Indonesien: Zur neueren Entwicklungspolitik gehört die Einwirkung auf Lieferketten durch Sorgfaltspflichten. Kann Gesetzgebung zu Lieferketten die Situation der überwiegend weiblichen Beschäftigten in der indonesischen Schuhindustrie verbessern?
Im Jahr 2021 wurden in Indonesien mehr als eine Milliarde Schuhe hergestellt, davon rund 430 Millionen für den Export. 35 Millionen wurden nach Deutschland verkauft. Indonesien gehört damit für deutsche Schuhimporteure zu den bedeutendsten Produktionsländern (World Footwear Yearbook 2022). Wichtige Materialien wie Gummi oder Leder stammen zum Teil aus Indonesien, ebenso Komponenten wie Schnürsenkel.
Die Schuhproduktion in Indonesien ist weiblich: In den teils sehr großen Schuhfabriken, die für den internationalen Markt produzieren – eine Fabrik kann 40.000 Menschen beschäftigen – arbeiten überwiegend Frauen zwischen 18 und 40 Jahren. Ältere Frauen arbeiten darüber hinaus in Heimarbeit für indonesische und auch deutsche Marken. Oft erwirtschaften die Frauen das Haupteinkommen ihrer Haushalte, nicht zuletzt auch weil Männer in den Fabriken weniger oft eingestellt werden. Gleichzeitig versorgen die Frauen ihre Kinder und erledigen die Aufgaben im Haushalt. Die Last auf den weiblichen Schultern ist folglich groß.
Um mit dem geringen Einkommen die Bedarfe ihrer Familien zu decken, versuchen viele Frauen, so viele bezahlte Überstunden wie möglich zu leisten. Sie meiden das Risiko, ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Arbeitsunfälle werden oft nicht gemeldet und auch berechtigte Beschwerden über Missstände am Arbeitsplatz werden nicht geäußert, da sie bei Kolleg*innen mit Mahnungen („warning letters“) beantwortet wurden.
Hohe Produktionsziele für mehrere Arbeiter*innen im Team, zum Teil kombiniert mit Bonussystemen, erhöhen die körperliche und psychische Belastung. In den Fabriken herrscht in der Regel ‚Gruppenzwang‘. Das bedeutet, das Erreichen des Produktions-Ziels über körperliche Bedürfnisse wie Trinken, Toilettengang oder Pausen zu stellen. Wegen dieser Arbeitsorganisation, der Notwendigkeit von Überstunden sowie der Arbeitslast zu Hause fehlt den Frauen Zeit für Erholung. Andauernde Erschöpfung erschwert es, den ‚Pflichten‘ am Arbeitsplatz und zu Hause gerecht zu werden. Zudem erhöht sich das Risiko von Verletzungen am Arbeitsplatz (Saleh, D., Swastika, N., Fatikhah, R.A., Ramadhani, R., 2023, im Erscheinen, Women Workers’ OHS Under Pressure of Production Target and Social Reproductive Works: Case Studies on the Formal and Informal Sectors of Shoe and Footwear Industry in Indonesia).
Frauen, die in Heimarbeit zum Beispiel Sohlen verkleben, sind gesundheitlich noch deutlich schlechter abgesichert und erhalten noch geringere Tageseinkommen. Auch erhalten sie keinerlei Arbeits- und Gesundheitsschutz, obwohl sie zum Beispiel mit gesundheitsschädlichem, Sucht erzeugendem Kleber arbeiten. Im Krankheitsfall bekommen sie kein Gehalt (Saleh et al., s.o.). Zu weiteren Produktionsstufen – etwa der Herstellung von Komponenten wie Sohlen, Schnürsenkeln oder Nieten – ist bisher sehr wenig über die Arbeitsbedingungen bekannt.
Schon seit fast 75 Jahren ist mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Diskriminierung unter anderem aufgrund des Geschlechts verboten. Seit 2022 gehören Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu den grundlegenden Rechten und Prinzipien bei der Arbeit. Die Durchsetzung dieser Rechte und Verbote liegt in der Verantwortung der Staaten.
Spätestens mit der Verabschiedung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 2011 schrieb die internationale Staatengemeinschaft jedoch fest, dass auch Unternehmen Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte tragen, „wo immer sie ihre Geschäftstätigkeit ausüben. [die Verantwortung] besteht unabhängig von der Fähigkeit und/oder Bereitschaft der Staaten, ihre eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen […]. Sie geht über die Einhaltung nationaler Gesetze und Vorschriften zum Schutz der Menschenrechte hinaus.“ (UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 2011: 15)
Seit 2023 ist das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in Kraft und verpflichtet große Unternehmen (ab 3.000 Mitarbeitende, 2024 dann ab 1.000 Mitarbeitende) zur Achtung von Menschenrechten und einzelnen Umweltstandards in ihren Auslandsgeschäften. Der Fokus dabei liegt auf dem eigenen Geschäftsbereich und den direkten Zulieferbetrieben. In den tieferen Stufen der Wertschöpfungskette sollen Unternehmen bei vorliegenden Hinweisen auf eine Rechtsverletzung tätig werden. Zu den zu beachtenden menschenrechtlichen Risiken, die das Gesetz in § 2 Art. 2 listet, gehört auch die Missachtung des Arbeitsschutzes, etwa durch ungenügende Sicherheitsstandards, das Fehlen von Schutzmaßnahmen, das Fehlen von Maßnahmen, die körperliche und geistige Ermüdung verhindern, sowie ungenügende Ausbildung.
