Die Philippinen und Österreich verbindet eine bemerkenswerte Parallele: der Widerstand gegen Atomkraftwerke (AKW), der in beiden Ländern zur Nichtinbetriebnahme bereits fertiger Anlagen führte. Im Gegensatz zu Österreich steht Atomkraft in den Philippinen jedoch wieder auf der Agenda.
Der Widerstand gegen das AKW Zwentendorf ist eine Erfolgsgeschichte. In der österreichischen politischen Folklore heißt es, dass man als einziges Volk die Inbetriebnahme eines fertigen Atomkraftwerkes verhindert habe. Vielen Menschen in Österreich ist nicht bekannt, dass sich fast zeitgleich eine Anti-Atombewegung in den Philippinen formiert hatte, um die Inbetriebnahme des Bataan Nuclear Power Plant (BNPP) zu verhindern. In Österreich ist Atomkraft heute keine Option mehr. In den Philippinen jedoch wird das Thema wieder aktuell.
Der 5. November 1978 nimmt einen besonderen Platz in der jüngeren Geschichte Österreichs ein. An diesem Tag entschied bei einer Volksabstimmung eine knappe Mehrheit von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des fertig gestellten Atomkraftwerks in Zwentendorf, einem Ort mit rund 4000 Einwohner*innen etwa 40 Kilometer westlich von Wien. Die kommerzielle Nutzung der Kernenergie war somit beendet, ehe sie begonnen hatte. Bestätigt wurde das Ergebnis einige Wochen darauf durch das Atomsperrgesetz, das den Bau von Atomkraftwerken in Österreich verbot. 1999 wurde das Gesetz sogar in den Verfassungsrang gehoben.
In den Philippinen sorgten 1986 zwei Ereignisse für das Ende des Atomkraftwerkes in Bataan, noch bevor es ans Netz ging: Die ‚People Power- Revolution’, die Diktator Ferdinand Marcos zu Fall brachte, und das Reaktorunglück von Tschernobyl in der heutigen Ukraine. Eine jahrelange Widerstandsbewegung hatte das Fundament für diese Entscheidung gelegt. Wie im Kampf gegen Zwentendorf stand gegen das Bataan Nuclear Power Plant (BNPP) auf der Halbinsel Bataan etwa 100 Kilometer westlich von Manila eine heterogene Koalition aus Wissenschaftler*innen, linken Gruppen, christlichen Organisationen und vielen anderen Playern der zivilen und politischen Gesellschaft.
Als 1972 mit dem Bau des Atomkraftwerkes in Zwentendorf begonnen wurde, war nicht abzusehen, dass die politische Debatte um den Reaktor beinahe die ganzen 1970er Jahre dominieren würde. Die Bevölkerung war nach gut zwei Jahrzehnten des Wirtschaftsaufschwungs zufrieden. Dass dieser Aufschwung zunehmend Energie verschlang, war klar. Energie bedeutete in der Lesart der meisten Österreicher*innen Industrialisierung und Arbeitsplätze, somit Wohlstand. Dementsprechend waren es anfangs ‚nur’ Anrainer*innen und kleinere linke Splittergruppen, die zum Protest gegen den geplanten Reaktor riefen. Doch die Bewegung wuchs langsam, aber kontinuierlich, da bereits weitere AKWs geplant wurden. Politische Breite gewann man durch die Unterstützung verschiedener christlicher Gruppen und der politischen Rechten, die sich aus strategischen Gründen gegen Zwentendorf als ein Prestigeprojekt des sozialdemokratischen Kanzlers Bruno Kreisky stellten. Auch internationale Ereignisse wie das Reaktorunglück in Sellafield 1973 und die Anti-AKW-Bewegungen in anderen europäischen Ländern beeinflussten die öffentliche Meinung. So heterogen die Bewegung war, so unterschiedlich ihre Aktionsformen. Die Brennstäbe mussten 1977 mit Hubschraubern des Bundesheeres eingeflogen werden, weil Kraftwerksgegner*innen alle Zufahrtsstraßen blockierten.
