4 | 2021, Interviews, Philippinen,
Autor*in:

Was der Linse entgeht

Philippinen, Drogenkrieg, war on drugs

Bestattungspersonal und Angehörige bei der Räumung eines Grabes von Opfern des ‚war on drugs’, nachdem die fünfjährigen Pachtverträge abliefen. © Raffy Lerma

Philippinen: Fotojournalist Raffy Lerma berichtet im Interview über Widerstand und Kunst im ‘war on drugs’. Er erzählt auch über gemeinschaftliche Rehabilitationsprogramme, Exhumierungen von Gräbern und über Trauer.

Zu Beginn des ‘Drogenkriegs‘ haben Fotojournalist*innen wie Raffy Lerma dokumentiert, was am offensichtlichsten war: Morde, außergerichtliche Tötungen, weitere Menschenrechtsverletzungen, Beerdigungen und Trauer. Oft wurden Straßen ärmerer Viertel Metro Manilas zu Tatorten. Weniger dokumentiert wurden die Geschichten und Lebensumstände von Menschen, die Drogen konsumieren oder sich in der Rehabilitation befinden. Auch die Geschichten der trauernden Mütter, ihr Schmerz und dessen Transformation in Gemeinschaftsprogrammen waren zunächst wenig präsent.

Die Zahl der ‘drogenbedingten Tötungen’ geht zwar zurück, doch das Morden dauert an. Deshalb muss der Kampf für die Rechenschaftspflicht gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen ebenfalls weiter gehen. Die gängige Regierungspraxis des ‚red tagging’ (öffentliches Markieren von Aktivist*innen als „Kommunist*innen“, was mit politischer Verfolgung einhergeht, Anm. d. Red.) sowie Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen, Arbeitsorganisator*innen, Journalist*innen oder jede*n, die/der es wagt, an der Regierung Kritik auszuüben, müssen ein Ende haben.

Es braucht die Geschichten der Familien der Opfer. Die Exhumierungen von Gräbern bedeuten eine weitere finanzielle und retraumatisierende Hürde für viele Betroffene. Dem Fotografen Raffy Lerma geht es um die Kämpfe, mit denen die Überlebenden konfrontiert sind, um neue Narrative der Selbstrepräsentation und um Verantwortlichkeit.

südostasien: Welche persönlichen Schwierigkeiten hinsichtlich des ‚Drogenkriegs’ konnten Sie als Fotojournalist während der Covid-19-Pandemie beobachten?

Raffy Lerma: Bei Beerdigungen und Exhumierungen ist es offensichtlich, dass die Armen strukturell zurückbleiben. Frühmorgens mussten sie während der Lockdowns in einer Schlange anstehen, um Regierungsunterstützung von Ayuda zu erhalten. Covid-19 trifft auch hier offensichtlich arme Bevölkerungsgruppen stärker als wohlhabendere Gruppen. Es wird mit zweierlei Maß gemessen: die Reichen feiern und werden nur verwarnt, während die Armen noch unmenschlicher behandelt werden. Einige wurden zu Beginn der Abriegelung im Jahr 2020 von Polizist*innen misshandelt. Weitere Bewohner*innen von städtischen, armen Gemeinschaften in Quezon City wurden im April 2020 festgenommen, als sie trotz eines Lockdowns auf die Straße gingen, um die Regierung angesichts ihrer Armut um Hilfe zu bitten.

Unsere Interviewpartner:

Raffy Lerma ist freiberuflicher Fotojournalist und arbeitete zuvor zwölf Jahre lang als angestellter Fotograf für den Daily Inquirer. Er berichtet seit Juli 2016 über den ‚Krieg gegen Drogen’ und gab im April 2017 seine Stelle auf, um sich auf die Dokumentation des ‚Krieges gegen die Drogen’ zu konzentrieren. Bekannt wurde er vor allem durch das viral gegangene Foto von Jennilyn Olayres, wie sie ihren erschossenen Partner Michael Siaron hält. Dieses Foto sollte später den Namen “Pietà” tragen.

