Indonesien: Reis ist in weiten Teilen des Inselreiches nicht nur Nahrung, sondern auch Kulturgut. Das war nicht immer so, wie alte Tempel-Reliefs beweisen. Der Siegeszug von Reis ist eng verknüpft mit dem Aufstieg Javas als regionalem Machtzentrum.
Für die Mehrheit der indonesischen Bevölkerung, insbesondere für die Bewohner*innen der Inseln Java und Sulawesi, ist Reis Grundnahrungsmittel. Die Gewohnheit, dreimal am Tag Reis zu essen, ist ein entscheidender Teil des täglichen Lebens. Die Massenproduktion von Reis ist notwendig, um mehr als 158 Millionen Menschen auf Java und Sulawesi zu ernähren. Heute zählen die Provinzen auf Java und Südsulawesi zu den größten Reisquellen Indonesiens.
Traditionell ist Reis für viele Menschen in Indonesien nicht nur wichtig, um das Grundbedürfnis nach Nahrung zu decken, sondern auch eine kulturell heilige Pflanze. Reis wird mit höchstem Respekt behandelt, weil er als göttliche Pflanze angesehen wird. Obwohl die meisten indonesischen Bevölkerungsgruppen heutzutage dem muslimischen Glauben angehören, wird eine der ältesten überlieferten Praktiken der Göttinnen-Verehrung aus der hinduistisch-buddhistischen Periode nach wie vor gepflegt: der Reiskult in Gestalt von Dewi Sri oder der Göttin Shri.
Der Ursprung der Göttin Shri lässt sich nach Indien zurückverfolgen. Auf dem Subkontinent ist die Göttin Shri Lakshmi die Gemahlin des Gottes Vishnu, der den Menschen Glück, Reichtum und Wohlstand bringt. Der Prozess der Hinduisierung um das 5. Jahrhundert brachte die Menschen auf dem indonesischen Archipel in Kontakt mit Shri Lakshmi. Im Laufe der Zeit wurde sie in den lokalen Glauben aufgenommen, wo ihre Bilder mit dem traditionellen Reisgeist verschmolzen. Nach und nach wurde sie mit Reis in Verbindung gebracht und vom Volk als Patronin der Landwirtschaft und Fruchtbarkeit anerkannt.
Eine Statue von Shri, die im Penataran-Tempel auf Ostjava gefunden wurde, zeigt sie mit einem ‚Reisohr‘, das die Unterscheidung zwischen Shri Lakshmi als indischer Göttin des Reichtums und Wohlstands und Dewi Sri, der indigenen Personifizierung von Reis und Fruchtbarkeit, markiert. Später wurde sie mit dem Geist der Ahnen in Verbindung gebracht. Die posthume Verehrung von Königin Gayatri Rajapatni von Majapahit ist ein Beispiel dafür, wie die verstorbene Königin sowohl als chtonische (d.h. der göttlichen Unterwelt angehörig; die Übersetzer) Mutterfigur als auch als Dewi Sri angebetet wurde.
Die wachsende Verehrung von Dewi Sri fiel zusammen mit der Veränderung der Ernährungsgewohnheiten und dem Aufstieg der javanischen Staaten als herausragende Macht auf dem indonesischen Archipel. Basierend auf Basrelief-Darstellungen am Borobudur-Tempel (8.-9. Jahrhundert) war Sago – weiße Stärkekügelchen aus der Sagopalme – damals eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel auf Java. Mit der Verlagerung des gesellschaftlichen Schwerpunkts auf Reis begann Sago an Popularität zu verlieren, da Reis von den Herrschenden als profitabler angesehen wurde. Mehrere alte javanische Quellen berichten, dass die indigenen Könige Zuschüsse an die Bevölkerung vergaben, um die Umwandlung von Wald in Feuchtreisfelder zu unterstützen.
Inschriften aus dem 9. Jahrhundert zeigen, wie Reis nicht nur als Nahrungsquelle für die Menschen, sondern auch als Marktware und landwirtschaftliches Steuersystem diente. Um das 10. Jahrhundert war Reis als eines der wichtigsten lokalen Agrarprodukte aus dem Hinterland Javas in den asiatischen Überseehandel gelangt. Die vom Staat und dem Überseehandel geförderte Massenproduktion von Reis trug dazu bei, Projekte der Nationsbildung, etwa den Bau von gewaltigen Tempeln wie Borobudur und Prambanan, zu unterstützen. Der Höhepunkt des Wohlstands ist während der Majapahit-Ära zu verorten, als der Strom der Reisproduktion durch das Flusssystem Ostjavas zu den Hafenstädten an der Nordküste geleitet wurde, wodurch Handelsnetze entstanden, die sich von Malakka bis zu den ‚Gewürzinseln’ (Molukken) ausdehnten.
