Myanmar/Asien/Europa/USA: Rohingya-Frauen übernehmen in der Diaspora häufig eine aktive Rolle im transnationalen Aktivismus. Für ihren Artikel interviewten unsere Autoren Rohingya-Aktivistinnen auf der ganzen Welt.
Jahrzehntelange Militärregierung, ethnische Konflikte und staatlich geförderte Gewalt haben einen massiven Exodus der Rohingya-Gemeinde aus dem Bundesstaat Rakhine in Myanmar ausgelöst. Heute befindet sich die Mehrheit der fast drei Millionen Rohingya im Exil.
Als Folge hat humanitäres Engagement für geflüchtete Rohingya stark zugenommen. Dies führt zu einem stärkeren Engagement bei humanitären Akteur*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen der Rohingya selbst; insbesondere in Ländern, in denen sie eine beträchtliche Diaspora bilden. Das hat für viele Frauen eine Gelegenheit geschaffen, aus ihrer traditionellen Rolle auszubrechen und aktiv an der Mobilisierung der Rohingya-Diaspora mitzuwirken.
Frauen der Rohingya-Diaspora sind, anders als im öffentlichen Diskurs oft dargestellt, aktive Akteur*innen, die in der Lage sind, aus traditionellen Rollen auszubrechen und gleichzeitig die Sache von Millionen vertriebener Rohingya voranzubringen. Wie verschaffen sie ihrer Stimme in den Ländern, in denen sie leben, Gehör und welche lokalen Faktoren begünstigen oder behindern diesen Prozess?
Wir haben dazu mit geflüchteten Rohingya-Aktivistinnen aus der ganzen Welt gesprochen. Wir wollten herausfinden, wie die Zwangsvertreibung und das Leben im Exil sie zu ihrer Rolle gebracht haben. Dabei wurde uns klar, dass der Konflikt in Myanmar und die daraus resultierende Vertreibung einen bedeutsamen Wandel in den traditionellen Geschlechterrollen der Rohingya ausgelöst und vielen Frauen die Möglichkeit gegeben hat, wichtige und sichtbare Akteur*innen der Zivilgesellschaft im Ausland zu sein. Dabei ist der intersektionale Rahmen zu berücksichtigen, da Race, Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status und die Situation im Gastland wichtige, sich überschneidende soziale Faktoren sind, die die Frauen in ihrem Aktivismus beeinflussen.
„Wir wollen, dass humanitäre Einsätze unseren spezifischen Bedürfnissen entsprechen und von unseren Stimmen geprägt werden“ sagt eine Rohingya-Aktivistin aus dem Geflüchtetenlager Kutupalong in Bangladesch.
Frauen engagieren sich überwiegend in der Selbstverwaltung von Geflüchteten und humanitären Hilfslieferungen. Sie übernehmen aber auch andere Aufgaben wie Journalismus, Online-Aktivismus, Menschenrechts-Aktivismus sowie pädagogisches und unternehmerisches Wirken.
Aufgrund der anhaltenden Vertreibungen der Rohingya sind die Geflüchteten-Lager in Thailand und Bangladesch ein Lebensraum, der über die zeitliche Begrenzung und den Notfallcharakter der Verwaltung hinausgeht. Daher sind Geflüchteten-Lager politische Räume, in denen ständig um das Recht gekämpft wird, das Leben in den Lagern zu gestalten und zu beeinflussen, wie sie verwaltet werden.
In anderen Ländern, insbesondere in Malaysia, den USA und Kanada, weicht das Engagement von Frauen in den Gemeinden sehr von diesem Bild ab. Eine Rohingya-Journalistin aus Malaysia sagt:
Mehrere der interviewten Frauen sind Teil einer größeren Bewegung, deren Aktivismus sich nicht nur auf Themen beschränkt, die ausschließlich Rohingya-Gemeinschaft betreffen, sondern die Not von Minderheiten, anderen Geflüchteten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen in ihren neuen Wohnorten vertritt. Einige der Aktivist*innen beteiligten sich auch an sozialen Bewegungen wie Fridays For Future in Schweden oder Black Lives Matter in den USA.
