2 | 2020

Insekten gegen den Welthunger?

Wild gesammelte Produkte auf einem laotischen Markt – Insekten werden seit jeher von Menschen gegessen (Ort: Luang Prabang) © Andrew Müller

Thailand: Insekten werden als nachhaltige und gehaltvolle Nahrung der Zukunft gepriesen. Am Beispiel von Thailand zeigt sich jedoch, dass diese Versprechungen angesichts sozialer Ungleichheit und nicht-nachhaltiger Praktiken irreführend sind.

Es hat sich herumgesprochen: Insekten sind die Nahrung der Zukunft. Das sagen zumindest die UN-Welternährungsorganisation FAO, einige Wissenschaftler*innen, Geschäftsleute und andere Begeisterte, gefolgt von unzähligen Medienberichten. In den Mühlen westlicher Staatsorgane sind essbare Insekten bisher durch alle Raster gefallen. Das ändert sich: Institutionen wie die EU passen ihre Regularien an, um Entomophagie – so der eurozentrische Fachbegriff für den Verzehr von Insekten – offiziell und in großem Maßstab zu ermöglichen.

Ein wachsender Markt

Die erste Weltkonferenz fand in den Niederlanden statt, die zweite in China, die dritte soll in Kanada sein. Inzwischen kann man von einer globalen Bewegung sprechen, aus der ein neuer, wachsender Wirtschaftssektor hervorgeht. Seit einigen Jahren schießen Insektenfirmen wie Pilze aus dem Boden. Noch handelt es sich um eine ausgesprochene Nische, aber manche Marktforschungsinstitute schätzen den Umsatz des Sektors für 2023 auf über 1 Milliarde US-Dollar, 2030 sollen es bereits 8 Milliarden sein. Konzerne wie Nestlé, Cargill und PepsiCo halten ein Auge auf den wachsenden Markt. Auch die Bill and Melinda Gates Stiftung hat sich an der Finanzierung von Pionierunternehmen beteiligt.

Insektenstand im Touristenzentrum Bangkoks – McDonalds ist in jeder Hinsicht nicht weit entfernt © Andrew Müller

Thailand als ‚exotisches‘ Vorbild

Das Zentrum des neuen Entopreneurship liegt im Westen, während hier gleichzeitig das Insekten-Nahrungstabu am ausgeprägtesten ist. Das wiederum ist menschheitsgeschichtlich betrachtet die eigentliche Ausnahme: Aristoteles liebte Zikaden, Maikäfersuppe aß man in Mitteleuropa gar bis ins 20. Jahrhundert, und auch heute genießt man in vielen Kulturen Heuschrecken, Käferlarven oder andere Insekten.

Die Forscherin Julieta Ramos-Elorduy hat ermittelt, dass bei über 3.000 Ethnien in 130 zumeist tropischen Ländern Insekten gegessen werden. Im neuen Entomophagie-Diskurs verweist man daher gern auf den Globalen Süden – vor allem Thailand gilt als Vorbild. Wie viele Länder Südostasiens hat es eine lange, sich transformierende aber immer noch lebendige Kultur des Insektenessens.

Warum aber interessiert sich der Westen, nach Jahrhunderten kolonialistisch ausagierter ‚Insektenfresser‘-Diskriminierung und wissenschaftlichem Desinteresse plötzlich so für den Verzehr von Insekten?

Insekten als Lösung

Das Credo lautet: Die kleinen Proteinbomben leisten einen wesentlichen Beitrag zur Lösung gewaltiger Probleme – Welthunger, Fleischkonsum, Klimawandel. Das klingt zunächst einleuchtend: Insekten setzen Biomasse schneller und effizienter in hochwertige Nährstoffe um als konventionelles Vieh. Da sie wechselwarm sind, verbrauchen sie bei gleichzeitig niedrigerem CO2-Ausstoß deutlich weniger Wasser, Land und Futter. Grillen, heißt es, setzen Futter doppelt so effizient in Körpermasse um wie Hühner und zwölfmal so gut wie Rinder. Daher, so die These, könnten sie konventionelles Fleisch auf nachhaltige Weise ersetzen. Ein Löwenanteil der globalen Treibhausgase werden nämlich von der Nutztierhaltung verursacht.

Insektenkonsum wird sogar demokratisches Potential zugesprochen, welches den Armen und Marginalisierten zugute käme. Also heißt es, mit Hilfe von Sechsbeinern ließe sich ‚die Welt retten‘. Größte Hürde sei, dass wir im Westen (noch) keine Lust auf Maden und Grillen haben. Das wollen die bereits über 200 Insektenfirmen ändern. „Wir repräsentieren eine wachsende Ernährungsrevolution […] für unsere Kinder und den Planeten“, heißt es etwa auf der Website von US-Insektensnackanbieter Chapul. Dieses “Insektenlösungsnarrativ” ist jedoch ein Trugschluss. Und zwar nicht, weil Entomophagie eklig, ungesund oder primitiv wäre.

