Myanmar: Yangons koloniale Architektur ist weltberühmt. Seit 2013 versuchen Organisationen, die lokale Bevölkerung für dieses zwiespältige Erbe zu sensibilisieren. Dafür braucht es jedoch mehr als einen elitären Diskurs.
Die Küstenmetropole Yangon weist in ihrer Downtown zahlreiche beeindruckende Kolonialgebäude auf. Der Hohe Gerichtshof, die Hafenbehörde, das Strand Hotel und vor allem das Secretariat, in dem der Unabhängigkeitsheld Aung San ermordet wurde, haben unter Tourist*innen und historisch Begeisterten nahezu ikonischen Status erlangt. Bevor es 1852 zur neuen Hauptstadt von British Burma wurde, war Yangon vor allem als Standort der Shwedagon-Pagode bedeutsam, einer der heiligsten Stätten im burmesischen Therawada-Buddhismus. Unter britischer Herrschaft wurde die Stadt völlig neu gebaut. Das Straßengitter der Downtown bezeugt dies bis heute.
Fernab der historischen Zentren feudaler Macht gelegen blieb Yangon für die buddhistische Bevölkerungsmehrheit lange ein Emblem der Fremdherrschaft. Die Militärjunta, die 2005 das neu errichtete Naypyidaw im Zentrum des Landes zur Hauptstadt erklärte, zeigte damit auch ihre Abneigung gegen das demographisch, kulturell und religiös diverse Yangon. Zugleich war es diese Abneigung, verbunden mit paranoidem Isolationismus, die Yangons ‚Erhalt durch Vernachlässigung‘ ermöglichte. In den meisten südostasiatischen Großstädten wurden Kolonialbauten in zentralen Lagen schon lange durch Hochhäuser ersetzt. Seine Isolation ‚verschloss’ Myanmar für Investoren lange genug, um die koloniale Ästhetik und die mit ihr einhergehenden Spuren imperialer Herrschaft zu bewahren.
Doch die monumentalen Gebäude waren für die Stadtbevölkerung – abgesehen von der Bildungselite, die als Verwaltungskräfte und Politiker*innen dort ein- und ausgingen – keine wertvollen Erinnerungsorte. Die Bemühungen, mit der Unabhängigkeit 1948 eine neue nationale Identität zu gestalten, waren primär antikolonial und bezogen sich auf die Zeit der buddhistischen Königtümer. Über Jahrzehnte pflegte niemand die Wertschätzung kolonialer Architektur. Im Gegenteil: die urbane Bevölkerung wurde noch mehr von den Prachtbauten entfremdet, da diese (wenn auch widerwillig) von der ungeliebten Militärregierung genutzt wurden.
Die kolonialen Prachtgebäude standen seit dem Umzug der Regierung nach Naypyidaw großenteils leer. Bald wurden die ersten in Hotels, Banken und Galerien umgewandelt. Der Trend zu Neubauten bedrohte die alten Gebäude, die so lange vor sich hingedämmert hatten. Doch ab 2012/13 erlebte Yangon einen heritage boom. Mit der so genannten ‚Öffnung‘ des Landes rückte die Kolonialarchitektur ins Zentrum der globalen Wahrnehmung der Stadt. Vor allem der 2012 gegründete Yangon Heritage Trust (YHT), eine Gruppe von Aktivist*innen unter der Schirmherrschaft des Historikers Thant Myint-U, bemühte sich, die Bekanntheit des Bauerbes zu steigern.
Bald stellten geführte Stadtspaziergänge Tourist*innen in Yangon die aus Reiseführer oder onboard-Magazin bereits bekannten Gebäude näher vor. Ausländische und lokale Expert*innen, Architekt*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und auch Investoren arbeiteten an einer Umdeutung der Downtown, die die Bedeutsamkeit des Bauerbes betonte, aber historische Details und problematische Aspekte ausblendete. Heute zieren 36 blaue Plaketten ausgewählte Stätten in Yangon, die der YHT in Kooperation mit der Stadtverwaltung dort anbringen durfte.
