3 | 2020

„Das Heiratsgesetz macht Männer zu Hausherren“

Aktuelle Proteste in Jakarta gegen das so genannte Omnibus-Gesetz, das Arbeitnehmer*innenrechte stark einschränkt. Auch ältere Gesetze wie das noch immer gültige Heiratsgesetz von 1974 beschneiden die Rechte von Frauen. © Leona Pröpper

In Indonesien ist sexualisierte Gewalt allgegenwärtig. Dennoch werden Gesetze zum Schutz der Überlebenden immer wieder verschoben. Ein Interview mit der Wissenschaftlerin Sabina Puspita über den Umgang mit sexualisierter Gewalt und neue Initiativen dagegen.

Unsere Interviewpartnerin:

Sabina Puspita © privat

Sabina Puspita promoviert an der Northwester University (USA) und arbeitet derzeit als Gastwissenschaftlerin am Zentrum für Gender and Sexuality Studies an der Universität Indonesien (UI). Sabina Puspita repräsentiert das Zentrum innerhalb der Allianz der indonesischen Frauenbewegung gegen Gewalt (GERAK Perempuan). Seit 2020 ist sie außerdem Forschungsberaterin für das Sonderstabsteam des Bildungsministeriums zur Eindämmung von sexueller Belästigung an indonesischen Universitäten.

Während der Proteste in Jakarta zum Internationalen Frauentag 2020, kam es zu sexuellen Übergriffen gegen Demonstrant*innen. Was ist passiert? Und wie bewerten sie den Umgang mit den Vorfällen seitens der Organisator*innen?

Der Internationale Frauentag 2020 in Jakarta wurde von sehr diversen Vereinen organisiert, die bisher keine Aktionen gemeinsam veranstalteten. Hauptorganisator*innen waren die Gruppierung Women’s March Jakarta – nach dem US-amerikanischen Vorbild des Women’s March on Washington –, die Allianz der indonesischen Frauenbewegung gegen Gewalt (GERAK Perempuan) und einer der größten Dachverbände der Arbeiter*innengewerkschaften (Konfederasi Kongres Aliansi Serikat Buruh Indonesia KASBI), derzeit angeführt von Gewerkschafterin Nining Elitos.

Die Zusammenarbeit zwischen den divergierenden Frauenorganisationen und den Gewerkschaften ergab sich, weil am 8. März 2020 gleich gegen zwei Gesetzesentwürfe protestiert werden sollte, das Familienresilienzgesetz und das so genannte Omnibus Gesetz. Letzteres wurde als Arbeitnehmer*innengesetz deklariert. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei jedoch um ein Gesetz, das sich auf die Seite von Arbeitgeber*innen und insbesondere Investor*innen stellt [vgl. Artikel zum Omnibus-Gesetz auf suedostasien.net]. Die Kritik am Familienresilienzgesetz beruht darauf, dass das Gesetz einen großen Rückschritt für Frauenrechte in Indonesien darstellt. Frauen würden dadurch domestiziert und ihre Arbeit teilweise kriminalisiert werden.

Protest vor dem Bildungsministerium © Sabina Puspita

Einer der wichtigsten Erfolge der Demonstration war für mich, dass ich zum ersten Mal einen Protestwagen gesehen habe, an dem die Gewerkschaftsflagge und die LGBT-Flagge gemeinsam befestigt waren. Dies ist kein alltägliches Bild in Indonesien.

Auf der Demonstration kam es zu Belästigungen von Frauen* durch Männer – vermeintlich Gewerkschafter -, die gemeinsam mit uns demonstrierten. In den Medien wurde diese Tatsache als Scherz dargestellt. Was für eine Ironie, dass am Internationalen Frauentag Frauen* nicht von Zuschauern belästigt werden, sondern von Mitdemonstrierenden.

