Timor-Leste: Demokratie-Messungen sehen das Land in führender Position in Südostasien. Doch Rivalitäten der alten Führungselite beeinträchtigen das Funktionieren der Institutionen.
Am 21. Mai 2023 fanden in Timor-Leste Parlamentswahlen statt. 17 Parteien traten an. Fünf von ihnen schafften den Sprung über die Vier-Prozent-Hürde. Der von Osttimors ‚Vater der Nation‘, Xanana Gusmão, geführte Congresso Nacional de Reconstrução de Timor (CNRT) legte deutlich zu und gewann 31 der 65 Sitze im Parlament. Zusammen mit der Partido Democrático (PD), die sechs Sitze beisteuert, bildet der CNRT die neunte konstitutionelle Regierung des Landes seit der Unabhängigkeit 2002. FRETILIN, der große Gegenspieler des CNRT und in der bisherigen Regierungskoalition, fiel von 23 auf 19 Sitze zurück. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 80 Prozent.
Die USA, Australien und Japan, gleichfalls die EU, UNDP und G7+ entsandten Delegationen zur Wahlbeobachtung. Sie gratulierten Timor-Leste erneut zu freien, fairen und transparenten Wahlen. Seit 2018 wird Timor-Leste im Demokratie-Ranking von Freedom House als vollständig freier Staat geführt – als einziges Land in Südostasien!
Timor-Leste hat in der Tat im letzten Jahrzehnt Vieles erreicht. „In der Realität liegt die größte Herausforderung, mit der die demokratischen Institutionen konfrontiert sind, aber nicht in ihrem Ausmaß an Engagement für demokratische Grundsätze und Werte, sondern darin, wie die Demokratie gut funktionieren kann, um wirtschaftliche und soziale Entwicklung für die Bevölkerung zu gewährleisten“, so der Politikanalyst Guteriano Neves. Dominiert wird die Politik weiterhin von der älteren Generation, die den Widerstand gegen Indonesien getragen hat. Die Rivalität innerhalb dieser politischen Elite, so Neves, beeinträchtige die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen. Diese Rivalität wird heute innerhalb der Institutionen ausgetragen. Das war nicht immer so.
Gerade einmal zehn Jahre vor der Einstufung als vollständig freier Staat im Jahr 2008 galt Timor-Leste als fragiler Staat kurz vor dem Zusammenbruch. Der Anschlag auf Präsident Ramos-Horta, dessen Umstände ungeklärt sind, bildete den traurigen Höhepunkt einer zwei Jahre andauernden Staatskrise. Der Präsident erlitt bei einem Schusswechsel zwischen abtrünnigen Soldaten und seinen Sicherheitskräften schwerste Verletzungen.
Auslöser der Staatskrise, die 2006 ihren Anfang nahm, waren insbesondere Machtkämpfe innerhalb der politischen Elite, verbunden mit einer Instrumentalisierung und Politisierung des Sicherheitssektors. Gewalt war das bestimmende Mittel zur Durchsetzung von Interessen. Rund 150.000 Menschen suchten Schutz in Lagern, die für zwei Jahre das Bild der Hauptstadt Dili prägten. Nur mit Hilfe einer internationalen Schutztruppe (unter Beteiligung von Australien, Neuseeland, Malaysia und Portugal) konnte ein Mindestmaß an Ordnung und Sicherheit wiederhergestellt werden.
Premierminister Mari Alkatiri (FRETILIN) musste 2006 zurücktreten. Bei den Wahlen 2007 trat Xanana Gusmão, bis dahin parteilos und zuvor Präsident Timor-Lestes, mit der von ihm ins Leben gerufenen Partei CNRT an. Mit der Regierungskoalition Allianz der parlamentarischen Mehrheit setzte er sich als Premierminister in die Machtposition. Die FRETILIN schäumte vor Wut und fand sich nur schwer in die Rolle einer Oppositionspartei hinein.