Viele Organisationen, Unternehmen und Aktivist*innen wünschten der Stadt nach Jahrzehnten im Würgegriff des Militärs eine neue Chance. Dabei griffen sie oft auf ein nostalgisches Sehnen zurück, das bereits im kolonialen Namen von Yangon anklingt: Wer heute von Rangoon redet, beschwört etablierte Assoziationen zu einer früheren Zeit herauf, in der kultivierte Menschen aus aller Welt in Yangon ein- und ausgingen. Diese Zeit ist implizit die koloniale, wobei aber alles Negative (oder historisch allzu Komplexe) ausgeblendet wird. Damit prägt der globale Blick nun maßgeblich die Deutung dieser Hinterlassenschaften.
Stadtmarketing in Südostasien greift oft auf koloniales Bauerbe zurück. Auch in Myanmar verdrängten in den letzten Jahren die kolonialen Prachtbauten zusehends goldene Pagoden, Teakholzbrücken, Mönche und Fischer von Bildbänden und Broschüren. Diese Art von branding ist nach außen gerichtet. Der Ethnologe David Berliner hat dafür hilfreiche Begriffe geprägt:
Wer Exo-Nostalgie pflegt, kann sich demnach als Teil einer ‚transnationalen Gemeinschaft‘ fühlen, die durch einen gemeinsamen ‚Verlust‘ verbunden ist, ungeachtet eigener Betroffenheit (Berliner, ebd.: 783). In Yangon drückte sich der Erfolg von Exo-Nostalgie dadurch aus, dass koloniale Gebäude einer Nachnutzung zugeführt wurden, welche die touristisch gut konsumierbaren Fassaden erhielt – die Vergangenheit wurde ein ästhetisches Mittel zum kommerziellen Zweck. Besondere Bedeutung kommt dabei der Idee des Kosmopolitanismus zu. Unter Verweis auf die Vielfalt der Stadtbevölkerung und ihrer religiösen Stätten im Downtown evoziert dieses Wort erneut das alte Rangoon als lebhafte Hafenstadt voller Künstler*innen und Intellektueller. Dass diese Vielfalt ein Produkt imperialer Herrschaft war, bleibt außen vor. Zugleich erlaubt diese Idee des kosmopolitischen Rangoon auch Investor*innen, kommerzielle Nachnutzungsprojekte alter Bauten zu legitimieren – als Beitrag zur ‚Revitalisierung‘ der Stadt.
Das globale Interesse stand lokalem Desinteresse gegenüber: Die Stadtbevölkerung brachte den Gebäuden wenig Wertschätzung entgegen. Kann eine kommerziell und stadtplanerische nutzbare Exo-Nostalgie auch ohne korrespondierende Endo-Nostalgie funktionieren? Diese Frage stellte sich auch spätestens 2015 dem YHT und seinen globalen Partnern, wie das Beispiel der Initiative Heritage Works! (Erbe funktioniert!) verdeutlicht.
Eine Ende 2015 organisierte Veranstaltungsreihe in Yangon sollte öffentlichkeitswirksam demonstrieren, dass die Bewahrung von Bauerbe einen positiven Einfluss auf Stadtplanung hat. Heritage Works! diente darüber hinaus noch einem anderen Zweck: die Wertschätzung des kolonialen Bauerbes sollte in diesem Rahmen lokalen Kindern vermittelt werden. Was kann nachhaltiger zur Etablierung des aufkommenden Diskurses über diese Gebäude beitragen, als wenn bereits Kinder deren geschichtliche Bedeutsamkeit artikulieren?
Vor allem die Aktion Yangon streetscape through children’s eyes (Yangons Stadtlandschaft durch Kinderaugen) war aufschlussreich. Im Vorlauf zur Hauptveranstaltung im Dezember 2015 verteilte Heritage Works! vorbereitete Pappkarten an Schüler*innen innerstädtischer Schulen. Die Aufgabenstellung hatte zwei Teile: Auf die Vorderseite sollten die Schüler*innen ihren ‚Lieblingsort‘ in Yangon malen und auf der Rückseite die Zeichnung erläutern. Die Postkarten wurden eingesammelt und vor dem ansonsten nicht publikumsöffentlichen Rathaus aufgehängt. Eine Jury ehrte Sieger*innen.