Eigens zum Verzehr gezüchtete Riesenwasserwanze frisst Frosch – nachhaltiger wäre es womöglich, gleich den zu essen (Ort: Thailand (bei Bangkok)) © Andrew Müller

Mehr als eine kalkulierbare Proteinquelle

Die bisher gut 2000 als essbar identifizierten Arten von Insekten sind keine homogene Masse von ‚Proteinlieferanten‘. Sie sind unglaublich vielfältig – und besitzen je nach Spezies, Futter, Entwicklungsstadium, Zubereitungsweise usw. ganz unterschiedliche Nährwerte und geschmackliche Eigenschaften. Dasselbe gilt für die ökologischen Auswirkungen. So ist die in Südostasien besonders beliebte Riesenwasserwanze ein Karnivore und ihr Verzehr damit sicher nicht so nachhaltig wie das undifferenzierte Framing von essbaren Insekten suggeriert.

Außerdem sind technische Machbarkeiten nur das eine und sollten nicht über wirtschaftliche, soziale, politische Aspekte hinwegtäuschen. Besonders klar wird das beim Thema Welthunger. Die ersten zwei Sätze eines vielzitierter FAO-Report von 2013 lauten: „Es gilt als unstrittig, dass die Erde bis 2050 neun Milliarden Menschen beherbergen wird. Um sie versorgen zu können, muss sich die aktuelle Nahrungsproduktion fast verdoppeln.“ Die folgenden 200 Seiten zu essbaren Insekten unterschlagen, dass eigentlich genug Nahrung für alle da ist.

Zu dieser Einschätzung kommt selbst eine andere UN-Institution, das Welternährungsprogramm, das die weltweite Zahl der Hungernden auf 821 Millionen schätzt. „Über 90 Prozent von ihnen sind schlicht zu arm, um genug Nahrung zu kaufen“, erläutert Eric Holt Giménez, Agrarökonom und Geschäftsführer der NGO Food First. An solchen strukturellen Ungleichheiten können auch Insekten, so lecker und vielversprechend sie ernährungsphysiologisch sein mögen, nichts ändern. Ein genauerer Blick nach Thailand verdeutlicht das.

Thailand – Schattenseiten eines wachsenden Marktes

Während viele Insekteness-Traditionen auf dem Land aussterben, entsteht ein neues, immer weiter wachsendes Entomophagie-Business, Thailand ist hier Vorreiter. Die hippe Bangkoker Jugend verspeist – ähnlich wie einst ihre Großeltern – wieder Heuschrecken & Co. Nur werden sie nunmehr als Fast Food zubereitet – und sind deutlich teurer als Fleisch. Nicht alle können sich das leisten, wie die folgende Aussage eines Bangkoker Bauarbeiters im Interview mit dem Autor belegt::

„Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe als Kind alle möglichen Nahrungsmittel wie Insekten kostenlos in der Natur gesammelt. Jetzt bin ich Bauarbeiter in Bangkok und der Lohn reicht trotz der harten Arbeit selten, um mir Wasserwanzen zu kaufen – dabei esse ich die so gerne!“

Viele üblicherweise wild gesammelte Arten sind in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gegenden Thailands selten geworden. Das führt im Zusammenspiel mit der vor allem in den Städten steigenden Nachfrage zu immer höheren Preisen, die viele Menschen nicht zahlen können. Der lukrative Insektenmarkt bietet zwar neue Einnahmequellen und hat einigen armen Leuten Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet – zunächst. Im Zuge von Wachstum und Professionalisierung setzt sich jedoch zunehmend eine kleine Zahl von Profiteuren deutlich ab, darunter millionenschwere Geschäftsleute. Auf der anderen Seite stehen die vielen ungelernten Arbeiter*innen, welche die Tiere waschen, verarbeiten, zubereiten und verkaufen. Viele von ihnen sind Frauen, Kinder sowie Migrant*innen und verdienen als Tagelöhner*innen teilweise gerade ein Drittel des Mindestlohns.

Zudem exportieren arme Länder wie Laos und Kambodscha hochwertige und auch vor Ort geschätzte Insekten in die urbanen Zentren Thailands. Immerhin schafft das Insektenbusiness prekäre Jobs – besser als nichts, finden viele. Eine ältere Frau im ländlichen Nordosten Thailands jedoch sagt im Interview mit dem Autor:

„Ich glaube, es ist eine schlechte Idee, Insekten in der modernen Welt einzuführen. Benötigen diese Unternehmen viel Rohmaterial, werden sie es massenweise von uns aufkaufen, und unsere Kinder haben dann nicht genug zu essen. Wenn die Nachfrage nach Insekten plötzlich steigt, verstärkt das die Zerstörung unserer Ökosysteme und belastet die ländliche Bevölkerung zusätzlich.“

20.000 Grillenfarmen

Könnte die Zucht ein Weg sein, wenigstens das ökologische Potential essbarer Insekten zu entfalten? Thailand ist auch in diesem Bereich globaler Pionier. Es gibt nach Schätzungen der Universität Khon Kaen und des Landwirtschaftsministeriums etwa 20.000 Grillenfarmen, allesamt in den letzten gut zwei Jahrzehnten entstanden. Die dort produzierten Tiere sind zwar deutlich günstiger als wild gesammelte Insekten, aber immer noch teurer als Fleisch. Höchster Kostenfaktor ist das Futter. Es wird industriell gefertigt und muss proteinreich sein, wenn die Grillen für den Verkauf schnell und unproblematisch gedeihen sollen. Daher enthält es neben importiertem Soja auch Fischmehl – ein ökologisch hochproblematischer Zusatz.

