Timor-Leste – Während der Besatzungszeit (1975 – 1999) wurden Frauen vom indonesischen Militär inhaftiert, vergewaltigt oder gezwungen, Soldaten „zu heiraten“. Betroffene von sexualisierter Gewalt und deren Kinder erfahren in der Gesellschaft damals wie heute Ausgrenzung. Armut bestimmt ihr Leben.
Mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung hatte Osttimors Wahrheitskommission(Commissão de Acolhimento, Verdade e Reconciliação de Timor-Leste, CAVR) im Januar 2002 ihre Arbeit aufgenommen. Sie untersuchte die während der indonesischen Besatzungszeit (1975 – 1999) verübten Menschenrechtsverletzungen, gab den Opfern eine Stimme und führte auf Gemeindeebene Versöhnungsprozesse durch. Mit dem Abschlussbericht „Chega!“ (port. „Genug!“) sprach sie Empfehlungen aus, die zu Gerechtigkeit und Anerkennung beitragen sollten.
Frauen erhielten dort erstmalig den Raum, aus der Anonymität herauszutreten und die erlittenen Gräueltaten in die gesellschaftliche Wahrnehmung zu bringen. Dieser Schritt erforderte sehr viel Mut. Die bisher erlebten Schmähungen, Ausgrenzungen und Erniedrigungen in ihren Dörfern ließen sie befürchten, diese nun auch auf breiter Ebene zu erfahren. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, wiesen Familien den Frauen die Verantwortung und Schuld für das erfahrene Unrecht zu; sie hätten, so der Vorwurf, Schande über die Familie gebracht. Mit einer öffentlichen Aussage brüskierten die Frauen auch ihre Sippe.
Der Film Beatriz von der lokalen Organisation Asosiasaun Chega! Ba ita (ACbit) dokumentiert eindrücklich die Situation dieser Frauen. Er beginnt mit Beatriz Mirandas bewegender Geschichte, die sie bei der Anhörung der Wahrheitskommission zu Gewalt gegen Frauen 2003 in die Öffentlichkeit trug.
Beatriz Miranda ist eine Überlebende wie hunderte andere Frauen auch. Sie lebte 1983 im Ort Kraras, in dem die männliche Bevölkerung massakriert wurde. Ihr Ehemann gilt seitdem als verschwunden. Es gab keine offizielle Untersuchung zum Massaker von Kraras und zur genauen Zahl der Opfer. Es ist eines der berüchtigtsten Verbrechen der indonesischen Besatzung. Als „Dorf der Witwen“ erlangte der Ort traurige Berühmtheit.
In dieser Situation war Beatriz Miranda über einen Zeitraum von zehn Jahren gezwungen, mit drei verschiedenen indonesischen Soldaten zusammenzuleben. Aus diesen Verbindungen hat sie zwei Kinder, mit denen die Soldaten sie nach Ende ihrer Dienstzeit zurückließen. Den Anfang machte ein Soldat der Eliteeinheit Kopassus. Nachdem sie von ihm zusammengeschlagen worden war, rief ihr Schwager nach dem Dorfchef und den Nachbarn. In Anwesenheit des Elitesoldaten sagte ihr die Dorfversammlung, darunter ihre Schwiegereltern, sie möge ihn akzeptieren. Niemand würde über sie spotten. Alle wüssten, dass sie dazu gezwungen worden sei. Sie sagten, so Beatriz Miranda bei ihrer Aussage vor der Kommission: „Wenn du dich widersetzt, werden wir alle sterben. Es ist besser, du verkaufst deine Seele, um unseren Hals zu retten.“
Als sie gezwungen war, mit den nächsten Soldaten zu leben, sagte sie sich: „Also gut, ich teile mich selbst in zwei Hälften. Die untere Hälfte gebe ich ihm, aber die obere Hälfte, die gehört meinem Land, dem Land Osttimor.“ Obwohl die Familie und das Dorf ihr Verständnis zusicherten, wurde schon bald sehr schlecht über sie gesprochen. Sie beschimpften sie als „Armeeweib“ und verdächtigten sie auch als Spionin. Wütend stellte sie sich den Diffamierungen entgegen. Anschließend wagte zwar niemand mehr, sie direkt zu beschimpfen, doch die Ausgrenzung von ihr und ihren Kindern blieb bestehen.
Beatriz Miranda steht beispielhaft für das Schicksal vieler Frauen, die sexualisierte Gewalt und deren Folgen erleben mussten. Neben den physischen Verletzungen und psychischen Leiden, mit denen die Frauen gänzlich allein gelassen wurden, sahen sie sich oftmals zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Ihre Ehemänner wendeten sich von ihnen ab, insbesondere, wenn die Frauen als Ergebnis dieser sexualisierten Gewalt Kinder gebaren. Familien wiesen sie zurück. Viele der Opfer waren gezwungen, weiterhin als ‘Sexsklavin’ zu dienen, um für sich und ihre Kinder sorgen zu können. Versuchte Abtreibungen kosteten viele Frauen das Leben.
