordentlicher Professor für Anthropologie der Universität Aarhus, Dänemark. Seit 1970 führt er Feldforschung in Thailand und Burma durch. Seine Forschung umfasst buddhistische und christliche Karen-Gemeinschaften, buddhistische Klöster und Mönche sowie hinduistische und muslimische Gemeinschaften. Er publiziert zu Ethnizität, Nationalismus, Buddhismus und Politik sowie über Natur, Kultur und Umweltschutz. Er ist Mitglied des Vorstands des Journal of Burma Studies.
Mikael Gravers: Bis Oktober 2023 hatte die Armee die Oberhand, aber seit dem Beginn der Gegenoffensive verliert sie viele Stützpunkte. Viele Truppen desertieren. Dennoch halte ich es für verfrüht, den Zusammenbruch des Militärregimes vorherzusagen. Sie werden bis zum Ende kämpfen, denn für sie geht es ums Überleben. Der Widerstand ist komplex. Es gibt bewaffnete ethnische Organisationen und etwa 200 Gruppen der Volksverteidigungskräfte [bewaffneter Arm der Widerstandsbewegung, Peoples Defence Force, PDF, d.R.].
Das Militär hat ein ruhendes Wehrpflichtgesetz wiederbelebt. Für Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren und Frauen im Alter von 18 bis 27 Jahren bedeutet das zwei Jahre Wehrpflicht – oder Gefängnis. Der Hintergrund sind die zahlreichen Verluste der Armee. Nach Schätzungen der Regierung der Nationalen Einheit [National Unity Government (NUG), von Aktivist*innen und Politiker*innen der vom Militärregime verfolgten National League for Democracy (NLD) gegründete Exilregierung, d.R.] wurden rund 20.000 Menschen getötet. Die Wehrpflicht hat zu einem Ansturm auf Visa für das Ausland geführt. Das Militär zwingt nun junge Männer, sich zu melden. Das wird wahrscheinlich dazu führen, dass viele untertauchen oder zu den Volksverteidigungskräften gehen werden.
In Rakhine kontrolliert die Arakan-Armee den nördlichen Teil und greift Sittwe, die wichtigste Stadt, an. In Karenni hat der Widerstand die Kontrolle erlangt, und in Shan hat die Ta-ang National Liberation Army eine gewisse Kontrolle im Norden. Im Karen-Staat hat die Karen Border Guard Force (etwa 7000 Mann) die Unterstützung des Militärs eingestellt und lehnt dessen Sold und Versorgung ab. Inzwischen greifen die Kräfte der Karen National Union Militärposten entlang der Grenze zu Thailand an und räumen sie.
Gleichzeitig will Min Aung Hlaing „Mehrparteienwahlen“ abhalten. Er ignoriert, dass der Wert des Kyat stark gesunken und der Preis für Reis um 160 Prozent gestiegen ist. Er und die Militärelite leben in einer Parallelwelt in der befestigten Hauptstadt Naypyitaw. Sie ignorieren auch die Tötung von Zivilist*innen durch die Armee und die mehr als drei Millionen Binnenvertriebenen.
Gerüchten zufolge kommen die Waffen für den Widerstand aus China, obwohl das Land offiziell das Militär unterstützt. Aber China ist sehr unglücklich über die Situation und will seine Öl- und Gasvorkommen, seine Investitionen in den Shan-Staaten und anderen Orten sowie Minen und Straßen sichern.
Damit verweisen sie bereits auf die wirtschaftlichen Hintergründe des Konflikts…
Vor dem demokratischen Übergang gründete das Militär zwei Unternehmensholdings, die die Wirtschaft kontrollierten. Um eine Lizenz für die Einfuhr von Autos, Telefonen und anderen Gütern zu erhalten, musste man sich an diese Gesellschaften und damit an das Militär wenden. Das Regime steht dennoch kurz vor dem Bankrott. Es fehlt an Treibstoff und Devisen, niemand zahlt mehr Steuern. Das Netzwerk aus Soldaten und Milizen, aber auch Kumpanen, Geschäftsleuten und Mönchen, erhält keine großen Spenden mehr. Es ist also nicht nur das Schlachtfeld, es ist auch die soziale und wirtschaftliche Zerrüttung des Landes, die die Militärherrschaft herausfordert. Min Aung Hlaing stellt unrealistische Forderungen nach Produktionssteigerungen, zum Beispiel bei Baumwolle und Bekleidung, obwohl es an Treibstoff, Strom und Geld mangelt.
Wie können demokratische Perspektiven durch externe Akteure beeinflusst werden?
Min Aung Hlaing ist sehr zufrieden mit Putin und ist ziemlich anti-chinesisch. Er versucht, ein Gleichgewicht zwischen Russland und China herzustellen. Was die Waffen angeht, so werden die meisten von Russland geliefert, zum Beispiel Flugzeuge. Aber es bleibt abzuwarten, wie viel Russland wegen seines Krieges gegen die Ukraine liefern kann.
Die internationale Gemeinschaft, vor allem die USA und die EU, sollten den Widerstand unterstützen. Aber das Problem ist die Lieferung von militärischer Ausrüstung. Humanitäre Hilfe ist wichtig. Aber ich denke, dass es wahrscheinlich besser ist, Spenden zu machen, von denen der Widerstand Waffen in Thailand und China oder wo auch immer sie sie bekommen können, kaufen kann. Ich denke, es ist besser, die NUG-Regierung und ihren PDF-Widerstand anzuerkennen, indem man direkten Kontakt aufnimmt.