Trotz der Vorfälle bezeichne ich die Organisator*innen als eine der widerstandsfähigsten ‚Movers‘ und ‚Shakers‘ der modernen politischen Geschichte Indonesiens, weil sie sofort auf die Vorfälle reagiert haben. Sie haben sofort Hotlines eingerichtet und an die Personen appelliert, sich zu melden, wenn sie belästigt wurden. Seitdem versuchen sie, mit allen Mitteln, die Betroffenen zu unterstützen. Des Weiteren sind sie dabei, zu kalkulieren, wie hoch die Anzahl an Belästigungen war und welche Formen von Belästigung stattfanden.

Auch Nining Elitos hat zu den Vorfällen Stellung bezogen und sich bei den Betroffenen entschuldigt. Sie kündigte an, dass innerhalb der Gewerkschaften Bildungsmaßnahmen für mehr feministische Ideale eingeführt werden müssen. Sie sind die widerstandsfähigsten ‚Movers‘ und ‚Shakers‘, weil sie sich, anders als andere indonesische Akteur*innen, konstruktiv mit den Problemen von sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen auseinandersetzen und den Betroffenen nicht die Schuld zuschieben.

LGBT und Gewerkschaftsaktivist*innen © Sabina Puspita

Schon 2018 gab es ein verstärktes mediales Interesse an der Aufarbeitung von sexuellen Belästigungsfällen, angetrieben durch den sogenannten ‚Agni’ Fall. Agni ist das Pseudonym einer Studentin, die während ihres von der Universität organisierten Gemeinschaftsdienstes von ihrem Kommilitonen sexuell missbraucht wurde. Warum konnte Ihrer Meinung nach gerade der Agni-Fall so viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen?

Die Medien spielen dabei sicherlich eine Rolle, jedoch war auch die Frauenbewegung hierbei ausschlaggebend. Agni ging zu einer sehr starken Frauenorganisation namens Rifka Annisa, einem Krisenzentrum in Yogyakarta für Frauen, die Gewalt erfahren haben. Rifka Annisa war empört über die zahlreichen sexuellen Übergriffe an indonesischen Universitäten und konsultierte engagierte aktivistische Journalist*innen, um eine weit umfassendere Berichterstattung über sexuelle Gewalt an Universitäten zu ermöglichen. Unter dem Hashtag #namabaikkampus sammelte ein journalistisches Konsortium aus den Zeitungen Tirto, Jakarta Post und Vice Fälle von sexueller Gewalt an indonesischen Universitäten. Dies war sicherlich auch von den Erfahrungen aus der #metoo Bewegung oder ähnlichen Bewegungen gegen Campusvergewaltigungen an US-amerikanischen Universitäten geprägt.

Dass der Fall von Agni eine solch besondere Stellung erreicht hat, liegt unter anderem auch daran, dass sich dies an der Gadjah Mada Universität (UGM) in Yogyakarta ereignete, jener Universität, an der auch Präsident Joko Widodo und eine Reihe anderer Minister studiert haben. Es ist also nicht lediglich eine der größten Universitäten Indonesiens, sondern in diesem Moment der Geschichte ebenfalls die Universität der mächtigen Menschen. Erschütternd an diesem Fall ist außerdem der schreckliche Umgang mit dem Vorfall vonseiten der UGM. Man würde meinen, dass die Top-Universität in Indonesien wissen sollte, wie sie mit Fällen von sexualisierter Gewalt umzugehen hat.

Es ist sehr schwer für mich zu akzeptieren, wie solche Gewalt zugelassen werden kann. Ich verstehe auch die Unfähigkeit der meisten Menschen in Indonesien nicht, insbesondere die der Universitätsverwaltung, die Situation nicht zu kontextualisieren und stattdessen starr auf Regeln zu achten. Selbst wenn Regeln gebrochen werden, müssen wir das, was tatsächlich passiert ist, in Kontext mit den bestehenden Regeln setzen und jene Regeln notfalls beiseite legen. Universitätsadministrator*innen scheinen jedoch nur in seltenen Fällen, beispielsweise bei Plagiatsfragen, in Fragen der Integrität von Wissenschaftler*innen oder in Fragen der akademischen Freiheit nachlässig mit Regeln umzugehen.

