Thailand: Ein Popmusikgenre spiegelt die Zeitgeschichte besonders gut – gerade im Hinblick auf die Arbeiter*innenbewegungen. Sein Name lautet Pleng Pue Chee Wit. Der folgende Artikel erklärt, was es mit diesem Musikstil auf sich hat und wie die bekannteste Band des Pleng Pue Chee Wit zur Marke wurde, die nun ihrerseits eine ganze Produktpalette vermarktet.
Pleng Pue Chee Wit lässt sich wörtlich mit „Lieder fürs Leben“ übersetzen. Sie entstanden in ihrer heutigen Form Mitte der 80er Jahre. Im Allgemeinen repräsentieren die Bands dieser Szene die Stimme der Generation von linken Studentenaktivist*innen, die nach dem Sturz der Kommunistischen Partei Thailands (CPT) einige Jahre zuvor in die Stadt zurückkehrten. Das Musikgenre könnte als Teil der Bewegung des Sozialrealismus angesehen werden, da sein lyrisches Hauptthema das erbärmliche Leben der Unterschicht wie der Armen, Arbeiter*innen, Bauern und Bäuerinnen darstellt. Dazu macht es auch kritische Stimmen gegen die korrupte Gesellschaft, die Reichen, die Regierung und die Politiker*innen hörbar, wie es sonst kaum jemand wagt. Deshalb bezeichnen einige so genannte progressive Liberale heutzutage dieses Musikgenre als „die Stimme von unten“.
Da die Texte von eingängiger, tanzbarer Musik begleitet sind, hat das Musikgenre aber eine viel breitere Fangemeinde. Pleng Pue Chee Wit ist nicht diese Art kommunistischer Lieder nach dem Motto „Mit-Genossen-still sitzen-und-klatschen“. Es klingt eher nach einer Kombination aus amerikanischen Protest-Folksongs der 1960-70er Jahre und Rockmusik, insbesondere Latin Rock wie von Santana. Letzteres verbindet Pleng Pue Chee Wit mit der schon vorher populären thailändischen Country-Musik (Pleng Luk Thung), die sich hauptsächlich auf Latin Dance Grooves wie Cha-Cha-Cha stützt. In dieser Hinsicht beruhigt Pleng Pue Chee Wit nicht nur die Seelen der Student*innen und Aktivist*innen, sondern unterhält gleichzeitig auch die große Masse der einfachen Arbeiter*innen. So wurde Pleng Pue Chee Wit zu einem der beliebtesten Musikgenres der thailändischen Arbeiter*innen.
Daher behaupten einige renommierte thailändische Wissenschaftler*innen, der Hauptgrund dafür, dass sich dieses Musikgenre so großer Beliebtheit erfreue, sei, dass die Fans fast nur auf die Musik hörten und nicht auf den Text. Für viele klingt das einleuchtend. Dem stimme ich nur zur Hälfte zu. Obwohl ich zugeben muss, dass der musikalische Teil sehr wichtig ist, sind die Texte meiner Meinung eben die zweite wichtige Hälfte, die die Herzen der Fans gewinnt. Was sie so beliebt macht, sind meiner Meinung nach nicht die Themen an sich, sondern die Weise, wie sie über diese Dinge sprechen. Pleng Pue Chee Wit erklärt die alltägliche Härte des Lebens thailändischer Arbeiter durch drei sehr überzeugende und leicht verständliche Ideen:
Interessant daran ist, dass dies die gleichen drei Kernelemente dessen sind, was einige Wissenschaftler*innen heute als „agrarpolitischen Populismus“ definieren. Auf diese Weise werden alle komplexen Struktur- und Klassenprobleme vereinfacht und in eine Schwarzweiß-Welt verwandelt. Es gibt nur zwei klare Gruppen von Menschen, die auf dieser Welt leben: die Guten und die Bösen.
Die Band Carabao am 6. Juni 2008 in der Schweiz © Pierre Theze, CC BY-SA 3.0
Die Guten in den Pue Chee Wit-Liedern sind diejenigen, die die Armen, das einfache thailändische Volk, die natürlichen Ressourcen, die thailändische Kultur und die thailändische Nation schützen. Oftmals sind diejenigen, die als gute Jungs dargestellt werden, Militärs und traditionelle Eliten. Die bösen Jungs das Gegenteil von alledem: die nicht-traditionellen Eliten wie korrupte Politiker und die gierigen (nicht-thailändischen) Kapitalist*innen. Dazu gehört auch das Misstrauen gegenüber der Industrialisierung und einige westliche Ideen, die als zu fremd für die thailändische Lebensweise gilt. Wie es dazu kam, möchte ich anhand einiger ausgewählter Lieder der Band Carabao, einer der berühmtesten Bands der Pleng Pue Chee Wit-Szene, nacherzählen.
Die Band wurde Anfang der 80er-Jahre von einer Gruppe Absolventen der Schule für Hochbau (Uthenthawai) gegründet. Einige von ihnen hatten ein höheres Studium an einer Universität auf den Philippinen absolviert, was einer der Gründe sein könnte, warum sie ihre Band mit dem philippinischen Wort carabao (Wasserbüffel) benannten, mit dem sie auf harte Arbeit und das bäuerliche Leben anspielen. Carabao ist die Band, die den musikalischen Teil des Pue Chee Wit-Genres auf neue Ebenen gehoben hat. Sie erkundeten und probierten nicht nur viele Musikstile mit ihren Songs aus, sondern wussten auch, wie man die Musik kreativ an die Stimmung eines jeden Songs anpasst. Carabao sind es auch, die den Cha-Cha-Cha-Rock bei Arbeiter*innen und Landbewohner*innen beliebt gemacht haben.
In den Anfängen war ihre Musik noch nicht so eingängig, ihre Texte klangen linker und nicht so populistisch. Noch auf ihrem dritten Album Wanipok (Der bettelnde Musikant) von 1983 gab es einen Songtitel Jubkang, den man mit Kulis übersetzen kann. In diesem Lied erzählt Carabao das beschwerliche Leben der Kulis, die den erdrückenden Reissack für das thailändische Volk tragen. Hier spricht Carabao noch deutlich über Arbeit im Sinne der marxistischen Abstraktion.
Auf dem nächsten Album Tor-tahan Oad-ton (Der beharrliche Gefreite), das im selben Jahr folgte, gibt es einen Song über die thailändischen Arbeiter. Der Name dieses Songs lautet Khon-niranam (Das namenlose Volk). Es erzählt die Geschichte von Arbeiter*innen in der Stadt, die aus vier Regionen des Landes ausgewandert sind, weil die schlechte Bewirtschaftung in den ländlichen Gebieten sie zwang, in der Hauptstadt Arbeit zu suchen. Da sie unqualifiziert waren, mussten sie alle verfügbaren Arbeiten annehmen – meist sehr arbeitsintensive und zugleich sehr schlecht bezahlte Jobs. Am Ende landen sie auf dem Bodensatz der Gesellschaft und niemand kümmert sich um sie. Im Vergleich zu Jubkang hat der Song Khon-niranam schon einen weniger linken Text und mit Hard Rock einen eingängigeren Musikstil. Dennoch wurden dieser und die meisten Songs aus ihrer Anfangszeit von einigen Hardcore-Fans gehört.
Der Wendepunkt kam mit der Veröffentlichung ihres fünften Albums Made in Thailand 1984. Fast alle Songs dieses Albums wurden schnell zu Hits und später zum Inbegriff des Pleng Pue Chee Wit Genres. Außerdem werden auf diesem Album die populistischen Ansichten explizit. Sie begannen, über den Schutz der thailändischen Kultur und Wirtschaft vor der „Verwestlichung“ zu sprechen. Auch andere populistische Themen wie den braven Soldaten, den guten armen Vater und Sohn, das böse rich kid, einen enteigneten Bauern und thailändische Arbeiter*innen, die thailändische Produkte kaufen, um thailändische Produzenten zu unterstützen.
Letzteres kommt im Song Raja Nguen-pon (Könige der Ratenzahlungen) vor. Dies ist ein legendärer Song, der mit seinem Thai-Latin-Rock seine unvergessliche Handschrift in der thailändischen Popkultur hinterlassen hat. In den Texten wandte sich Carabao an arme Thais, die es sich nur leisten können, Dinge auf Raten zu kaufen. Obwohl Ratenkäufe der Mehrheit der armen Thailänder*innen scheinbar ein wohlhabendes Leben ermöglichen, ist dieser Lebensstil sehr fragil. Um ihn aufrechtzuerhalten, sagt Carabao, braucht es eine Regierung, die dafür sorgt, „den Preis der Waren niedrig zu halten, den Lohn hoch zu halten, [und] niemanden den thailändischen Markt dominieren zu lassen“.
Der Song Raja Nguen-pon bei YouTube:
Dafür unterstützten die Armen mit ihren Ratenkäufen die thailändische Gesellschaft (und damit thailändische Kapitalist*innen, die sie im Gegenzug ausbeuten?). Außerdem erwähnt dieses Lied auch die Migration männlicher thailändischer Arbeiter in den Nahen Osten. Carabao hat eine ziemlich klare nationalistisch-populistische Botschaft über dieses Phänomen: „Schickt sie nicht ins Ausland, um sie wohlhabend zu machen. Es ist eine Schande. Es ist eine Schande. Thailand ist nicht der Mittlere Osten. Zu sehen, wie thailändische Landsleute gehen, ist traurig, so traurig.“
Das letzte Beispiel stammt vom Album Welcome to Thailand, das 1987 veröffentlicht wurde. In dem Song Khon Nang-neow (Menschen mit zäher Haut) haben sie zwei Sänger, die zwei betrunkene entlassene Arbeiter verkörpern, die über ihr Leben und ihre hoffnungslose Zukunft sprechen. Entlassen zu werden ist sicherlich ein ziemlich ernstes Problem, besonders, wenn man am unteren Ende der Gesellschaft steht; dennoch hat Carabao beschlossen, diese Geschichte mit schwarzem Humor zu erzählen. Das bedeutet, dass der Song sehr lustig und deprimierend zugleich ist.
Die beiden Charaktere beginnen mit den Worten: „Das Tor der Fabrik ist jetzt geschlossen, die düstere Zeit erreicht uns endlich. Der Weg ist so dunkel. Wie viele Menschen werden unsere Situation verstehen.“ Dann singen sie: „ein Proletarier zu sein, der seine Arbeit verkauft, ist verdammt hart.“ Das liegt sicherlich daran, dass Arbeitnehmer nicht genug Geld verdienen, um ihre Familien täglich zu ernähren. Es gibt immer eine Menge Ausgaben, die bezahlt werden müssen und sie haben keine Chance auf Ersparnisse. An eine Rückkehr ins bäuerliche Leben ist nicht zu denken, da ihnen das Reisfeld bereits genommen wurde. Sie haben also keine Ahnung, wie sie den nächsten Monat ohne Job überleben könnten. Im letzten Teil des Songs beginnen die beiden betrunkenen Charaktere, über einen finsteren Witz zu sprechen. Sie sagen, dass sie so stark wie Büffel sind. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied. Den Büffel kann man, wenn er alt wird, an den Schlachthof verkaufen. Aber die Arbeiter, obwohl sie eine zähe Haut wie Büffel haben, sind völlig nutzlos, wenn sie von der Arbeit weggeworfen werden. Sie glauben also, dass selbst die Büffel mehr wert sind als sie selbst.
Der Song Khon Nang-neow bei YouTube:
Ausgehend von diesen drei ausgewählten Songs würde ich behaupten, dass sie mindestens drei populistische Hauptbotschaften über thailändische Arbeiter*innen enthüllen. Erstens gäbe es absolut nichts Gutes daran, ein Arbeiter/eine Arbeiterin zu sein. Geschichten von Arbeiter*innen werden immer mit Hoffnungslosigkeit erzählt. So erzählen sie auch die Geschichten von Bauern und Bäuerinnen, die eine völlig falsche Entscheidung getroffen haben, indem sie sich zu städtischen Proletarier*innen gemacht haben. Zweitens, obwohl Carabao versucht, mit diesen Liedern über das Elend der thailändischen Arbeiter*innen zu sprechen, geben sie nur den schlechten Menschen die Schuld, nie aber der Struktur der thailändischen Gesellschaft. Anders gesagt: die Probleme der armen thailändischen Arbeiter*innen zu lösen, bedeute nur, die gierigen Menschen loszuwerden. Drittens und nach dem oben Erwähnten bedeutete dies, dass es keinen Klassenkonflikt mehr zwischen thailändischen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen gäbe. Wenn es überhaupt einen Konflikt gibt, müsse er zwischen dem thailändischen Volk und den korrupten Thais und gierigen Ausländer*innen bestehen. Anders ausgedrückt, um sich selbst und ihr geliebtes Land zu schützen, müssen thailändische Arbeiter*innen unbedingt die ‚guten thailändischen Kapitalist*innen‘ schützen und unterstützen.
Vielleicht ist es deshalb nicht verwunderlich, dass die Band Carabao nun Eigentümer der weltweiten Marke Carabao wurde, die eine breite Produktpalette vom Musikinstrument bis zum Energy Drink abdeckt. Ja, ich spreche vom Energy Drink Carabao, der aktuelle Sponsor des English League Cup. Jetzt können thailändische Arbeiter*innen nicht nur den Carabao Energy Drink kaufen, um während der Arbeit mehr aus sich herauszuholen, sondern sie können auch dazu beitragen, den Wert der Marke Carabao zu steigern, während sie in ihrer Freizeit die Fußballspiele schauen.
Es ist auch nicht verwunderlich, dass in den letzten zehn Jahren der politischen Krise Thailands die thailändischen Arbeiter*innenbewegungen und die meisten der Pleng Pue Chee Wit-Künstler*innen (außer Carabao) die ’nationalen Interessen Thailands schützen‘, indem sie ein Bündnis mit den Gelbhemden und dem People’s Democratic Reform Committee (PDRC) schlossen, die gegen Demokratie und Wahlfreiheit, dafür für traditionelle Autorität und militärische Volksbewegungen sind. Dennoch gibt es eine Sache, die ich nicht verstehen konnte und vielleicht auch nie verstehen werde: wie konnten sich die Künstler von Pleng Pue Chee Wit den Bewegungen anschließen, die thailändische Arbeiter*innen und arme Menschen, die in den Bewegungen der Rothemden sind, als nutzlose „rote dumme Büffel“ verachten und verspotten. Wie konnten sie sich den Bewegungen anschließen, die die arbeitenden Armen entmenschlichen, in deren Namen die Pleng Pue Chee Wit zu sprechen behauptet?
Bitte verstehen Sie mich hier nicht falsch. Ich sage nicht, dass die Rothemden demokratischer und arbeitnehmerfreundlicher sind. Obwohl sie die Tatsache ansprechen, dass strukturelle Ungleichheit die Mutter aller Probleme in der thailändischen Gesellschaft ist, erkennen sie den Klassenkonflikt zwischen den Arbeiter*innen und den thailändischen Kapitalist*innen nicht an. Außerdem unterscheiden sich die Rothemden nicht allzu sehr von den Gelbhemden, da beide die Arbeiter*innen nur stillschweigend unter dem einheitlichen Begriff „das thailändische Volk“ verstecken. Was der einzige Unterschied sein könnte, ist, dass die Roten die thailändischen Arbeiter*nnen bitten, sich den progressiven thailändischen Kapitalist*innen im großen politischen Kampf gegen die alten thailändischen Kapitalist*innen anzuschließen. So oder so, die Gelben oder die Roten, beide würden die thailändischen Arbeiter*innenbewegungen nur zunehmend schwächen.
Übersetzung aus dem Englischen von: Marlene Weck
Philippinen – Unter dem Klimawandel leiden die Menschen am meisten, die ihn am wenigsten verursachen.…
Philippinen /Schweiz – Die kolonialen Verstrickungen der Schweiz werden selten thematisiert. Ein Verein setzt sich…
Indonesien/Niederlande – Der Film “Sweet Dreams” beleuchtet mit eindrucksvoller Bildsprache und skurrilem Humor Traumata, die…
Indonesien/Deutschland – In einer postkolonialen Gesellschaft müssen ethnologische Museen ihre Sammlungen den Herkunftsgesellschaften zugänglich machen
Kambodscha/Südostasien – Schamanismus kann indigenen Völkern helfen, ihre Identität und ihr Territorium gegen den globalen…
Indonesien – Die Werke des Udeido-Kollektivs aus Westpapua spiegeln Hoffnungen, Erfahrungen und Kämpfe der Vergangenheit…