Im Rahmen meiner Forschung konnte ich Hunderte dieser Karten sichten sowie Motivwahl und schriftliche Antworten der Kinder auswerten. Deutlich wurde hierbei, wie wenig diese mit der Aufgabenstellung anfangen konnten und wie eng viele Klassen beim Ausfüllen betreut wurden: ganze Stapel von Karten zeigten das gleiche (offenkundig von einem Foto abgezeichnete) Motiv. Viele der Texte reproduzierten die schlichten Wahrheiten des Denkmalschutzes oder Vorgaben der Lehrer*innen. Das Motiv des Hohen Gerichtshofs wurde unter anderem so kommentiert:
Diese Sätze sind kein Zeugnis eines ‚authentischen‘ Empfindens. Wenn man die Postkartenaktion als Erinnerungsprojekt versteht, ist vor allem deren Entstehungsprozess bedeutsam: Was bedeutet es für das größere Anliegen, die Wertschätzung der Kolonialbauten zu erhöhen, wenn vor Yangons Rathaus Hunderte von bunten Postkarten im Wind baumeln, die vorgeblich demonstrieren, wie sehr bereits Kinder das Stadtbild und einzelne Gebäude schätzen? Meines Erachtens stellt die Postkartenaktion einen spannenden Versuch da, etwas zu demonstrieren, was man eigentlich erst erzeugen will – dass Kinder ihre Stadt und deren historische Gebäude schätzen. Es kann kaum eine bessere Rechtfertigung für eine umfassende stadtplanerische Neuausrichtung im Namen von heritage geben. Aber die Postkarten zeigten mitnichten die Lieblingsorte der Kinder – vielmehr demonstrierten sie den Mangel an Vertrautheit der Schüler*innen damit, auf diese Weise über eine Stadt (oder Streetscape) nachzudenken, oder öffentliche Gebäude als etwas zu verstehen, das man mögen kann.
Diese Beobachtungen zu Heritage Works! weisen darauf hin, dass Erinnerung oft erst verinnerlicht werden muss. Die Vermittlung von exo-nostalgisch geprägten Bildern und Ideen an Kinder, verbunden mit einer affektiven Botschaft, dass diese bedeutsam seien, kann man nun als Manipulation im Dienste neoliberaler Interessen verdammen oder als aufrichtige Bemühung um (Identitäts-)Bildung loben. So oder so: gegenüber öffentlichkeitswirksamen und instrumentalen Zurschaustellungen von kulturellem oder kollektivem Gedächtnis ist Vorsicht geboten.
Um den exo-nostalgischen Blick mittelfristig abzusichern, ist es hilfreich oder sogar notwendig zu demonstrieren, dass er nicht ausschließlich ‚exo‘ ist, sondern auch von den Menschen, deren eigene Vergangenheit er betrifft, geteilt wird. Wenn vorgebliches Erbe nur von Expert*innen so verstanden wird – von Laurajane Smith als elitärer „autorisierter Kulturerbe-Diskurs“ bezeichnet (Smith, Laurajane, 2006: Uses of heritage. Routledge) – verliert es seine Aura und die rhetorische Kraft, andere in seinem Namen zu aktivieren. Erbe muss von seinen Träger*innen geschätzt werden, damit es als legitimierendes Argument dienen kann – das, so könnte man sagen, ist die eigentliche Bedeutung des Namens ‚Heritage Works!‘
Thant Myint-U, der langjährige Vorsitzende des Yangon Heritage Trust, kommentierte am 30. August 2021 auf Twitter eine Meldung über die schlechtmöglichste Einstufung von Yangon im Safe City Index 2021:
Angesichts des andauernden Ausnahmezustands im Anschluss an die Machtübernahme des Militärs im Februar 2021 ist abzusehen, dass städtisches Bauerbe und die Feinheiten von Erinnerungspolitik in der nächsten Zeit keine Rolle für das Land spielen werden.
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