Wieso sind Arme in Bezug auf Beerdigungen strukturell besonders benachteiligt?

Im ‚Drogenkrieg’ sind es meist die Armen, die getötet werden. Bei den Exhumierungen zeigt sich diese strukturelle Ungleichheit erneut. Da viele vom ‚Drogenkrieg’ Betroffene nicht viel Geld haben, können sie nur 5-Jahres-Pachtverträge für ‚Apartment-Gräber’ abschließen, die nach Ablauf des Mietvertrages geräumt werden. Die Gräber werden für die hohe Zahl der Pandemie- Toten vorbereitet. Gerade in dieser Zeit, in der die Menschen nicht arbeiten können und das Bestreiten des Lebensunterhalts eine Herausforderung ist, ist die Miete eines Grabes zu hoch.

Welche Bemühungen der Zivilgesellschaft gab und gibt es in diesen Zeiten?

Während der Duterte- Regierung haben wir schreckliche Formen der Unmenschlichkeit gesehen, darunter Menschen, die die Morde des ‚Drogenkriegs’ ermutigt und unterstützt haben. Doch auch Aktivist*innen, Medien und Institutionen, die sich der Regierung entgegenstellten, erhoben ihre Stimme. Sie wurden lächerlich gemacht. Gleichzeitig entstanden gemeindebasierte Programme in Zusammenarbeit mit der Kirche, der lokalen Regierung und sogar der Polizei. Von der Kirche initiierte Gruppen wie Paghilom, SOW: Support for Orphans and Widows oder Rise Up for Life and for Rights unterstützen die Familien der Opfer des ‚Drogenkriegs’. Später während des Verlaufs der Pandemie haben sich die community pantries gebildet. Dort sind die Menschen solidarisch. Auf Filipino sagt man:

Hindi na kailangan umasa sa gobyerno at hindi na tayo dapat umasa sa kanila.

[Es gibt keinen Grund, sich auf die Regierung zu verlassen. Wir sollten uns nicht mehr auf sie verlassen]

Lasst uns anfangen, selbst etwas zu tun. Obwohl die Menschen, vor allem in den ersten Jahren, Angst hatten, haben sich trotzdem einige zu Wort gemeldet und die Regierung kritisiert. So haben sich neben Journalist*innen auch viele Menschen aus der Zivilgesellschaft sowie Künstler*innen in ihren Arbeiten kritisch geäußert. Kulturschaffende wie BLKD, Sandata oder der Dokumentarfilm Aswang von Alyx Arumpac und andere haben in der philippinischen Gesellschaft viel zur Reflexion über die Verhältnisse beigetragen. Sie lieferten eine tiefer gehende Erklärung für die Geschehnisse und verstanden die Menschenrechtsverletzungen als ein systemisches Problem. Sie zeigten nicht nur Blutvergießen, sondern auch die Abhängigkeiten, die Gründe für das Drogenproblem und die Armut.

Philippinen, Drogenkrieg, war on drugs

Angehörige von Opfern des ‘war on drugs’ erzählen ihre Geschichten in einer vom Programm Paghilom organisierten Theateraufführung in Don Bosco, Makati. © Raffy Lerma

Wie kann Kunst helfen, den Schmerz des ‚Krieges gegen die Drogen’ zu thematisieren?

Eine der beeindruckendsten künstlerischen Bearbeitungen des Drogenkriegs war das Theaterstück Tao Po. Bei einer der Inszenierungen in Baguio erlebte ich eine sehr starke Reaktion. Eine Mutter entschuldigte sich nach der Vorführung dafür, die Regierung unterstützt zu haben. Das Stück war so eindringlich, dass es die Gemüter veränderte. Natürlich ist man als Journalist*in in seinem Schaffen begrenzt. Irgendwann kommt der Punkt, an dem Geschichten auf eine andere Art und Weise erzählt werden müssen, emotionaler, um das Herz zu erreichen. Das ist die Kraft der Kunst. In der letzten Zeit sind viele neue Kooperationen zwischen Journalist*innen, Künstler*innen und Akademiker*innen entstanden.

