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Tage in Burma – 86 Jahre später

"Tage in Burma" Orwell Myanmar

Das heutige Myanmar gehörte einst zu den indischen Provinzen des British Empire. George Orwell ging mit 19 Jahren nach Burma und wurde in Mandalay an einer britischen Polizeischule zwei Jahre lang zum Kolonialpolizisten ausgebildet. © Valerie Heim

Myanmar: In „Tage in Burma“ spiegelte George Orwell 1935 die tägliche Gewalt im kolonialen Burma und gab Einblick in das rassistische Denken jener Zeit. Das ist auch heute noch sehr aktuell.

Kyauktada, eine fiktive Stadt im Norden Burmas, direkt am Fluss Irrawaddy, zu Zeiten der britischen Kolonialzeit: Hier leben um die viertausend Menschen, unter ihnen sieben Europäer*innen. Das Zentrum ihrer Welt ist der European Club, die „geistige Zitadelle, der eigentliche Sitz der britischen Macht“. Hier trifft man sich, um zusammen Gin und Whisky zu trinken, Zeitung zu lesen, Karten zu spielen und über die burmesische Bevölkerung herzuziehen.

George Orwell in Burma

Der Roman Tage in Burma wurde erstmals 1935 veröffentlicht. Orwell verarbeitet darin eigene Erfahrungen aus seiner Zeit im damaligen Burma, wo er fünf Jahre lang als Kolonialpolizist bei der Indian Imperial Police arbeitete. 1927 fuhr er auf Heimaturlaub nach England und trat seinen Posten in Burma nicht wieder an. Wie eindrücklich diese Zeit für ihn gewesen sein muss, wird beim Lesen von Tage in Burma deutlich. „Der Dienst als Offizier in Burma entsprach mir nicht und ließ mich den Imperialismus verabscheuen“, wird er auf dem Buchdeckel zitiert.

In George Orwell: Eine Biographie (1993) schreibt Michael Shelden über diese Zeit: „Vor allem konnte er die Gesichter der vielen Menschen nicht vergessen, deren Bestrafung er mitangesehen hatte. (…) Mehr als alles andere – mehr als abstrakte politische Begriffe oder Theorien von moralischer Gerechtigkeit – waren es diese anklagenden Blicke, die ihm den Dienst bei der Polizei unerträglich gemacht hatten.

Einsamkeit, Hoffnungen und Intrigen

"Tage in Burma", Orwell, Myanmar

Sommerpalast des Gouverneurs des britisch besetzten Burmas in Pyin Oo Lwin: Ungefähr so, nur etwas kleiner, hätte wohl der European Club in Tage in Burma ausgesehen haben können. © Peter Nijenhuis, Flickr CC BY-NC-ND 2.0

In Tage in Burma erzählt Orwell die Geschichte von John Flory, einem circa 35-jährigen Engländer, der Holzhändler ist und seit über 15 Jahren in Burma lebt. Flory leidet unter Einsamkeit und unter dem Leben als weißer Mann in Burma. Für ihn ist die Stadt Kyauktada mit ihren kolonialen Strukturen ein ambivalenter Ort. Im Gegensatz zu den anderen Engländer*innen stellt er die Anwesenheit der Briten in Burma in Frage und fühlt sich gefangen in dem engen sozialen Gefüge der Europäer*innen, das geprägt ist von rassistischen Wertevorstellungen und gesellschaftlichen Erwartungen. Als einer von Wenigen pflegt er eine Freundschaft mit einem ‚Orientalen’, dem indischen Dr. Veraswami. Mit ihm spricht er offen über seine kritischen Ansichten. Das auch mit anderen Menschen zu tun, dazu fühlt er sich allerdings nicht in der Lage.

Neben John Flory lernen die Leser*innen den burmesischen Distriktrichter U Po Kyin kennen. Seit vielen Jahren weiß er sein Leben durch geschickte Korruption, durch Gewalt und Intrigen zu lenken – alles strategisch geplant, um seine Stellung auch bei den Europäer*innen stetig zu verbessern. Während U Po Kyin auf sein Ziel zuarbeitet, wird Florys Leben durch die Ankunft der jungen Elizabeth aufgerührt. Die Nichte des einzigen europäischen Ehepaars der Stadt kommt mit der Absicht nach Kyauktada, einen Ehemann und eine Zukunft zu finden. Flory verliebt sich sofort und erhofft sich das Ende seiner Einsamkeit und seines Leidens. Diese Hoffnung veranlasst ihn sogar dazu, seine burmesische ‚Geliebte’ Ma Hla May, die er zwei Jahre zuvor von ihren Eltern gekauft hatte, ohne Zögern hinauszuwerfen.

