1 | 2019

Vom Schlag des Schmetterlings

Ausschnitt Buchcover: Patrick Deville: Kampuchea © Unionsverlag

„Kampuchea“ von Patrick Deville ist kein Reisebericht, keine Reportage und kein Geschichtsbuch. Im rasanten Zickzack bewegt sich der Roman kaleidoskopisch zwischen starken Naturbildern, beklemmenden Schilderungen der Verbrechen der Roten Khmer und zwischenmenschlichen Begegnungen, in denen Fragen von Identität und Herkunft verhandelt werden.

Wir befinden uns im Jahre 159 nach Henri Mouhot. Zumindest wenn man dem französischen Schriftsteller Patrick Deville folgt. Im Jahre 1860 stößt sich der französische Forscher und Universalgelehrte Mouhot bei einer Schmetterlingsjagd im kambodschanischen Dschungel den Kopf. Er blickt auf und steht erstaunt vor den vergessenen Tempelanlagen von Angkor Wat – seitdem ist alles anders in „Kampuchea“. In seinem gleichnamigen Roman zeichnet Deville die eineinhalb Jahrhunderte alte und verworrene Geschichte der ehemaligen französischen Kolonie Indochina (Vietnam, Laos und Kambodscha) nach.

Ebenso verworren und spannend wie die Geschichte ist dabei das Buch. In fünfzig Kurzkapiteln nimmt Deville seine Leser*innen auf eine Reise an verschiedene Orte zu verschiedenen Zeiten mit. Die Namen und Ereignisse prasseln nur so auf einen ein, die Chronologie ist aufgehoben. Bald begleitet man Deville, wie er selbst als Reisender Südostasien besucht und auf Spurensuche geht, bald ist man zusammen mit dem ehemaligen König Kambodschas, Sihanouk, oder begibt sich in den dunkelsten Teil der kambodschanischen Geschichte: der Terrorherrschaft der Roten Khmer von 1975-1979, die ein Viertel der Bevölkerung nicht überleben wird.

Ausschnitt Buchcover: Patrick Deville: Kampuchea © Unionsverlag

Was überfordernd und unstrukturiert klingen mag, ist es nicht. Man wird schnell in einen Sog verwickelt. Die Biographien der Hauptcharaktere werden oft geschickt verbunden, kurze Sätze im Präsens führen zur direkten Teilhabe an allen Ereignissen.

Deville hat keinen Reisebericht, keine Reportage und kein Geschichtsbuch geschrieben und das ist gut so. Im rasanten Zickzack bewegt er sich kaleidoskopisch zwischen starken Naturbildern, beklemmenden Schilderungen der Verbrechen der Roten Khmer im Foltergefängnis S-21 und zwischenmenschlichen Begegnungen, in denen häufig Fragen von Identität und Herkunft verhandelt werden. Dabei ist nicht alles nur schön, es rührt an und wühlt auf, voll von Zuwendung, Melancholie aber auch menschlichen Tragödien.

Gerahmt wird das Buch durch die beiden berühmt-berüchtigten „T‘s“ der kambodschanischen Geschichte: Tempel und Trauma. Die Entdeckung der wundervollen Tempelanlagen von Angkor dient ihm als Startpunkt und der Prozess des Roten-Khmer-Tribunal gegen ehemalige Führungskräfte der Khmer Rouge beschließt das Buch. Doch Deville, Zaungast beim Prozess, macht deutlich, dass die Geschichte Kambodschas weit mehr ist.

Auf seiner packenden Spurensuche durch die letzten Jahrhunderte greift Deville zwischen Königen, Entdeckern, Generälen und Kommunisten jedoch manchmal ein bisschen kurz. Während er ausführlich und ohne Zweifel als großer Literat die Geschichten der französischen Entdecker Auguste Pavie, Ernest Doudart de Lagrée oder Francis Garnier nachzeichnet, vergisst er jedoch häufig, dass Geschichte nicht von großen (europäischen) Männern gemacht wird. In seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ geht Bertolt Brecht bereits diesem Thema nach und stellt die ironischen Fragen: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ Deville scheint sich dieser Gefahr durchaus bewusst, da er selbst davon schreibt, dass häufig „nichts über die vielen Völker“ der Region gesagt werde. Komplett eingelöst wird dies durch das Buch jedoch nicht.

Auch wenn das Buch bereits 2010 erschienen ist, behält es auch im Jahr 2019 seine Aktualität. Devilles historische Streifzüge und Verquickungen sind auch knapp zehn Jahre nach Erstveröffentlichung noch lesenswert und lehrreich. „Kampuchea“ wurde vom Magazin Lire zum besten französischen Roman 2011 gewählt, nun hat der Unionsverlag die deutsche Übersetzung besorgt. Man wünscht dem Buch zahlreiche Leser*innen.

 

Patrick Deville: Kampuchea. Unionsverlag, Zürich. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 288 Seiten, 12,95 €.

  • Artikel
Der Autor
Christopher Wimmer ist Sozialwissenschaftler und freier Autor. Er promoviert in Berlin zum Klassenbewusstsein der marginalisierten Klasse in Deutschland und publiziert regelmäßig in den Bereichen Digitalisierung, Südostasien sowie gesellschaftliche Zukunftsfragen.
  • Vietnam – Land der vielen Mythen

    Vietnam – Der heroische Kampf des vietnamesischen Volkes für seine Unabhängigkeit ist ein oft bedienter Mythos und einer von vielen über das Land. Der Sammelband „Vietnam. Mythen und Wirklichkeiten“ erläutert, welche Funktion diese Mythen erfüllen. Allerdings bleiben die Beiträge zu sehr in der Betrachtung dieser Funktionen stecken.

  • Von wegen Steinzeit

    Kambodscha – Daniel Bultmann beschreibt in seinem Buch „Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten“ die Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha als Ausdruck der Moderne und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum historischen Verständnis des Schreckensregimes.

  • Vom Schlag des Schmetterlings

    Kambodscha – „Kampuchea“ von Patrick Deville ist kein Reisebericht, keine Reportage und kein Geschichtsbuch. Im rasanten Zickzack bewegt sich der Roman kaleidoskopisch zwischen starken Naturbildern, beklemmenden Schilderungen der Verbrechen der Roten Khmer und zwischenmenschlichen Begegnungen, in denen Fragen von Identität und Herkunft verhandelt werden.

  • Kamele und Kapitalismus

    Rezension zu: Uwe Hoering: Der Lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell. In Kooperation mit der Stiftung Asienhaus.

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Christopher Wimmer

Christopher Wimmer ist Sozialwissenschaftler und freier Autor. Er promoviert in Berlin zum Klassenbewusstsein der marginalisierten Klasse in Deutschland und publiziert regelmäßig in den Bereichen Digitalisierung, Südostasien sowie gesellschaftliche Zukunftsfragen.

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Tags: Khmer Rouge

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