Ihre machtlose, untergeordnete Rolle in der Gesellschaft Osttimors ließ die Frauen in einen Kreislauf anhaltender Verletzung geraten. Ihnen wurde nicht nur von indonesischen Soldaten Gewalt angetan, sondern auch von osttimoresischen Männern. Dazu gehören Milizen und Mitglieder im Sicherheitsapparat der Indonesier ebenso wie Kämpfer der Forças Armadas de Libertação Nacional de Timor-Leste (FALINTIL), der militärischen Front des Widerstands, und Parteiangehörige von FRETILIN (Frente Revolucionária de Timor-Leste Independente) und UDT (União Democrática Timorense) während ihrer bewaffneten Auseinandersetzung 1975.
Frauen wurden von ihrer eigenen Gesellschaft und vielerorts auch von der örtlichen Kirche ausgegrenzt, die dabei versagten, den Frauen beizustehen. Schlimmer noch, die Gewalttaten wurden tabuisiert. Der Bericht der Wahrheitskommission gab im Kapitel zu „sexueller Gewalt“ auf über 100 Seiten Zeugnis des erlebten Grauens. Die Kommission formulierte Empfehlungen an Regierung, zivilgesellschaftliche und religiöse Organisationen, wie man den Bedürfnissen der Opfer gerecht und Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft gestoppt werden könnte.
Hugo Fernandez, der damalige Leiter der Abteilung für Wahrheitsfindung bei CAVR, sah 2004 eine sehr große Herausforderung in der Umsetzung der Empfehlungen durch die Regierung voraus (Schlicher, 2005, S. 82). Werden die Empfehlungen nicht oder nur ungenügend umgesetzt, kommt dies einer Bagatellisierung der Verbrechen gleich.
„Auf der politischen Ebene hat sich niemand die Mühe gemacht, den Bericht zu lesen und von den Empfehlungen sind nur ca. fünf Prozent umgesetzt“, prangert Hugo Fernandez heute an. Inzwischen leitet er das 2017 eingerichtete Centro Nacional Chega! (CNC), die Nachfolgeinstitution der Wahrheitskommission. „Solidarität mit den Opfern ist eine unserer Aufgaben beim CNC, und es liegt noch ein langer Weg vor uns. Während die Veteran*innen als Held*innen gefeiert werden, bleibt die vergewaltigte Frau, die drei Kinder von drei verschiedenen indonesischen Soldaten hat, ausgegrenzt.“ Und die Strafverfolgung für die Verbrechen während der Besatzungszeit ist längst eingestellt. Weiterhin ist Gewalt gegen Frauen, gesellschaftlich fast selbstverständlich akzeptiert, ein Problem von hoher Relevanz.
2017, während der Produktion des Films, lebt Beatriz Miranda mit ihren Kindern weiterhin in ihrem Dorf. Die Erwartung von damals, dass sich mit ihrer Aussage vor der Wahrheitskommission ihre bedrückende Lebenssituation verändert, hat sich längst zerschlagen. Sie ist arm und das Leben als Witwe bleibt schwer. Ihre Tochter wurde vom Vater ihres Kindes mit der Begründung sitzen gelassen: „Ich werde dich nicht heiraten, denn dein Vater ist ein indonesischer Soldat.“ Beatriz sagt dazu im Film: „Ich bin ein Opfer, meine Tochter ist ebenso ein Opfer geworden. Wir brauchen die Unterstützung der Regierung für die Ausbildung der Kinder.“
Doch sie ist aktiv geblieben. 2015 hat sie die Selbsthilfegruppe Freundschaft unter Witwen gegründet. „Wir müssen nach vorne blicken“, erklärt sie den Mitgliedern, „und das, was in der Vergangenheit war, soll unser Leben nicht mehr bestimmen. Wir müssen den Herausforderungen von heute ohne Angst begegnen.“
Die Frauen unterstützen sich gegenseitig beim Erwerb ihres Lebensunterhalts. Durch das Aussprechen des ‚Unsagbaren’ bewältigen sie Scham und Schuldgefühle und gewinnen wieder an Selbstrespekt. Den Widrigkeiten, mit denen die Gesellschaft ihnen begegnet, stellen sie sich entgegen: Indem sie sich nicht darauf konzentrieren was sie abwertet, sondern auf das, was sie glücklich macht. Dieses Glück geben sie an ihre Kinder weiter. Doch nicht alle Kinder erfahren dieses Glück: Viele Kinder aus den erzwungenen Verbindungen wurden von ihren verzweifelten Müttern aufgegeben.