Die Verehrung von Dewi Sri verbreitete sich über Java hinaus bis nach Südsulawesi, wo sich die indische Religion als weniger einflussreich erwiesen hat. Das Volk der Bugis in Südsulawesi verehrt eine Gottheit namens Sangiang Serri. Sangiyan-Sarri wird im Buginesisch-Holländischen Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert als „Godheid van paddies V.d. ook wel de padie zelve“ definiert. La Galigo – eine Sammlung vorislamischer Geschichten über die Erschaffung der Welt und der erste Teil der Geschichte der Ahnen der Bugis in Sulawesi – stellt sie als Göttin dar, die bei der Niederkunft verstarb und in verschiedene Reissorten verwandelt wurde.
Besondere La-Galigo-Manuskripte mit den Titeln Galigona Meong Mpaloe Karellae und Rilekkeqna Sangiaserri sind ihrer Entstehungsgeschichte gewidmet. In der agrarisch geprägten Gesellschaft werden diese Manuskripte während der Erntezeremonie oder vor dem Betreten des Feldes zur Aussaat der ersten Saat (tudang noreng) gesungen. Die in diesen Manuskripten festgehaltenen Geschichten konservieren auch die Erinnerung an die veränderten Ernährungsgewohnheiten, die sich auf der Halbinsel Südsulawesi mit der Massenproduktion von Reis und dem Wiederaufleben des Handels vollzogen. Sangiang Serri soll eine Region namens Luwu verlassen haben und diese zur Strafe unfruchtbar gemacht haben, weil die Bewohner respektlos mit Tieren und Pflanzen umgegangen seien. Damit übereinstimmend ist die Bevölkerung von Nord-Luwu dafür bekannt, dass sie trotz der landesweiten Beliebtheit von Reis bis heute Sago als Hauptnahrungsmittel isst.
Neueren historischen und archäologischen Forschungen zufolge verbreitete sich der Reisanbau in Südsulawesi um das 13. Jahrhundert. Dieses Phänomen verlief parallel zur zunehmenden Verfügbarkeit von importierten Handelsgütern wie indischen Textilien, chinesischer Keramik oder anderen Arten von Waren aus Südostasien, die in Südsulawesi gefunden wurden. Vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger ähnlichen Situation wie im alten Java spielte Reis für die Menschen in Südsulawesi eine wichtige Rolle als Währung, um ihn mit diesen importierten Waren zu tauschen. Es wird angenommen, dass Sangiang Serri eine lokale Version von Dewi Sri ist, die durch Handelsbeziehungen entstanden ist, die mit der Zunahme des Reisanbaus in Südsulawesi zusammenfallen.
Sogar nach der Islamisierung, die Anfang des 17. Jahrhunderts die gesamte Halbinsel massiv erfasste, bleibt die Verehrung von Sangiang Serri für die Menschen in Südsulawesi prominent. Im 17. Jahrhundert stellte ein Bericht während einer holländischen Militärexpedition in Südsulawesi fest, dass das Volk der Buginesen es in Kriegszeiten vermeidet, Reisfelder abzubrennen, da sie den Zorn von Sangiang Serri fürchten.
Die Geschichte von Reis als Grundnahrungsmittel für die Menschen auf Java und Südsulawesi erzählt uns von einer Reise, die Jahrhunderte dauert und an deren Verlauf viele Akteure beteiligt waren. Reis ist mehr als nur eine Nahrungsquelle für die lokale Bevölkerung. Die vom Reis abhängige indonesische Gesellschaft zeigt unerschütterliche Loyalität und bleibt weiterhin ihrer Göttin treu. Doch während der Reiskonsum in der heutigen Zeit unvermindert anhält, gibt es neue Herausforderungen im Zusammenhang mit Klimawandel, Landknappheit und Diabetes für die künftige landwirtschaftliche Entwicklung Indonesiens.
Übersetzung aus dem Englischen von: Anna Grimminger
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