„Die Ermordung eines weißen Mannes ist eine Ungeheuerlichkeit“

Als U Po Kyin einen Aufstand inszeniert und bei dessen Niederschlagung ein Engländer einen Burmesen erschießt, spitzt sich die Geschichte zu: Der Engländer wird aus Vergeltung von den Angehörigen ermordet. „Das Unverzeihliche war geschehen – ein weißer Mann war getötet worden. Wenn das geschieht, geht eine Art Schaudern durch die Engländer im Osten. Etwa achthundert Menschen werden alljährlich in Burma umgebracht; sie bedeuten nichts: aber die Ermordung eines weißen Mannes ist eine Ungeheuerlichkeit, ein Sakrileg. Der arme Maxwell würde gerecht werden, das war sicher.“

Die Wut der Europäer*innen spitzt sich zu und die gewaltgeladene Stimmung schaukelt sich hoch. Da provoziert zum Beispiel ein Engländer jugendliche Burmesen auf der Straße, um dann einen davon mit einem Stock zu verletzten. Schließlich kommt es zu einem Aufstand, der nur durch das nachsichtige Handeln Florys abgewendet wird ohne dass es zu weiterem Totschlag kommt.

Kolonialer Alltag – alltägliche Grausamkeiten

"Tage in Burma", Orwell, Myanmar

Tage in Burma war der erste Roman von George Orwell (1903-1950), der eigentlich Eric Arthur Blair hieß. © Diogones Verlag

Tage in Burma liest sich wie ein Bericht über die koloniale Lebensrealität im Burma der 1920er Jahre, geprägt von alltäglicher Gewalt und Unterdrückung. Orwell beschreibt das alles so genau, dass es sich anfühlt, als lese man ein historisches Dokument. Durch die verschiedenen Erzählperspektiven hält er die Spannung aufrecht: mal erzählt Flory, mal Elizabeth, mal U Po Kyin. Orwell lässt durch bildliche Beschreibungen der Landschaften und Ereignissen immer wieder auch ein von der westlichen Perspektive unabhängiges Leben in Burma vor den Augen der Leser*innen entstehen. Diese Bilder werden jedoch immer wieder eingeholt durch die herablassenden und rassistischen Denkweisen und Äußerungen der Weißen in Kyauktada.

Die rassistischen Ausbrüche und Kommentare der unterschiedlichen Figuren sind so drastisch und gewaltgeladen, dass sie an manchen Stellen nur schwer zu ertragen sind. Orwell verdeutlicht verschiedene Facetten von Täter*innenschaft und Schuld. Er zeigt verschiedene Gesichter der Gewalt – Gewalt, die durch koloniale Machthierarchien entsteht und auf Kategorien wie Rasse und Geschlecht zurückgreift. Diese Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und ist nicht immer als physische Gewalt sichtbar. Sie zeigt sich auch verbal in Form der ausführlichen Beschimpfungen, die die Weißen von sich geben, oder in den alltäglichen Strukturen: wenn Flory sich eine burmesische Frau ‚hält’ oder Einheimische wegen Lappalien verhaftet werden. Sie zeigt sich auch, wenn der burmesische Diener seinen Vorgesetzten mit „Heiligster!“ anspricht oder ein Engländer einem Diener einen Tritt verpasst.

Gewalt als Thema

An entscheidenden Stellen ist die Gewalt selbst das Thema, zum Beispiel wenn der junge Engländer Elllis denkt: „Ah, ein richtiger Aufstand – den Ausnahmezustand erklären und keinen Pardon geben! Liebliche, blutdürstige Bilder gingen ihm durch den Kopf. Schreiende Berge von Eingeborenen, die von Soldaten abgeschlachtet wurden. Erschießt sie, reitet sie nieder, laßt ihre Gedärme von Pferdehufen zertrampeln, ihre Gesichter von Peitschenhieben in Scheiben zerschneiden!“

Der drastische Blick in die koloniale Vergangenheit macht das Buch zu einem bedeutsamen Werk bei der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Orwell äußert wichtige Kritik am damaligen System. Jedoch entscheidet er sich dafür, die Perspektive eines weißen Engländers einzunehmen. Die vielschichtige Gewalt gegenüber der einheimischen Bevölkerung steht dabei immer im Verhältnis zu Florys Unwohlsein und seinen Ambivalenzen bezüglich des Lebens in Kyauktada. Durch diese Erzählstruktur wird Flory zum größten Opfer der Geschichte, sein Leiden füllt viele Seiten dieses Romans. Orwell nimmt innerhalb der Geschichte vorwiegend Perspektiven von Personen ein, die von dem kolonialen System profitieren. Durch das Auslassen der Perspektiven von Personen, die primär Leid und Verlust durch diese kolonialen Strukturen erlebt haben, setzt Orwell dem kritischen Potenzial seines Werkes leider selbst Grenzen.

Rezension zu: George Orwell. Tage in Burma. Diogenes Verlag. 1986. 322 Seiten

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