No means no. © Leona Pröpper

Welche Möglichkeiten sehen Sie dann für Überlebende von sexualisierter Gewalt speziell auf Universitäten bezogen?

Derzeit gibt es keine institutionalisierten Mechanismen zum Umgang mit sexueller Belästigung. Die UGM hat erst nach dem Agni-Fall damit begonnen, sich diesem Thema zu widmen. Empfehlungen wurden geschrieben, institutionell durchgesetzt wurde jedoch noch nichts. Gemeinsam mit dem Ministerium für Bildung und Kultur arbeite ich daran, Vereinbarungen zu erstellen, um den Umgang von Universitäten zu verbessern.

Bisher wenden sich Überlebende jedoch zunächst an Freunde für Unterstützung. Das Problem dabei ist, dass diesen häufig nicht bewusst ist, dass Vertraulichkeit der Schlüssel zur Wiederherstellung des psychischen Zustands ihrer Freunde ist. Und so verbreiten sie manchmal die Vorfälle in sozialen Medien. Andere, wie im Agni-Fall, wenden sich an die Studierendenzeitung und/oder an Frauenrechtsorganisationen, wie Lembaga Bantuan Hukum APIK (LBH APIK), einem Rechtsbeistand für Frauen mit sexueller Gewalterfahrung oder an die Nationale Frauen Kommission (Komnas Perempuan), die sie dann an regionale NGOs weiterleiten.

Ein weiterer Fall, der vor kurzem große mediale Aufmerksamkeit erreichte, ist der Fall von Ibrahim Malik, einem sehr angesehenen ehemaligen Studenten der Islamischen Universität Indonesien (UII), der mit vielen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde und derzeit in Australien studiert. Nun wendeten sich 30 Studentinnen der UII an den Rechtsbeistand der LBH APIK in Yogyakarta, nachdem die Universitätsverwaltung keine Maßnahmen ergriffen hatte, und berichteten von den sexuellen Übergriffen, die sie durch ihn erlitten hatten. Nach breitem öffentlichem Druck, unter anderem durch den #NamaBaikKampus erkannte die UII ihm seine universitären Auszeichnungen ab. Vermutlich will er nun jedoch eine Verleumdungsklage einreichen. Seine Chancen hierbei stehen nicht schlecht, denn er ist ein muslimischer Geistlicher, der viele renommierte Preise gewonnen hat. Gleichzeitig hat Indonesien kein nationales Gesetz, das Menschen vor sexueller Belästigung schützt.

Es kann – wie oben genannte Fälle zeigen – argumentiert werden, dass Gewalt an Frauen in hohem Maße mit Machtstrukturen verbunden ist. Inwiefern würden Sie sagen, beeinflussen die institutionellen Strukturen an Universitäten in Indonesien das Leben von Frauen auf dem Campus?

Meine Hypothese ist: Die Struktur wird durch das Heiratsgesetz von 1974 aufrechterhalten. Das Gesetz ist bis heute nicht revidiert worden und ich habe das Gefühl, dass sich das Land nicht fortbewegen kann, solange wir an diesem Gesetz festhalten. Nach diesem Gesetz sollten Frauen nur Hausfrauen sein. Das darauf basierende Familienkartensystem ist unter heutiger Betrachtung ebenfalls absurd. Das System beinhaltet die soziale und physische Restriktion der Bewegungsfreiheit von Frauen. Durch das Kartensystem werden Männer zu Hausherren gemacht.

In Indonesien haben wir jedoch auch viele abwesende Ehemänner und Väter. Doch auch wenn diese abwesend sind, werden Frauen nicht zum Haushaltsvorstand erklärt, außer sie sind geschieden oder verwitwet. Alleinstehende oder geschiedene Frauen werden jedoch in Indonesien noch stark stigmatisiert, insbesondere in ländlichen Regionen. Das Kartensystem führt daher bis heute dazu, dass Frauen keine Hauseigentümerinnen werden können und keine administrativen Tätigkeiten ohne die Unterschrift eines Mannes durchführen können.