In den Philippinen waren die 1970er Jahre geprägt vom Kriegsrecht, das Ferdinand Marcos am 21. September 1972 ausgerufen hatte. Der Bau des Atomkraftwerks sowie der Widerstand dagegen sind in diesem repressiven politischen Kontext zu betrachten. Bereits 1973 begann die Regierung mit den Plänen für das BNPP. 1976 wurde – dank der Mithilfe des Marcos-Vertrauten Herminio Disni – der US-amerikanische Konzern Westinghouse mit dem Bau beauftragt, obwohl der Konzern zunächst die Ausschreibung verloren hatte. All das passierte ohne Wissen der Öffentlichkeit. Als die philippinische Bevölkerung Ende der 1970er Jahre aus den ausländischen Medien vom Projekt erfuhr, hatte der Bau bereits begonnen.
Wichtigsten Anteil daran, dass die Menschen informiert wurden, hatte eine wachsende Protestbewegung, die in den betroffenen lokalen Communities ihren Anfang nahm und sich dem nationalen Widerstand gegen das Regime anschloss. Die Stärke der Bewegung lag in ihrer Heterogenität: Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Studierende, kirchlich Engagierte, Umweltschützer*innen, Wissenschaftler*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen aus 129 Organisationen fanden sich unter dem Dach der 1981 gegründeten Nuclear Free Philippines Coalition (NFPC) ein. Dass als Standort für das Atomkraftwerk gerade Morong gewählt wurde, ließ bei ihnen die Alarmglocken schrillen: unweit davon befindet sich der Mount Natib, ein aktiver Vulkan. Auch Erdbebenlinien verlaufen in der Region. Die NFPC protestierte aber nicht nur gegen das “Monster von Morong”, wie sie das Atomkraftwerk nannte. Ihre Kampagne richtete sich auch gegen die US-amerikanischen Militärbasen in den Philippinen und gegen Atomwaffen, die dort mutmaßlich gelagert wurden.
Die Aktivitäten der NFPC umfassten Vorträge, Workshops, Radioprogramme, Publikationen und Konferenzen. Zentral war auch die Stärkung des Widerstands auf der lokalen Ebene. Im Zuge dessen wurde 1984 das Nuclear-Free Bataan Movement (NFBM) gegründet, das bis heute – mittlerweile auch im Widerstand gegen Kohlekraft – aktiv ist. Internationale Unterstützung suchte man durch den Austausch mit anderen Anti-Atombewegungen in der Asien-Pazifik-Region.
Nachdem die Kritik in Österreich immer größere Ausmaße annahm, entschloss sich Kanzler Kreisky 1978 zur Flucht nach vorn: Siegessicher setzte er eine Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des mittlerweile fertig gestellten Reaktors an. Am 5. November sollte entschieden werden. Die Pro- und Kontra-Lager mobilisierten vorab noch einmal alles. Wochenlang wurde agitiert, diskutiert, demonstriert. Schließlich erreichten die Gegner*innen, die der Kanzler noch im Jahr zuvor als “ein paar Lausbuben” abgekanzelt hatte, einen knappen, doch triumphalen Sieg mit 50,47 Prozent Nein-Stimmen.
Für die Atomlobby Österreichs folgten weitere Niederlagen. Noch 1978 wurde das Atomsperrgesetz ratifiziert, das die Nutzung der Kernenergie für die Energiegewinnung verbot. 1985 scheiterte ein letzter Versuch der SPÖ, dieses Gesetz wieder zu ändern. Spätestens nach Tschernobyl herrscht ein parteiübergreifender Anti-AKW-Konsens. 1999 wurde dieser auch in der Verfassung verankert. Eine andere Folge der Zwentendorf-Bewegung war das Entstehen erster ‚grüner Parteilisten‘. Seit 1986 sind die Grünen fast durchgehend im Parlament vertreten. Seit 2016 stellen sie das Staatsoberhaupt, seit 2020 sind sie in der Regierung vertreten.
