Philippinen: „In the Country“ von Mia Alvar führt die Protagonist*innen von Manila nach Bahrain und New York. Anhand ihrer Schicksale erzählt Alvar, wie Arbeitsmigration und Auswanderung nicht nur das Leben von zahlreichen Filipin@s prägen sondern die gesamte philippinische Gesellschaft.
Während Sally in Bahrain die beeinträchtigte Tochter von Mrs. Mansour betreut, putzt ihre Freundin Minnie das Haus der reichen Dame. Esmeralda macht seit fast zwanzig Jahren in New Yorker Haushalten und Büros sauber. Andoy arbeitet als Chauffeur in Saudi Arabien, während die Krankenschwester Milagros gar nicht daran denkt, die Philippinen zu verlassen. Sie alle kennen einander nicht und dennoch kreisen ihre Geschichten um dasselbe Thema: Auswanderung und Arbeit im Ausland – sei es als Notwendigkeit, um Geld für die Familie zu verdienen, als Erfüllung eines persönlichen Traums oder als Option, die immer wieder die eigenen Gedanken kreuzt.
In den neun Kurzgeschichten von In the Country schlüpft Mia Alvar in verschiedene Figuren und kann so ganz unterschiedliche Erzählperspektiven einnehmen. Damit gibt sie die Vielschichtigkeit der philippinischen Communities im Ausland wieder, zeigt deren Beweggründe, Sorgen und Lebenswelten. Keine Person ist wie die andere, keine Geschichte wiederholt sich. Zwar sind die Protagonist*innen fiktive Figuren. Doch ihre Schicksale lassen sich durchaus im realen Leben finden. Die Autorin kann selbst von einer Migrationsgeschichte erzählen: in Manila geboren, ist sie in Bahrain und New York City aufgewachsen, wo sie heute noch lebt.
Welche philippinische Familie kennt sie nicht, die balikbayans, die Rückkehrer, mit ihren Geschichten und Geschenken aus einer anderen Welt? Balikbayans wie Steve in der Geschichte The Kontrabida, der in New York als Apotheker arbeitet und in Manila seine alternde Mutter und den sterbenden Vater besucht. Schmerzvoll sieht er seiner Mutter dabei zu, wie sie den Vater umsorgt, trotz aller Erniedrigungen, die dieser ihr getan hat. Fast schüchtern bewegt sich Steve im Haus seiner Kindheit. Im Hof, in dem er einst spielte, steht nun ein Sari-Sari-Store, jener typisch philippinische Gemischtwarenladen. Es waren seine Rücküberweisungen, die den Eltern das Geschäft ermöglicht haben. Nun sieht er dabei zu, wie seine Mutter abwechselnd die Kundschaft, den Vater und auch noch ihn bedient. Seinen Verwandten und Freunden erzählt er, was sie hören möchten: Dass er das philippinische Essen vermisse, die Leute und das Land. In seinem Inneren ist er jedoch ein Fremder, der sich in New York mittlerweile mehr Zuhause fühlt als in Manila.
Bahrain hingegen wird für die Protagonist*innen nie zu einem dauerhaften Zuhause. Das Land ist lediglich ein Zwischenstopp auf der Reise in ein weiteres Land, etwa in die USA, oder ein temporärer Arbeitsaufenthalt, der von der ständigen Sehnsucht nach den Philippinen geprägt ist. In der Geschichte Shadow Families haben sich mehrere Familien zusammengetan, um einmal in der Woche die philippinische Lebensweise in den Wüstenstaat zu holen – in Form einer Party mit Essen und Karaoke. Es gibt Glücksspiel und Bier für die Männer und tschismis, Klatsch und Tratsch, für die Frauen. Geselligkeit als Mittel gegen das Heimweh. Aber auch in dieser Parallelwelt sind nicht alle gleich. Die philippinischen Migrant*innen unterscheiden sich in ihrer sozialen Herkunft, ihrem Gehalt, ihrem Aufenthaltsstatus und dem Arbeitsverhältnis. In fast peinlich berührter Weise sind ihnen diese Unterschiede bewusst. Auf der einen Seite sind da jene, die zusammen mit ihren Familien kamen und nun in großen Häusern leben, und auf der anderen die, die alleine kamen und tagsüber in reichen Haushalten fremde Kinder hüten und nachts eine Wohnung oder ein Zimmer mit anderen Haushaltsgehilfen teilen.
Andoy, Protagonist in A Contract Overseas, ist der Meinung, dass Auswanderung nun, da er Vater sei, die beste Option sei. Das verkündet er seiner Schwester, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt ist. Sie bleibt auf den Philippinen zurück, während er nach Saudi Arabien geht, wo er unter anderem die College-Gebühren für seine Schwester verdienen möchte. Sie solle ein richtiges Studentenleben führen können, meint er. In ihren Briefen an ihn lässt sie aus Rücksicht vieles unausgesprochen: „I must have wanted him to feel, 5000 miles away, that he was working hard toward a good cause.“ In regelmäßigen Abständen kommen Andoys Arbeitskollegen zu ihr, jene carabaos, die stellvertretend für andere Geld und Geschenke an die Angehörigen verteilen. Die Gesundheit und Freude dieser Boten signalisiert den Familien, dass es ihren eigenen Brüdern, Vätern und Söhnen ebenfalls gut gehe. Doch nicht immer gelingt es, die Sorgen und Ängste zu zerstreuen.
In einigen Erzählungen des Buches verbinden sich persönliche Geschichten mit historischen und politischen Begebenheiten. So lässt Esmeralda im Schatten der Ereignisse um den 9. September 2001 ihre Ankunft in New York und ihre Stationen in der Stadt Revue passieren. Die Titelgeschichte In the Country führt zurück in die Zeit der Marcos-Diktatur. Die Krankenschwester Milagros, eher unpolitisch und an den Unruhen der beginnenden 1970er wenig interessiert, organisiert einen Streik des Krankenhauspersonals. Ihre Geschichte wird bis zur People Power Revolution im Februar 1986 und somit bis zum Sturz Marcos weitererzählt.
Die Lektüre des Buches In the Country ist kurzweilig und berührend. Die Schicksale und Gefühlswelten der Protagonist*innen geben kleine Ausschnitte vom Bild einer Gesellschaft wieder, die von Auswanderung und Arbeitsmigration geprägt ist. Zusammen ergeben sie ein Puzzle, das sich um viele weitere Geschichten aus dem fiktiven oder realen Leben erweitern lassen könnte.
Rezension zu: Mia Alvar. In the Country. Stories. Alfred A. Knopf. 2015. 368 Seiten
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Marina Wetzlmaier ist Journalistin für Print und Radio mit den Schwerpunkten soziale Bewegungen, Menschenrechte, Migration und Philippinen. Zuletzt erschienen: Die Linke auf den Philippinen. Eine Einführung. Wien: Mandelbaum Verlag (2020). Webseite: wetzlmaier.wordpress.com
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