Kinderarbeit im Insektenbusiness – so werden Heuschrecken für den Export nach Thailand vorbereitet (Ort: Talad Rong Kluea, auf thailändischem Boden, aber an der Grenze zu Kambodscha) © Andrew Müller

Eine 2017 veröffentlichte Messung des ökologischen Fußabdrucks thailändischer Grillenfarmen ergab dennoch, dass dieser etwas kleiner ist als der konventioneller Hühnerzuchten. Der Unterschied sei zwar gering, könne jedoch durch eine Intensivierung erhöht werden. Das wiederum aber, schreibt das internationale Forscherinnenteam, „könnte Kleinbäuer*innen marginalisieren und weniger sozio-ökonomische Vorteile aufweisen, da größere Zuchtanlagen viel mehr Startkapital erfordern“. Dass Insektenfarmen kein Allheilmittel sind, zeigte auch 2015 die Studie Crickets Are Not a Free Lunch. Die Nachhaltigkeitswerte der dabei analysierten Grillenzuchten waren nicht besser als die von Hühnerfarmen.

Grillenmehl für den Weltmarkt

Hinzu kommt, dass die Grillen nicht nur vor Ort verzehrt, sondern zunehmend auch – wohl recht energieaufwendig – zu Mehl verarbeitet und anschließend durch die halbe Welt transportiert werden. Immer mehr westliche Firmen bestellen ihre insektoiden Zutaten in Thailand. Das Landwirtschaftsministerium hat eigens eine Delegation der EU empfangen, um Grillenmehl-Handelsbeziehungen aufzubauen. Der Import lohnt sich für viele Firmen wegen der niedrigeren Lohnkosten: Im Vergleich zu kanadischem ist Grillenmehl aus Thailand bis zu dreimal so günstig. Im Westen landet es dann – in oft verschwindend geringem Anteil – beispielsweise in Energieriegeln. Die zumeist von Menschen gegessen werden, die eher mit Übergewicht zu kämpfen haben als mit Proteinmangel. Da es sich zumeist nicht um Hauptmahlzeiten, sondern um zusätzliche Snacks handelt, ersetzen sie in der Praxis also überhaupt kein Fleisch.

Was sagt einem all das über Insekten als ‚Nahrung der Zukunft‘?

Was als Lösung gilt, entpuppt sich eher als Teil des Problems. Werden von billiger Kinderhand entflügelte Heuschrecken oder Energieriegel mit importiertem thailändischem Fischmehlboost-Grillenmehl als Pionierprodukte einer Ernährungsrevolution propagiert, zeigt das: Der Fehler steckt im System. Im Entomophagie-Diskurs heißt es zwar, dass vermeintlich nachhaltige Insekten-Nahrungsmittel für alle erschwinglich werden, sobald ihre Produktion ausreichend automatisiert und hochgefahren ist. Dabei ist es aber nicht unwahrscheinlich, dass es in Bezug auf Zugang, Nachhaltigkeit, Tierwohl, Medikamenteneinsatz usw. weiter zu ähnlichen Widersprüchen kommt wie in der bestehenden Massentierhaltung. An den tieferen Ursachen von Welthunger und ökologischer Krise kann eine neue Ware nichts ändern, sie sogar verschärfen. Wenn Insekten primär produziert werden, um Profit zu generieren, helfen sie weder ‚dem Planeten‘ noch hungernden Menschen.

  • Artikel
Der Autor

Andrew Müller hat Sozialwissenschaften studiert und intensiv zu Insekten als Nahrung geforscht, unter anderem in Laos und Thailand. Momentan arbeitet er bei der taz im Ressort Wirtschaft und Umwelt.

  • Insekten gegen den Welthunger?

    Thailand – Insekten werden als nachhaltige und gehaltvolle Nahrung der Zukunft gepriesen. Am Beispiel von Thailand zeigt sich jedoch, dass diese Versprechungen angesichts sozialer Ungleichheit und nicht-nachhaltiger Praktiken irreführend sind.

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Andrew Müller hat Sozialwissenschaften studiert und intensiv zu Insekten als Nahrung geforscht, unter anderem in Laos und Thailand. Momentan arbeitet er bei der taz im Ressort Wirtschaft und Umwelt.

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