Aktivist*innen in den Philippinen besiegten die ’nuclear power‘ mit ‚people power‘. Damit ist nicht nur die People Power Bewegung von 1986 gemeint, sondern auch ein dreitägiger Generalstreik in Bataan, der 1985 die gesamte Provinz lahmlegte. Aber auch andere Faktoren haben eine Inbetriebnahme des BNPP verhindert. Sicherheitspannen sorgten während des Baus immer wieder für Verzögerungen. Außerdem standen die hohen Kosten von 2,3 Milliarden US-Dollar in der Kritik, die nur mithilfe ausländischer Kredite getragen werden konnten. Die Filipin@s erbten damit nicht nur einen leer stehenden Gebäudekomplex, sondern auch Schulden.
1987 wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Zivilgesellschaftliche Organisationen hatten im Vorfeld ihre Anliegen eingebracht. Die NFPC setzte sich klar gegen Atomwaffen im Land ein. Dass tatsächlich ein Atomwaffenverbot in der philippinischen Verfassung festgelegt wurde, verbucht sie als Erfolg für sich.
Im Gegensatz dazu war das BNPP nie ganz vom Tisch. Vor allem in Bezug auf die Energiesicherheit wurde eine Aktivierung des Atomkraftwerks auf politischer Ebene immer wieder diskutiert, die Idee aber stets verworfen. Die Anlage blieb ungenutzt. Seit dem Wahlsieg von Ferdinand Marcos Jr. 2022 steht das BNPP wieder auf der Agenda, quasi ein ‚Vermächtnis’ seines Vaters. Eine klare Ansage, ob und wann das Atomkraftwerk tatsächlich in Betrieb gehen soll, gibt es noch nicht. Auf jeden Fall bräuchte es dafür eine Finanzierung aus dem Ausland. Erste Gespräche darüber gab es mit Südkorea.
Umweltpolitisch waren die Folgen in Österreich zuerst nicht nur erfreulich: Ein Kohlekraftwerk ersetzte den durch die Nichtinbetriebnahme entgangenen Strom. Mittlerweile ist Österreich aber auch ‚kohlefrei‘. Das Gelände des AKW wurde unterschiedlichen Nutzungen zugeführt: als Ort für Konzerte, Festivals, Kongresse und Katastrophenschutzübungen. Das schönste Symbol für die Energiewende ist jedoch die 2009 auf dem Gelände errichtete Photovoltaikanlage.
Von einer Energiewende sind die Philippinen noch weit entfernt. Rund die Hälfte der Stromgewinnung erfolgt aus Kohlekraftwerken. Insgesamt erfolgt über 70 Prozent der Stromproduktion aus fossiler Energie (Gas, Öl).
In seiner ersten Rede an die Nation im Juli 2022 betonte Marcos Jr. zwar, dass Investitionen in erneuerbare Energie Priorität auf seiner Klimaagenda hätten. Umweltschützer*innen zeigen sich jedoch skeptisch, denn gleichzeitig erlaube die Regierung weiterhin den Ausbau von Kohlekraftwerken. Im Bereich der erneuerbaren Energie macht Wasserkraft, nach Geothermie, den größten Anteil aus. Doch dafür werden oft umstrittene Staudammprojekte umgesetzt. Außerdem betrachtet die Regierung Atomkraft als ‚grüne Energie‘.
Der Widerstand gegen das BNPP geht also in die nächste Generation über. Im Herbst 2022 hat die Jugendgruppe Young Bataeños for Environmental Advocacy Network (Young BEAN) in Morong eine Umfrage durchgeführt, um die Stimmung der Menschen in Bezug auf das BNPP zu erheben. Die Mehrheit sei dagegen, so ihr Fazit. Allerdings versprechen sich manche Personen auch Jobperspektiven sowie Investitionen in den Straßenbau und andere Infrastruktur. Die Jugendlichen von Young BEAN leisten weiterhin Aufklärungsarbeit im Kampf für eine saubere Zukunft, in der Atomkraft aus ihrer Sicht keinen Platz hat.
Marina Wetzlmaier ist Journalistin für Print und Radio mit den Schwerpunkten soziale Bewegungen, Menschenrechte, Migration und Philippinen. Zuletzt erschienen: Die Linke auf den Philippinen. Eine Einführung. Wien: Mandelbaum Verlag (2020). Webseite: wetzlmaier.wordpress.com
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