„Unser Ziel ist es, der globalen Rohingya-Gemeinschaft eine Plattform zu bieten, auf der sie sich selbst, über die aktuellen Mediennarrative hinausgehend, darstellen können“ sagt eine Digitaltrainerin aus Schottland.
Die zunehmenden Verbindungen zwischen den Diaspora-Mitgliedern bei zugleich großen räumlichen Distanzen zwischen ihnen, führten zu wachsendem Online-Aktivismus der Rohingya-Gemeinschaften. In den letzten Jahren haben mehrere Online-Kampagnen dazu beigetragen, Beziehungen zwischen den vertriebenen Rohingya-Gemeinschaften in verschiedenen Teilen der Welt wiederzubeleben, ihre Kultur neu zu gestalten und eine Plattform für den politischen Diskurs zu bieten.
Seit 2017 gibt es eine starke Zunahme von Rohingya-YouTube-Kanälen, Webseiten, Blogs und Fernsehkanälen. Eine beträchtliche Anzahl von Frauen ist Teil dieses Engagements. Es geht dabei nicht nur um die Behauptung einer kollektiven Identität, sondern auch um die Schaffung eines sozialen Bewusstseins. Zugleich wird dadurch die Sprache der Rohingya in gesprochener, aber auch geschriebener Form bewahrt. Eine junge Rohingya-Aktivistin, die als UNHCR-Freiwillige in Malaysia gearbeitet hat, sieht den Aktivismus in den sozialen Medien so:
Ein zentrales Ergebnis der aktiven Beteiligung von Frauen in der Diaspora ist, dass geschlechtsspezifischen Herausforderungen, denen die meisten Frauen ausgesetzt sind, Priorität eingeräumt wird. Oft fehlt es jedoch an konkreten Handlungen, die diese geschlechtsspezifische Dimension berücksichtigen. Aktivist*innen wollen sicherstellen, dass humanitäre Interventionen und die aufnehmenden Länder die besonderen Bedürfnisse von vertriebenen Frauen und Mädchen angemessen berücksichtigen. Mehrere Frauen leiten Organisationen, die sich für das Empowerment von Frauen und die durchgängige Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in Fluchtprogrammen einsetzen. Auch wenn viele Menschen ihr ‚weibliches Engagement‘ in Frage stellen, wird im Diaspora-Aktivismus oft übersehen, dass häufig hierarchische Systeme fortbestehen, die Geschlechtergleichstellung ignorieren.
Politische Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement von Rohingya-Frauen sind nie leicht, wie die Leiterin eines Rohingya-Frauenverbandes in Malaysia feststellt:
Es gab und gebe immer noch Stereotype darüber, was Frauen in der Gemeinschaft tun können und was nicht. Aber hier gelte es, selbstbewusst zu sein und nicht nachzugeben, so eine Befragte aus den USA. Die soziale und politische Teilhabe von Frauen wird dabei in erster Linie durch rechtliche und praktische Zwänge behindert. Die doppelte Verantwortung vieler Frauen in Familie und Aktivismus bringt sie oft in eine Situation, die viele als unlösbar bezeichnen. Weitere Faktoren sind mangelndes Wissen und Vertrauen, Sprachbarrieren, unzureichende Finanzierungsmöglichkeiten oder Mobilitätseinschränkungen.
Für viele Frauen fühlen sich die Veränderungen, die sich im Diaspora-Aktivismus vollziehen, dennoch wie eine Zeitenwende an. Eine Befragte aus Bangladesch drückt dies so aus:
Als Konsequenz sind Rohingya-Frauen trotz erheblicher Fortschritte im Vergleich zu Männern nach wie vor unterrepräsentiert. Die Interviews zeigen, dass die Motivation der Frauen, sich zu mobilisieren und Netzwerke aufzubauen, vor allem von einem starken Gefühl des Transnationalismus abhängt. Ihre Handlungen werden dabei wesentlich von der Regierungspolitik Myanmars gegenüber den ethnischen Minderheiten der Rohingya geprägt. Darüber hinaus übt die Geflüchtetenpolitik der Regierung von Bangladesch und internationaler Organisationen Einfluss auf die Frauen aus.