Protest vor dem Bildungsministerium © Sabina Puspita

Zusätzlich zu den veralteten Gesetzen kommt ein juristisches Vakuum hinzu. Beispielsweise gibt es lediglich ein Gesetz zu Kindesmissbrauch und ein Gesetz zu Vergewaltigungen. Die Spannbreite dazwischen – also sexuelle Belästigung – ist nach dem indonesischen Recht nicht abgedeckt. Gleichzeitig ist die Definition von Vergewaltigung so eng und spezifisch, dass lediglich die Penetration der Vagina durch einen Penis als Vergewaltigung eingestuft wird. Damit wird außer Acht gelassen, dass die Vagina mit ganz anderen Dingen penetriert werden kann, wodurch rechtsfreie Räume für sexualisierte Gewalt existieren. Die Höchststrafe für Vergewaltiger liegt mit maximal 12 Jahren Gefängnis außerdem weit unter dem Strafmaximum von Hochverrat (20 Jahre).

Die veralteten Gesetze und das Rechtsvakuum erschaffen daher ein Bild, in dem Frauen weniger wert sind als Männer und legitimieren dadurch gewaltvolles Verhalten. Es ist also nicht lediglich das Hochschulsystem, es greift viel tiefer.

Sie sprechen vom Ziel der Gleichberechtigung. Welchen Ausblick haben Sie für die nächsten 5-10 Jahre? Was wird sich Ihrer Meinung nach im Hinblick auf sexualisierte Gewalt an Universitäten und in der Gesellschaft verändern?

Ich bin optimistisch, dass junge Menschen sich des Themas stärker bewusstwerden, nach Rechenschaft streben und dadurch auch andere Generationen beeinflussen. Bewusstsein allein reicht jedoch nicht. Es muss auch eine gesetzliche Veränderung herbeigerufen werden, damit Fälle von sexueller Belästigung auch tatsächlich bearbeitet und gelöst werden.

Solange wir ein Gesetz über Vergewaltigung haben, dass Vergewaltigern ein geringeres Strafmaß zusichert als Menschen, die Hochverrat begehen, wird es keine großartigen Aussichten für eine umfassende Verfolgung von sexuellen Belästigungen an Universitäten geben. Ein Grund, weshalb Menschen an Universitäten sexuelle Belästigung begehen, ist: Sie wissen, dass sie damit durchkommen können. Um diesem Zustand etwas entgegen zu setzen, braucht es jedoch eine große Anzahl von Politiker*innen, wie dem Bildungsminister Nadiem Makariem, die sich tatsächlich für eine Gesetzesänderung einsetzen. Ich denke jedoch nicht, dass dies in den nächsten fünf Jahren geschehen wird.

Autorinnenhinweis: Wenige Tage nach dem Interview mit Sabina Puspita entschied das nationale Parlament, die Beratungen über das Vorantreiben des Gesetzes gegen sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt (RUU P-KS) zurückzuziehen.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen von: Lina Knorr

 

Zum Weiterlesen:

  • Artikel
Die Autorin

Lina Knorr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem Promotionsprojekt forscht sie zum Umgang von sexualisierter Gewalt an indonesischen Universitäten.

  • „Das Heiratsgesetz macht Männer zu Hausherren“

    In Indonesien ist sexualisierte Gewalt allgegenwärtig. Dennoch werden Gesetze zum Schutz der Überlebenden immer wieder verschoben. Ein Interview mit der Wissenschaftlerin Sabina Puspita über den Umgang mit sexualisierter Gewalt und neue Initiativen dagegen.

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Lina Knorr

Lina Knorr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem Promotionsprojekt forscht sie zum Umgang von sexualisierter Gewalt an indonesischen Universitäten.

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