Als politischer Kompromiss verabschiedet, konnte im LkSG kein zivilrechtlicher Haftungsmechanismus verankert werden, der Betroffenen eine Klagegrundlage vor deutschen Gerichten bieten würde. Eine beim Bundesamt für Ausfuhrkontrolle angesiedelte Behörde, die unter anderem die jährlichen Unternehmensberichte prüft, kann jedoch Maßnahmen anordnen und Bußgelder bei Missachtung der Sorgfaltspflichten verhängen. Über ein Antragsverfahren können Betroffene auf einen Missstand hinweisen, dem die Behörde dann nachgeht.
Die sich aktuell in Aushandlung befindliche EU-Richtlinie zu nachhaltigen Sorgfaltspflichten (EU-Lieferkettengesetz, CSDDD) bietet die Chance, Rechte von Betroffenen umfassender zu stärken. Im Februar 2022 präsentierte die Europäische Kommission ihren Richtlinienentwurf. Die Mitgliedsstaaten positionierten sich im Dezember 2022. Das Europäische Parlament soll Ende Mai 2023 dazu beschließen, worauf ein weiterer Aushandlungsprozess (Trilog) folgt. Bestandteile der Regelung (Größe und Art der betroffenen Unternehmen, Reichweite der Pflichten, Ausgestaltung einer zivilrechtlichen Haftung) sind Gegenstand intensiver Auseinandersetzung.
Mit gesetzlichen Regeln zur menschenrechtlichen Sorgfalt werden Unternehmen verpflichtet, zu prüfen, welche Risiken zum Beispiel im Arbeits- und Gesundheitsschutz in ihrer Wertschöpfungskette bestehen, und bei bestehenden Risiken Maßnahmen zu Prävention und Abhilfe zu ergreifen. Studien zeigen, dass sich die Situation von Beschäftigten allein über den bisher oft gewählten Weg von Sozialauditierungen in Zulieferbetrieben nicht verbessert.
Nötig sind eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Geschäftspartnern in der Wertschöpfungskette und der Einbezug von Arbeiter*innen und ihren Vertreter*innen, um gemeinsam wirksame Maßnahmen durchzusetzen. Dies können zum Beispiel Nachweise über zu beachtende Pausen, Schulungen oder der Wechsel zu gesundheitlich unbedenklicheren Chemikalien sein.
Wesentliche Grundlage für viele Veränderungen ist die Anpassung der Einkaufspraktiken. Lieferfristen und Preise entscheiden nicht unwesentlich darüber, ob Standards überhaupt beachtet werden können. Wichtig ist daher, dass das EU-Lieferkettengesetz Einkaufspraktiken und Beschaffungsstrategien als eigenständige Präventionsmaßnahmen aufführt. Unternehmen dürfen ihre Pflichten nicht einfach an Zulieferbetriebe ‚weiterreichen‘. Anforderungen an faire Vertragsgestaltung müssen formuliert werden. Pflichten zur Konsultation relevanter Stakeholder*innen und zur Einführung gut zugänglicher Beschwerdeverfahren fördern, dass dringliche Herausforderungen wie etwa überhöhte Produktionsziele identifiziert und passende Maßnahmen ergriffen werden.
Das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen wird im Anhang des Kommissionsentwurfs unter den zu beachtenden Menschenrechten aufgeführt. Jedoch fehlt ein ausdrücklicher Hinweis auf die einschlägigen ILO-Normen zu Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Für deren Aufnahme setzt sich der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments ein. Er fordert auch explizit geschlechtersensible Sorgfaltspflichten.
Wesentlich für die Wirksamkeit der Regulierung wird auch sein, ob ein zivilrechtlicher Beschwerdemechanismus geschaffen wird, der Betroffenen einen aussichtsvollen Klageweg eröffnet. Während wirtschaftsnahe politische Kräfte aktuell auf Einschränkungen der Klagemöglichkeiten drängen, ist aus Sicht der Betroffenen der Abbau bestehender Hürden für Klagewege relevant, insbesondere eine faire Verteilung der Beweislast.
Umkämpft ist auch die Frage, wie weit die Pflichten der Unternehmen in der Wertschöpfungskette reichen. Pflichten für die gesamte Wertschöpfungskette, die von den Unternehmen gemäß der UN-Leitprinzipien nach Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos priorisiert werden, würden dafür sorgen, dass dringliche Herausforderungen als Erstes adressiert werden. Arbeitsbedingungen in Heimarbeit und auch die Herstellung von Materialien wie Leder oder Kautschuk sowie Komponenten wie Schnürsenkel würden dann unter Umständen stärker in den Fokus rücken.
Gesetze ändern jedoch nur in geringem Maße oder indirekt etwas an den grundlegenden Machtasymmetrien sowohl in der globalisierten Schuhindustrie als auch innerhalb von Gesellschaften und Haushalten. Ungerechte, neokolonial und kapitalistisch geprägte Produktionsmuster werden nur insoweit adressiert, wie sie in unmittelbaren Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen gebracht werden können. Patriarchale Strukturen, welche etwa beeinflussen, wer in Fabriken für welche Position eingestellt wird und wer im Haushalt und der Care-Arbeit welche Aufgaben übernimmt, werden sich durch Gesetze allein nicht ändern. In der zivilgesellschaftlichen Arbeit in Europa und in Indonesien muss deshalb weiterhin die Selbstorganisation von Frauen und anderer diskriminierter Gruppen sowie deren Repräsentation in Gewerkschaften und relevanten Gremien gestärkt und Engagement für Gendergerechtigkeit von allen Akteursgruppen eingefordert werden.
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