Was erleichtert es einer transnationalen Diaspora, sich zu etablieren? Multikulturalismus ermöglicht es Diasporagruppen potenziell, ihre sozialen Bedürfnisse zu artikulieren und auf globale Probleme aufmerksam zu machen. Multikulturelle Städte bieten der Diaspora dringend benötigte sozioökonomische und politische Plattformen, die den Aufbau von Gemeinschaften und Netzwerken ermöglichen. Damit die Diaspora in der Lage ist, ihre Netzwerke zu erweitern und sich zu mobilisieren, muss die Politik der Zielländer sie mit einbeziehen. Nicht-restriktive Einwanderungsgesetze und die Akzeptanz anderer Kulturen sowie ein Arbeits- und Sozialumfeld ohne Diskriminierung sind dafür wesentliche Faktoren. Ein solches Umfeld ermöglicht es der Diaspora, Teil einer pluralistischen Gesellschaft zu sein, innerhalb derer sie sich engagieren und integrieren können. In den USA und in Europa beispielsweise engagieren sich Rohingya-Aktivist*innen für eine Vielfalt sozialer Fragen, im Falle Bangladeschs ist dies in hohem Maße geschlechtsspezifisch und begrenzt.
Ohne soziales Kapital und ein gewisses Maß an Bildung können diese Chancen nicht verwirklicht werden. Fast alle Befragten sind multilingual und sprechen sehr gut Englisch. Außerdem verfügt die Mehrheit der Befragten über einen hohen Bildungsgrad (höheren Sekundarschul- bis Universitätsabschluss). Geschlecht, Bildung und sozioökonomischer Status sind wichtige soziale Schnittmengen, die die Fähigkeit zur Teilnahme an zivilgesellschaftlichen Organisationen beeinflussen und in unterschiedlich privilegierte oder benachteiligte Positionen bringt.
Der technologische Fortschritt, insbesondere bei sozialen Medien, hat die Fähigkeit der Diasporagemeinden, ein Netzwerk aufzubauen, stark beeinflusst. Zudem hat die Internationalisierung vielen Frauen geholfen, nach vorne zu treten und die Debatte zu beeinflussen. In Myanmar hatten sie dazu oft keine Möglichkeit; es wurde ihnen nicht erlaubt, im öffentlichen Raum aktiv zu sein. Dies stellt eine neue Freiheit für viele Frauen dar und zeigt einmal mehr, wie wichtig der Zusammenhang zwischen sozialen Rechten und dem Zugang zur Zivilgesellschaft ist.
Übersetzung aus dem Englischen von: Simon Kaack
Philippinen – Bae Becky Barrios wuchs mit dem Glauben auf, dass Frauen keine Führungspersönlichkeit sein können. Heute ist sie eine Manobo-Anführerin in Agusan del Sur, einer der ärmsten Provinzen der Philippinen.
Myanmar – Lway Poe Ngeal ist Vorsitzende des Netzwerks ‚Women’s League of Burma‘. Im Interview spricht sie über Herausforderungen und Entwicklungen bei der Beteiligung von Frauen an sozialen und politischen Veränderungsprozessen.
Myanmar – Eine Online-Fotoausstellung weist auf die Lage der 2017 nach Bangladesch geflüchteten Rohingya-Frauen hin. Vielen von ihnen wurde sexuelle Gewalt durch burmesische Militärs angetan. Sie legen Zeugnis ab und fordern Gerechtigkeit.
Rezension zu: Zana Fraillon: Wenn nachts der Ozean erzählt. Jugendroman (Ab 12 Jahren).
Philippinen – Das Bildungssystem prägt die soziale Struktur, die nationale Identität und das Verhältnis zu…
Indonesien – In "Der Fluch der Muskatnuss" macht Amitav Ghosh eindrücklich die Verbindung von kolonialer…
Südostasien/Indonesien – Mithilfe digitaler Medien stellen Künstler*innen Nutzung, Wahrheitswert und Macht kolonialer Fotoarchive infrage.
Myanmar – Das koloniale Burma bestand im Wesentlichen aus einem großen Eisenbahnnetz mit militärischen Hochburgen.…
Indonesien – Die Strukturen kolonialer Handelsmonopole wirken bis heute nach: Plantagen und Bergbau bringen mächtigen…
Philippinen – Unter dem Klimawandel leiden die Menschen am meisten, die ihn am wenigsten verursachen.…