Die Verflechtung von Militär und Staat ist aber doch viel älter und weitreichender…
Das Militär bildet eine Art Parallelgesellschaft in Myanmar, einen Staat im Staat. Man kann es in der Verfassung nachlesen, die die Nichtauflösung der Nation, die Nichtauflösung der nationalen Solidarität, die Aufrechterhaltung der Souveränität und eine blühende, ‚disziplinierte Demokratie‘ vorsieht. Außerdem sollen die Streitkräfte in die Lage versetzt werden, sich an der nationalen Politik zu beteiligen, was Parteipolitik impliziert. Die Militärs sind demnach die ‚Hüter der Nation‘ und sollten diese übergeordnete Rolle einnehmen. Ihrer Ansicht nach sind politische Parteien instabil.
Wie wirkt sich das auf die zivile Bevölkerung aus?
Die Bevölkerung hat das Militär als ‚Wächter‘ zu unterstützen. Wann immer einer Armeeeinheit der Reis ausgeht, fordern sie ihn von der Zivilbevölkerung oder nehmen ihn sich einfach. Wenn sie ein Stück Land haben wollen, nehmen sie es sich. Andererseits bot das Militär für viele Menschen einen guten Karriereweg. Wenn man zum Militär ging, hatte man Zugang zu Bestechungsgeldern und einem großen Netzwerk.
Auch Aung San Suu Kyi hat den Einfluss des Militärs bis zu einem gewissen Grad akzeptiert und versucht, sich um diesen herum zu manövrieren. Aber das hatte immer seine Grenzen. Zum Beispiel ist die Reform des Justizsystems völlig gescheitert. Das Staatsbürgerschaftsgesetz wurde nie geändert. Wann putschten die Militärs? Sobald sie merkten, dass sie an Einfluss auf die Verwaltung, die Wirtschaft und den Friedensprozess mit den ethnischen Gruppen verlieren.
Hat Suu Kyis Nationale Liga für Demokratie (NLD) in der Zeit ihrer Machtausübung Demokratie gefördert?
Die NLD-Regierung unter Aung San Suu Kyi versuchte, demokratisch zu sein und die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Aber die Art und Weise, wie Suu Kyi die Partei führte, war ‚von oben nach unten‘. Jeder Minister, jeder Posten im Stab musste über sie laufen. Loyalität war oft wichtiger als Qualifikation und Erfahrung. Die Generation der Studentenrebellen von 1988 und 1996 wurde nicht in ihre Regierung aufgenommen.
In Myanmar beruht die Macht im Allgemeinen auf den Fähigkeiten und dem Charisma einer Person. Macht, Status und Einfluss beruhen auf dem Karma einer Person. Dies sind traditionelle Konzepte, die aber von der langjährigen Militärherrschaft auf Grundlage von Befehlen innerhalb einer Hierarchie geprägt sind. Die junge Generation hat andere Erfahrungen und Meinungen dazu. Ihre zivile Ungehorsams-Bewegung hat sich ‚von unten‘ organisiert und erwartet, dass ihre Stimmen gehört werden.
Sie haben Traditionen erwähnt. Welche Rolle spielt die Religion bei der Wahrnehmung der Demokratie?
In der Wahrnehmung von Aung San Suu Kyi und der Mönche der Safran-Revolution von 2007 gelten liebende Güte, Mitgefühl und buddhistische Ethik für Alle. Aung San Suu Kyi und die aktivistischen Mönche verwiesen auf die zehn Regeln für einen rechtschaffenen buddhistischen Herrscher, zum Beispiel, das Eigentum Aller zu schützen, nichts zu beschädigen, die Moral aufrechtzuerhalten sowie Freundlichkeit und Gewaltlosigkeit zu zeigen. Fragt man jedoch die nationalistischen Mönche, so werden Gewaltlosigkeit und liebevolle Güte nicht auf Muslime ausgedehnt, weil sie als Anti-Buddhisten angesehen werden. Die nationalistischen Mönche sagen, die Muslime respektierten ihre Kultur, ihre Flagge und den Buddhismus nicht. Religion wurde 2012 zu einem wichtigen politischen Thema, nachdem das Militär und Präsident Thein Sein Ma Ba Tha (die Vereinigung zum Schutz von Rasse und Religion) unterstützt hatten.
Der Vorschlag für die NUG-Verfassung einer demokratischen föderalen Union ist säkular verfasst, so dass Politik und Religion getrennt sind. Geschlechtergleichheit, gleiche Rechte und Selbstbestimmung für alle ethnischen Nationalitäten sind vorgesehen. Dies ist ein wichtig: Ethnische Nationalitäten, nicht Minderheiten. Sie würden das Staatsbürgerschaftsgesetz ändern und alle ethnischen Gruppen, die während der Kolonialzeit nach Myanmar kamen, einbeziehen, wenn sie in Myanmar geboren sind.
Diese Ansicht ist natürlich umstritten, da einige Vertreter in Rakhine zum Beispiel erklärt haben, dass sie die Rohingya nicht akzeptieren werden. Aber die Verfassung wird im wahrsten Sinne des Wortes föderal sein. Das heißt, es gibt eine Unionsarmee und jeder Bundesstaat hat seine eigene Armee und eigene Polizeikräfte. Die Ressourcen und das Land sollen von den Menschen verwaltet werden, die in dem jeweiligen Staat leben.
Die Änderung der Religions- und Staatsbürgerschaftsgesetze wird die komplizierteste Reform für die revolutionäre Bewegung sein. Sie könnte auf den Widerstand des konservativeren Teils der Gesellschaft stoßen. So wird eine föderale Verfassung sehr umstritten sein, wenn man an die fortbestehende Dominanz der Bamar denkt. Aber auch dann, wenn Splitterparteien ethnische Interessen in den Vordergrund stellen, wird es sehr schwierig sein, mit dieser komplexen Verfassung umzugehen.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen von: Simon Kaack