Was könnte unsere Sensibilität für das Thema Drogenkonsum und Rehabilitation stärken?

Gerade diejenigen, die den ‚Drogenkrieg’ befürworten, sehen Polizeigewalt und die Ermordung und Einschüchterung von Drogenabhängigen als bestes Mittel im Kampf gegen Drogenkonsum an. Bildung spielt hierbei eine große Rolle. In vielen Gesprächen mit OFWs (Overseas Filipino Workers) verteidigten sie den ‚Drogenkrieg’ leidenschaftlich. Sie fragten immer: “Was ist denn eure Lösung? Könnte ihr mir eine bessere Lösung nennen?” Wenn ich Alternativen erwähne, beginnen sie, langsam umzudenken.

Die Menschen wissen oft nicht, dass es andere Wege gibt, das Drogenproblem zu lösen. Der Großteil der Öffentlichkeit hat nur die populäre Duterte-Lösung kennengelernt. Als Reaktion auf die Suche nach einer besseren Lösung für das Drogenproblem und das Morden im Land haben wir gemeindebasierte Rehabilitationsprogramme gegründet.

Wenn es um Drogenabhängigkeit geht, gibt es bessere Lösungsansätze und ein Verständnis auf Augenhöhe für Probleme von Menschen, eine auf die Menschenwürde ausgerichtete Lösung. Programme wie Paghilom gab es vor dem ‚Drogenkrieg’ nicht. Das Programm hat mich darin bestärkt, dass es nach dem Sprichwort “es braucht eine Gemeinschaft, um ein Kind großzuziehen” auch eine Gemeinschaft braucht, um Abhängige zurück in die Gesellschaft zu bringen und ihnen zu helfen, es zu schaffen – das braucht die Hilfe von allen.

Braucht es vielleicht auch in den Medien ein neues Narrativ zum ‚Krieg gegen die Drogen’, in dem andere Geschichten erzählt werden?

Philippinen, Drogenkrieg, war on drugs

Trauernde Angehörige beim Anblick der Exhumierung. © Raffy Lerma

Wir brauchen Geschichten über die Rechenschaftspflicht, denn einige Familien und Gruppen haben sich trotz aller Widrigkeiten um Gerechtigkeit bemüht. Sie haben ihre eigenen Geschichten, die über die Gewalt hinausgehen, Geschichten, in denen es darum geht, Akteure des sozialen Wandels in ihren eigenen Gemeinschaften zu werden.

Viele Filipin@s stigmatisieren den Drogenkonsum. In den Kampagnen der Regierung werden die Drogenkonsument*innen nicht als Menschen dargestellt. Deshalb ist es wichtig, ihnen ein Gesicht zu geben. Es ist notwendig, Geschichten von Menschen zu erzählen, die Drogen konsumieren, von ihrem Weg, die Sucht mit Hilfe von gemeindebasierten Rehabilitationsprogrammen zu besiegen, und von ihrer Rückkehr als Mitglieder der Gesellschaft, um ihre Erfahrungen zu teilen.

Ich hoffe, dass mehr von diesen Geschichten veröffentlicht werden, damit die Menschen erkennen, dass Sucht ein Gesundheitsproblem ist. In den meisten Fällen ist es ein Mangel an Möglichkeiten und Ressourcen, die den Menschen auf dem Weg aus der Sucht zur Verfügung stehen. Es gibt Wege, diese Probleme zu lösen, aber das kann nicht diese brutale Methode der staatlichen Tötung sein.

Der Pakikiramay Fund ruft zu weiteren Spenden auf, um die Arbeit von RESBAK, und Paghilom mit trauernden Betroffenen der Exhumierungen längerfristig zu unterstützen.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieser Text erscheint unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz