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Das Vexierbild Hun Sen
Kambodscha: In „Cambodia. From Pol Pot to Hun Sen and Beyond“ zeigt der Journalist Sebastian Strangio, wie die Regierung Hun Sens Wege gefunden hat, das Spiel der Demokratie für ihre eigenen Zwecke zu spielen – und lässt auch ein ‚Danach’ erahnen.
Je nach politischer Wetterlage vermuten manche Beobachter*innen, der kambodschanische Premier Hun Sen sei kurz vor dem Ende seiner nunmehr 35-jährigen Amtszeit. Einer anderen Lesart zufolge hat er – trotz internationalen Drucks angesichts zahlreicher Menschenrechtsverletzungen – alle Stränge fest in der Hand. Für gewöhnlich hängt die jeweils vorherrschende Einschätzung nicht nur von der ideologischen Grundausrichtung der (zumeist internationalen) Beobachter*innen ab, sondern auch von teils rapiden Auf’s und Ab’s zwischen der regierenden Kambodschanischen Volkspartei und der Opposition.
Bei Cambodia. From Pol Pot to Hun Sen and Beyond handelt es sich um eine Neuauflage des Buches Hun Sen’s Cambodia, das der Journalist Sebastian Strangio 2012 verfasste. Damals wirkte Premier Hun Sen sattelfest im Amt. Dann geschah allerdings, womit fast niemand gerechnet hatte: Die Regierungspartei Hun Sens verlor beim Urnengang 2013 – trotz mannigfaltiger Wahlunregelmäßigkeiten – fast ihre Mehrheit an die neu gegründete Partei CNRP. Ein Schock nicht nur für die Machtelite Hun Sens. Auch viele Beobachter*innen fühlten sich genötigt, ihre bisherigen Interpretationsmuster zu überdenken.
Nicht mehr nur ‚Hun Sens Kambodscha’
Für die Neuauflage änderte Strangio also den Titel. Nun scheint Kambodscha nicht mehr in ganz so fester Hand, nicht mehr ‚Hun Sens Kambodscha’. Und es gibt einen zaghaften Ausblick auf ein Kambodscha ‚nach Hun Sen’. Letztlich ist die Änderung des Buchtitels indes nur kosmetisch, denn viel – und das sagt wiederum einiges über die letzten sieben Jahre – hat Strangio im Buch nicht verändert. Das allerdings ist weitestgehend gut so. Denn wer Strangio liest, erfährt vor allem etwas über die eigentümliche Doppelgesichtigkeit der kambodschanischen Politik.
Diese Doppelgesichtigkeit erklärt die teils rasant wechselnden Interpretationen der Herrschaft Hun Sens. Sie nimmt ihren Anfang in der UN-Friedensmission UNTAC von 1992 bis 1993. Damals begann im Anschluss an einen Bürgerkrieg (1970-75), eine kommunistische Gewaltherrschaft (1975-1979) und an einen Stellvertreterkrieg der Großmächte USA, China, Sowjetunion und Vietnam (1979-1989) der Traum der internationalen Gemeinschaft von einem modellhaften Aufbau einer Nachkriegsdemokratie aus der Asche der Systemkonflikte. Man wähnte sich im Jahr Null eines liberalen Friedens. Alles schien möglich, sogar die Kontrolle über einen Staat wie Kambodscha zu übernehmen und ihn zu einer Demokratie mit einer Verfassung nach internationalem Vorbild umzubauen. Es sind auch die Nachwehen dieses geplatzten Traums, die Strangio in seinem Buch nachzeichnet.
Die zwei Arenen kambodschanischer Politik
Die Schwierigkeit für Beobachter*innen liegt darin, dass es seit UNTAC in Kambodscha zwei politische Arenen gibt. Zum einen den patrimonialen Herrschaftsapparat der Hun Sen-Elite, der von der vietnamesischen Besatzungsmacht in den 1980ern eingesetzt worden war und durch die Friedensmission noch gestärkt wurde. Denn letztlich brauchte es zur Verwaltung des Landes eben genau das: eine Verwaltung – und das war der bereits etablierte Machtapparat Hun Sens.
Zum anderen gibt es eine von der internationalen Gemeinschaft tief in die politische Landschaft Kambodschas verankerte aber für die eigentliche Machtpolitik wenig bedeutsame Arena der demokratischen Institutionen und der Zivilgesellschaft. Theoretisch verfügt Kambodscha seit UNTAC über demokratische Institutionen und theoretisch wird seither regelmäßig gewählt. Theoretisch gibt es eine weit reichende Verfassung, theoretisch eine florierende Zivilgesellschaft – mit einem der weltweit höchsten Pro-Kopf-Aufkommen von Nichtregierungsorganisationen. Praktisch wiederum wurde die alte politische Elite, die unter UNTAC aus dem Exil kam, seitdem in machtlose Positionen verdrängt, und zwar in die politische Arena demokratischer Institutionen und Organisationen in der Zivilgesellschaft, die für den Herrschaftsapparat bedeutungslos sind.
Lerneffekte der kambodschanischen Regierung und der Kampf der Eliten
In seinem Buch zeigt Strangio, wie die Regierung über die Jahre lernte, mit dem internationalen Druck und dem ständigen Beobachtet werden umzugehen. Sie kündigt bedeutungslose Reformen an, schiebt sie auf und lässt sie gerne auch wieder verschwinden. Sie öffnet demokratische Institutionen und schließt sie wieder. Sie bildet ‚leere’ Institutionen (etwa zur Korruptionsbekämpfung) aus oder richtet bei akutem Druck kurzweilige Kommissionen ein. Sie macht Zugeständnisse und Pläne, die, sobald der Aufmerksamkeits-, Personal- und Projektzyklus der internationalen Gemeinschaft einmal durchlaufen ist, wieder zurückgenommen werden.
Das Hauptaugenmerk von Strangio liegt darauf, wie die Regierung Hun Sens Wege gefunden hat, das Spiel der Demokratie für internationale Geber zur Absicherung von Investitionsmitteln und Entwicklungshilfen zu spielen und wie man gleichzeitig diesen institutionellen Apparat von der eigentlichen patrimonialen Machtpolitik fernhält. Denn diese läuft weiterhin über die Vergabe von Schutz, Gütern und Konzessionen an Parteitreue. Strangio nennt dieses Machtsystem „Hunsenomics“. Es fußt auf der Kontrolle von Staatsressourcen, Militär und Polizei und operiert abseits der demokratischen Arena. Die demokratische Bühne wird nur relevant, wenn der internationale Druck zwischenzeitlich steigt.
Für Hun Sen sind Demokratie und all die mit UNTAC entstandenen zivilgesellschaftlichen Institutionen ein Sammelbecken alter Eliten aus der Zeit vor den Roten Khmer. Wer Strangio liest, versteht, warum Hun Sen und seine Machtelite die Zivilgesellschaft, die politische Opposition und die internationalen Akteure als einen zusammengehörigen Machtblock ansehen, dem es lediglich um seinen Sturz gehe. Mehrfach finden sich im Buch eindeutige Äußerungen Hun Sens in diese Richtung. Die Lektüre macht auch klar, dass Hun Sen damit nicht völlig Unrecht hat. Solange Menschenrechte von allen Seiten als Instrument der Machtpolitik eingesetzt oder als solches wahrgenommen werden, wird ein Vorankommen schwierig sein – das spürt man allenthalben, wenn Strangio in seinen Berichten Machtpolitik und Einzelschicksale aufeinandertreffen lässt.
Kambodscha im Wandel
Aktuell hängt vieles von den Auswirkungen der Corona-Epidemie auf die fragile, primär auf Tourismus und Textilindustrie fußende Wirtschaft Kambodschas sowie einer neuen Großmacht ab: China. Chinas wachsender Einfluss wird von Strangio weitestgehend ausgeblendet, findet sich aber in seinem Buch In the Dragon’s Shadow: Southeast Asia in the Chinese Century [das wir ebenfalls in dieser Ausgabe rezensieren], in dem er ganz Südostasien in den Blick nimmt. Während im Buch über ‚Hun Sens Kambodscha’ immer wieder deutlich wird, welchen Spielraum die Regierung Hun Sens gegenüber internationalen Akteuren nutzt, steht das Land in Strangios China-Buch plötzlich als Spielball ‚im Schatten’ einer monolithisch wirkenden Großmacht.
Zugleich zeigen die Konflikte der letzten Jahre, dass ein gesellschaftlicher Wandel voranschreitet, ein Wandel weg vom Kampf der alten Eliten als Überbleibsel des Systemkonfliktes hin zu einer neuen politischen Generation. Hier schwelt ein neuer Konflikt der Regierung mit technokratischen und kapitalistischen Eliten. Darüber liest man leider weniger in Strangios Buch, wahrscheinlich weil er zu sehr versucht, den aktuellen Wandel in den Mustern der alten Politik einzufangen. Jedoch deuten sich Stück für Stück Konflikte mit den kapitalistischen Eliten und mit einer vom Politikstil der Partei frustrierten Mittelschicht an, die sich nicht allein mit der alten Politikerriege des Landes erklären lassen. Der neue Konflikt zwischen der Gefolgschaft um Hun Sen und Akteuren wie dem Oligarchen Kith Meng ähnelt in seinen Grundzügen jenem zwischen dem thailändischen Königshaus und Figuren wie Thailands Ex-Premier Thaksin Shinawatra. Wann der Wandel allerdings im politischen Feld der Macht Fuß fasst, lässt sich nicht vorhersagen, denn letztlich bleibt Kambodschas Innenpolitik in hohem Maße von externen Faktoren abhängig.
Das Buch behandelt zahlreiche Themen: von den Roten Khmer, über die Politik des Landes und die Einzelschicksale der Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Stil journalistischer Reportagen. Seine Stärke liegt im Lebendigwerden der politischen Geschichte über die Erzählung biografischer Zusammenhänge und das Aufeinandertreffen politischer Soziokulturen. Es ist sicherlich die genaueste, am spannendsten geschriebene und bestinformierte Geschichte Kambodschas nach den Roten Khmer und unverzichtbar, wenn man sich mit dem Kambodscha der letzten vierzig Jahre beschäftigen möchte. Nur das ‚beyond’ einer heute alternden politischen Kultur, das fehlt dann doch.
Rezension zu: Sebastian Strangio. Cambodia. From Pol Pot to Hun Sen and Beyond.Yale University Press. 2020. 334 Seiten.
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