
Fassade der zunehmend verfallenden Plattenbau-Siedlung mit der Aufschrift: „Demokratie fördern, Disziplin einhalten, Liebe bewahren und Verantwortung stärken“. © Trung Ha, alle Rechte vorbehalten
Vietnam: In westlichen Reiseführern gilt Vinh als „hässlichste Stadt Vietnams“. Idee und Baumaterial lieferte die DDR.
Vor 50 Jahren endete der Krieg in Vietnam. Als die US-Armee sich im April 1975 aus der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon zurückzog, hinterließ sie ein verwüstetes Land. Besonders verheerend waren die Ausmaße der Zerstörung in der Hafenstadt Vinh. Wo sich Eisenbahnlinien und Nationalstraßen mit Transportrouten des geheimen Hô-Chí-Minh-Pfades kreuzten, hatte sich einst die logistische Schaltzentrale Nordvietnams befunden. Begraben unter Trümmern war die Infrastruktur nun restlos lahmgelegt.
„Es gibt schreckliche Bilder von dem zerstörten Minsk und Stalingrad, den Ruinenfeldern von Coventry und Dresden. Hier in Vinh gab es nicht einmal Ruinen“, schilderte Bauingenieur Gerhard Kosel aus der DDR seine Eindrücke vor Ort. „Vor dem Auge dehnte sich eine mit zahllosen Bombentrichtern wie mit Blattern übersäte und ausgebrannte Mondlandschaft“ („Vinh: Report über eine vietnamesische Heldenstadt“, Ag 231/56/74, Berlin 1974). Kosel war mit einer Regierungsdelegation aus Ost-Berlin im Juli 1973 nach Vietnam gereist. Ihre Mission: Vinh wiederaufzubauen.
Honecker schickte Geld und Freiwillige
Nach dem Abzug der USA ruhten die Hoffnungen der Nordvietnamesen auf der Hilfe aus den sozialistischen Bruderländern. Neben der mächtigen Sowjetunion kam der DDR dabei eine Sonderrolle zu. Durch die Rekonstruktion des zerbombten Dresdens und die Deutsche Arbeitsgruppe Hamhŭng, die schon in den 1950er Jahren in Nordkorea ein prestigeträchtiges Aufbauprojekt umgesetzt hatte, galten ostdeutsche Architekten und Ingenieure als technisch versiert und praxiserprobt im Wiederaufbau. Frei nach dem Topos ihrer Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“ und als Fortsetzung der Vietnam-Unterstützung „Solidarität hilft siegen!“ entsandte Staatschef Erich Honecker helfende Hände aus der DDR.

Für die DDR war der Wiederaufbau des sozialistischen Vietnam moralische Verpflichtung und Profilierungschance zugleich. Das Bild zeigt einen Planungsentwurf für die Modellstadt von Vinh. © Bundesarchiv
Für die DDR war der Wiederaufbau des sozialistischen Vietnam moralische Verpflichtung und Profilierungschance zugleich. Auf internationalem Parkett konnte Ost-Berlin als eigenständiger Staat bislang nicht mit dem Klassenfeind aus Westdeutschland konkurrieren. Während die BRD im Vietnamkrieg bündnistreu als größter Geldgeber auf Seiten der US-amerikanischen Zerstörer gestanden hatte, bot sich für die DDR nun Gelegenheit, mit großer Symbolkraft einen konstruktiven Beitrag des Aufbaus zu leisten.
‚Internationale Solidarität‘ in Theorie und Praxis
Nachdem ostdeutsche Architekten unter der Leitung von Gerhard Kosel und Hans Grotewohl grünes Licht für die Projektierung gegeben hatten, schlossen die DDR und Vietnam am 23. Oktober 1973 das Abkommen über die Hilfe beim Wiederaufbau und der Projektierung der Stadt Vinh. So gelangten unter der sozialistischen Maxime der ‚internationalen Solidarität‘ zwischen 1974 und 1980 mehr als 200 Expert:innen aus der DDR in das außenpolitisch vollkommen abgeschottete Vietnam. Wie wenig die ‚internationale Solidarität‘ in der Lebenswirklichkeit verankert war, zeigt hingegen die strenge Segregation, der Vertragsarbeitende aus Vietnam später in der DDR unterworfen wurden.
Für Premierminister Phạm Văn Đông hatte der Wiederaufbau Nordvietnams auch eine symbolische Implikation. Während sich die Sowjetunion vor allem in der Hauptstadt Hanoi engagierte, wünschte er von den „Kindern von Karl Marx“ aus der DDR einen Einsatz in der Provinz Nghệ An – wo nur unweit von Vinh der Geburtsort des Revolutionärs und vietnamesischen Landesvaters Hô-Chí-Minh lag. Durch ihre eigene Teilungsgeschichte im Kalten Krieg hatte die DDR ohnehin schon eine starke Verbindung zu Nordvietnam entwickelt.
Kolonialismus architektonisch überwinden
Streng nach den Prinzipien des Funktionalismus entwarfen die Architekten am Reißbrett eine hybride Phantasiestadt mit einer tropischen Palmenallee und dem brutalistischen Wohnkomplex Quang Trung im Zentrum.