Beistand erhalten die Gruppen der Witwen durch die lokale Organisation ACbit. Sie unterstützt die Frauen mit Programmen zu Trauma-Heilung. Die 2012 gegründete Organisation setzt sich für die Umsetzung der Empfehlungen der Wahrheitskommissionen ein.
„Der Film Beatriz ist eine Inspiration für uns alle“, berichtet uns Manuela Leong Pereira, Direktorin von ACbit, „und er hat eine sehr starke Wirkung.“ ACbit setzt den Film in der Arbeit mit Gemeinden und Frauen im ganzen Land ein. „Anfänglich sind die Frauen immer sehr zurückhaltend und voller Scham. Der Film ist dann der Türöffner, der sie ermutigt, zu erzählen. Die Frauen staunen vor allem, dass diese schrecklichen Dinge erzählbar sind, erzählt werden dürfen und Beatriz ihre Geschichte schon 2004 öffentlich gemacht hat. Sie sind überrascht und berührt, wie viele von ihnen – ob die Nachbarin im Dorf oder die Frau im entfernten Distrikt – diese Gewalt erfahren mussten.“
Die Geschichten werden erstmals als erfahrenes Unrecht anerkannt und bewegen nun auch die Gemeindemitglieder. Die Frauen erhalten Respekt. „Anfangs“, so Manuela Leong Pereira, „waren Männer empört, dass wir der Frauen wegen zu ihnen in die entferntesten Ecken des Landes kamen und diese und ihre ‘alten’ Geschichten ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellten. Heute kommen die Männer auf uns zu und entschuldigen sich sogar dafür, dass sie früher nicht mit uns sprechen wollten.“ ACbit wird von dem Zuspruch zu ihrem Programm geradezu überrannt.
Auch wird der Film in der Lobbyarbeit gegenüber der Regierung bei Veranstaltungen genutzt. „Einige, vor allem jüngere Mitglieder in der Regierung haben durch diesen Film erstmals die Situation der Frauen, die damals Opfer geworden sind, erfasst. Anderen rufen wir sie wieder in Erinnerung.“
Durch den Film Beatriz wurden viele Menschen erreicht. Die Thematik ist ins Bewusstsein gerückt. Doch noch immer haben viele der Frauen keine staatliche Hilfe erhalten, weiterhin sind sie schutzbedürftig. Zwar gibt es im Ministerium für Soziale Solidarität ein Hilfsprogramm, aber es erreicht die Menschen nicht, vor allem die nicht, die auf dem Land leben. Beatriz und die Frauen in ihrer Gruppe sprechen immer wieder im Ministerium vor, bleiben aber ungehört und ohne Unterstützung.
Bis heute arbeitet Beatriz mit den Witwen und betroffenen Frauen. Sie haben aus eigener Kraft Erfolge mit ihrer Arbeit, sie sind mutiger geworden und haben in der Gemeinde an Respekt gewonnen. Die Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nach wie vor mit großen Herausforderungen konfrontiert werden und Probleme allein auf sich gestellt bewältigen müssen. Einmal mehr ist zu sehen, wie stark und notwendig die Arbeit von Frauen für Frauen ist.
In Timor-Leste haben Frauen über Jahrhunderte hinweg immer wieder Gewalt erfahren. Sie waren am Kampf um die Unabhängigkeit aktiv beteiligt. Dennoch ist ihre Geschichte bislang nur in Bruchstücken niedergeschrieben und in der Gesellschaft wenig sichtbar.
Osttimor / Timor-Leste – Osttimores*innen und internationale Gäste feierten den 20. Jahrestag des Referendums für die Unabhängigkeit und die Mission der Schutztruppe INTERFET. Unter dem Motto ‚20 Jahre in Freiheit’ wurde der Weg zu Frieden, Stabilität und Demokratie gewürdigt.
Maria Tschanz & Monika Schlicher (2017): Blickwechsel: Genug! – Ringen um Anerkennung und Gerechtigkeit in Timor-Leste, Interview mit Manuela Leong Pereira, Direktorin der Organisation ACbit – Asosiasaun Chega! Ba Ita, Stiftung Asienhaus, April 2017.
Osttimor stellt sich seiner Vergangenheit: Die Arbeit der Empfangs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission, von Monika Schlicher, missio, Fachstelle Menschenrechte, Band 25, Aachen 2005, Kapitel: Nationale Anhörungen, Gewalt gegen Frauen in Osttimor.
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