Nach 2008 wich die Fragilität einer verhaltenen Stabilität. Xanana Gusmão konnte als Premierminister kraft seiner hohen Autorität, die er als ehemaliger Widerstandsführer genoss, politische und soziale Konflikte sowie Spannungen im Sicherheitssektor mäßigen. Er ging dabei außergewöhnliche Wege, setzte sich über Empfehlungen internationaler Organisationen und ihrer Berater*innen hinweg. Die Regierung erkaufe sich Zeit und Frieden, hieß es damals kritisch, indem sie die Menschen in den Flüchtlingslagern finanziell entschädige und die abtrünnigen Soldaten mit einer Abfindung ins zivile Leben entlasse. Für ehemaligen Widerstandskämpfer*innen gibt es seither Pensionen. Mit großen Infrastrukturmaßnahmen schob die Regierung Wirtschaftswachstum an. Ihre ausgabenorientierte Politik führte zu einer Aufbruchsstimmung im Land. Ermöglicht wurde dieses mit den Einnahmen aus den Erdöl- und Gasfonds. Timor-Leste ist nach dem Südsudan das von Öl und Gas abhängigste Land der Welt.
2015 trat Xanana Gusmão als Premierminister zurück und stellte die Weichen für eine große Koalition mit der Oppositionspartei FRETILIN. Als seinen Nachfolger hatte er deren Parteimitglied Rui de Araújo vorgeschlagen. Die Strategie, den Parteikontrahenten mit in die Regierung zu nehmen, sollte den politischen Machtkampf neutralisieren. In die Rolle der Opposition rückte der damalige Präsident Taur Matan Ruak, gleichfalls ein Veteran, der die um sich greifende Vetternwirtschaft und Korruption anprangerte.
Xanana Gusmão selbst bekleidete nachfolgend das machtvolle Ministeramt für Planung und strategische Investitionen. Nun konnte er sich ganz der Aufgabe widmen, den 2006 geschlossenen Vertrag mit Australien über die Aufteilung der Einnahmen aus dem Öl- und Gasvorkommen des Greater-Sunrise-Feldes aufzukündigen. Laut Vertrag bildet das australische Kontinentalschelf die Seegrenze zwischen beiden Ländern. Nach Ansicht von Timor-Leste sollte, wie sonst auch üblich, die Grenze genau in der Mitte zwischen beiden Staaten verlaufen. Demnach würde das Greater-Sunrise-Feld in Timors Seegebiet liegen.
Über einen Wistleblower kam zudem ans Licht, dass Australien sich bei den Vertragsverhandlungen durch Spionage Vorteile verschafft hatte. Timor-Leste zog vor das Internationale Schiedsgericht in Den Haag und konnte 2017 die Auseinandersetzung für sich entscheiden. Chefunterhändler Xanana Gusmão wurde bei seiner Rückkehr begeistert als Held gefeiert.
2017 gewann Francisco ‚Lú-Olo‘ Guterres von der FRETILIN die Präsidentschaftswahl – mit Empfehlung von Xanana Gusmão und seiner Partei CNRT. Erstmals hielt ein Parteimitglied das Amt inne. Der frühere Guerillakommandant und ehemalige Parlamentspräsident zählt gleichfalls zur Generation von 1975.
Doch bei den anschließenden Parlamentswahlen 2017 verschoben sich dann die Machtverhältnisse: Der CNRT verlor an Stimmen, Wähler*innen wechselten zur neuen Partei PLP (acht Sitze) des früheren Präsidenten Taur Matan Ruak und erstmals zog die Partei Kmanek Haburas Unidade Nasional Timor Oan (KHUNTO) mit fünf Sitzen ins Parlament ein. Die PD erhielt sieben Sitze. 0,2 Prozent lag die FRETILIN vor dem CNRT. Das brachte ihr einen Sitz mehr im Parlament. Mari Alkatiri (FRETILIN) sah seine Stunde gekommen und forderte das Amt des Premierministers. Gusmão kündigte die große Koalition daraufhin auf.
Von 2017 bis 2023 schöpften die Parteien und zuweilen auch der Präsident alle sich bietenden Räume im demokratischen System aus, um sich gegenseitig das Regieren unmöglich zu machen: So brachten die Oppositionsparteien die Minderheitskoalition von Premierminister Alkatiri Ende 2017 durch die zweimalige Zurückweisung des Regierungsprogramms im Parlament zu Fall. Der Präsident kündigte daraufhin verfassungskonform Neuwahlen im Jahr 2018 an. Mit 34 von 65 Sitzen erlangten die als Bündnis Aliansa Mudansa ba Progresu (AMP) angetretenen Parteien CNRT, PLP und KHUNTO die absolute Mehrheit im Parlament.