Bau der Wohnanlage von Quang Trung in den 1970er Jahren. © Gerd Gottschalk, alle Rechte vorbehalten
Zuvor waren die Stadtbilder Vietnams gekennzeichnet von der Fremdbestimmung kolonialer Architektur, die sich mit organischem Siedlungsbau vermischte. Nun sollte eine von den ‚Bruderländern‘ auf Augenhöhe geplante Modellstadt entstehen. Vietnamesische Ingenieure, die an Universitäten in der Sowjetunion oder in der Bauhaus-Stadt Weimar ausgebildet worden waren, tüftelten deshalb stets mit. „Ein neues, schöneres, ein sozialistisches Vinh zu bauen“, lautete die utopische Vision, die Vietnam-Korrespondent Knut-Rainer Barthel den Bürgern in der heimischen DDR 1977 in der Berliner Zeitung beschrieb (Barthel, Knut-Rainer: „Vinh wächst jetzt wieder“. Berliner Zeitung, 13./14. August 1977)
Zweiundsechzig Mal begaben sich Frachtschiffe von Rostock aus auf den Seeweg, um für das Vorhaben 41.500 Tonnen Baumaterial, Krane und Fahrzeuge in den Hafen von Vinh zu transportieren. Vor Ort musste zunächst eine Zementfabrik, eine Ziegelei und ein eigenes Wasserwerk zur unabhängigen Energieversorgung.
Vorbild Halle-Neustadt
Vorbildcharakter für das technische Prinzip des Plattenbaus aus Betonfertigteilen fand der Komplex in der DDR-Planstadt Halle-Neustadt, die 1964 gegründet worden war. Durch die neue Bautechnik – auch im Hinblick der Nachhaltigkeit – stieg Vinh auf zur modernsten Stadt des Landes. Mit viel Tageslicht und einer entsprechend der Windbewegung ausgerichteten Belüftung waren die Apartments ein Musterbeispiel für klimagerechtes Wohnen. Für seine postkolonialistische Architektur erhielt Vinh landesweite Anerkennung. „Schon heute“, sagte Erich Honecker mit Blick auf die anwachsende Stadt im Dezember 1977 verheißungsvoll, „vermag man sich das blühende und starke sozialistische Vietnam von morgen vorzustellen.“

Die Wohnanlage nach damals neuester Bautechnik kurz nach ihrer Fertigstellung Anfang der 80er Jahre. © Bundesarchiv
Die Wohnungen in den Plattenbauten von Quang Trung waren nach ihrer Fertigstellung Anfang der 1980er Jahre begehrt. Sie galten als Vorgeschmack für moderne Lebensart im Sozialismus. Mit der Unterstützung aus der DDR konnten 1.650 neue Wohnungen für 8.360 Bewohner gebaut werden. „Wer heute in das neu entstehende Vinh kommt, sieht im Zentrum eine leuchtend helle Fassadenfront neuer Wohnhäuser. Auf dem Dachfirst eines Blockes flattern zum Richtfest die Fahnen der DRV und der DDR im Winde“, berichtet Vietnam-Korrespondent Barthel mit Stolz über die Aufbruchstimmung (Ag 231/56/74, Berlin 1974 ebd.)
Zerfall einer gescheiterten Zukunftsvision
Zunächst war der neue Wohnkomfort privilegierten Bewohnern und deren Familien vorbehalten, die als Kader der kommunistischen Partei besondere Beiträge zum Aufbau der vietnamesischen Nation geleistet hatten. Heute hingegen, stehen die baufälligen Betonquader für Zerfall und eine gescheiterte Zukunftsvision.
Während sich einige ältere Bewohner noch für den Erhalt eines Teils der Plattenbauten stark machen, den sie als kulturelles Erbe der Wiederaufbauleistung nach dem Krieg und als Andenken an die besondere vietnamesisch-deutsche Freundschaft bewahren möchten, haben Abrissbagger schon erste Abschnitte dem Erdboden gleichgemacht. Sie schaffen Platz für neue Wohnflächen. Der frühere Bewohner Hoàng Nguyễn sieht das pragmatisch: „In ein paar Jahrzehnten würde es ohnehin zusammenbrechen.“

Die einstige Vorzeige-Siedlung von Quang Trung war 2018, als diese Bilder entstanden, zum Teil noch bewohnt… © Vuong Hai, alle Rechte vorbehalten

…während andere Teile bereits von Abrissbaggern dem Erdboden gleichgemacht wurden. © Vuong Hai, alle Rechte vorbehalten
Im übertragenen Sinne spiegelt das architektonische Relikt somit auch den Zusammenbruch der DDR wider, die – ebenso wie viele ihrer Plattenbauten – den Wandel der Zeit nicht überdauert hat.