Allerdings lehnte Präsident Guterres die Einsetzung von elf nominierten Regierungsmitgliedern, fast ausschließlich dem CNRT zugehörig, wegen Fehlverhaltens ab. Im Gegenzug lehnte die Regierungskoalition im Parlament Auslandsreisen des Präsidenten ab. Anfang 2020 ließ der CNRT die Koalition platzen, indem seine Abgeordneten im Parlament sich bei der Abstimmung über den eigenen Haushaltsplan enthielten. Präsident Guterres sah in Neuwahlen nicht die Lösung und entließ Premierminister Taur Matan Ruak (PLP) nicht. Bis 2023 regierte dieser mit einer Minderheitsregierung, unterstützt durch die FRETILIN, KHUNTO und PD.
Erst Anfang Oktober 2020 konnte der Haushalt verabschiedet werden. Jede Verzögerung der jährlichen Verabschiedung des Staatshaushaltes hatte enorme Auswirkungen; die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Jahre von schwachen Regierungen in Pattstellungen waren immens. Guteriano Neves fasst zusammen: „Das Scheitern der politischen Eliten, die Interessen des Landes und der Bevölkerung in den Vordergrund zu stellen, verursachte hohe Opportunitätskosten. Die politische Unsicherheit (die im Land immer noch herrscht) hat den Schwung für den Entwicklungskurs des Landes zunichtegemacht und ist auch unmittelbar für die Reihe an wirtschaftlichen Rückgängen seit 2017 verantwortlich.“
In den Demokratie-Rankings findet dies durchaus Erwähnung. So heißt es im Bericht von Freedom House 2024: „Timor-Leste hat seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 2002 kompetitive Wahlen abgehalten und einen friedlichen Machtwechsel vollzogen, doch die demokratischen Institutionen des Landes sind nach wie vor fragil, und Streitigkeiten zwischen den aus dem Unabhängigkeitskampf hervorgegangenen Führern dominieren das politische Geschehen. Ordnungsgemäße Verfahren werden durch gravierende Kapazitätsdefizite untergraben.“ Es ist also hilfreich, sich nicht allein an den Ranglisten zu orientieren.
Es herrsche Frustration darüber, dass die Rivalität zwischen FRETILIN und CNRT auch 2024 im Mittelpunkt der Politik stehe, die Politik „bestimmt werde von Männern in ihren 70ern, deren Status als Helden über jeden Zweifel erhaben ist, deren Verständnis der Welt im Jahr 2024 jedoch nicht“, schlussfolgert Anthropologe Michael Rose in seiner Analyse im East Asia Forum. Doch Timor-Leste sei ein Ort der Loyalitäten, der über demokratische Prozesse hinausgehe. Die stark personalisierte Regierungsführung von Xanana Gusmão trägt weder zur Stärkung der demokratischen Institutionen bei, noch bietet sie heute Lösungen für die komplexen Entwicklungsprobleme.
„Bei den nächsten Wahlen in vier Jahren werden wir, die junge Generation, zwangsläufig eine größere Rolle spielen“, so Domingas Silva von Associasaun Chega Ba Ita (ACbit). Die Organisation unterstützt Frauen, die sexualisierte Kriegsgewalt erlebt haben. „Wir werden vor vielen Herausforderungen stehen: Die Öl- und Gasvorkommen werden knapp, es fehlt weiterhin an gut ausgebildeten Arbeitskräften, mangels Arbeitsmöglichkeiten und aufgrund wirtschaftlicher Bedingungen verlieren wir viele junge Menschen ins Ausland. Um all diese Probleme anzugehen, müssen neue Ideen und Lösungsmodelle umgesetzt werden. Bislang sehen wir, dass politische Kräfte aus der jüngeren Generation, die in neuen Ansätzen denken, nicht gewählt wurden. Das Potenzial ist da.“
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