4 | 2020, Deutschland, Philippinen,
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Othering und Identität: Ich habe einen Namen!

Philippinen Identität

Hauswand am Hopscotch Reading Room in Berlin © Analie Neiteler

Deutschland/Philippinen: Jede Identität wird erst in der Gemeinschaft erlebt und erfahren. Unsere Autorin Analie Gepulani Neiteler macht sich auf die Suche nach philippinisch-deutscher Identität.

Ich stand in einem Kreis zusammen mit deutschen Freunden sowie mir bis dahin unbekannten Freundesfreund*innen. Sie waren alle weiß. Plötzlich hörte ich eine „Hey, asiatisches Mädchen“, rufen. Ich wusste, sie meint mich. Sie rief mich mehrmals, aber ich ignorierte sie. Sie sollte meinen Namen wissen und wenn sie ihn nicht weiß, wollte ich sie dazu bringen, vernünftig mit mir zu sprechen. Sie fragte dann „Kann ich das so sagen? Du bist doch ein asiatisches Mädchen, oder?“. Ich versuchte, möglichst unaufgeregt und lässig zu sagen, dass ich stattdessen meinen Namen Analie bevorzuge. Sie war neugierig und fragte dann ganz konkret nach meiner Herkunft. Mittlerweile versuche ich nachsichtig damit umzugehen und störe mich nicht mehr per se an solchen Situationen.

Wie fühlt sich Othering an?

So etwas nennt man Othering. Othering bedeutet, jemanden zu etwas anderem, etwas Fremden zu machen (Ogette, 2017:  exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen). Durch solche Erfahrungen werden Menschen, wie ich, als Fremde in der Heimat markiert. Überraschend ist der Ort der Geschehnisse: Mitten in Berlin. Zwischen Görlitzer Bahnhof und Kottbusser Tor. Vermutlich eine der multikulturellsten Gegenden der ganzen Bundesrepublik. Ich bin in einer ländlichen Gegend aufgewachsen, und von Unbekannten Sprüche hinterhergerufen zu bekommen wie „Sching Schang Schong“ waren Alltag für mich. Vielen Frauen ist das beklemmende Gefühl sicherlich bekannt, welches fremde Männer auslösen können, die uns ungefragt hinterherrufen, pfeifen oder ein „Hey Süße“ beim Vorbeigehen ohne Blickkontakt ins Ohr zischen.

„So etwas nennt man Othering. Othering bedeutet, jemanden zu etwas anderem, etwas Fremden zu machen.“

Mit der Kunst von Sagravi kann man sich selbst als eigenen Avatar individuell kreieren und so ein digitales ‚Ebenbild’ schaffen. © Instagram/@sagravi

Zusätzlich zum offenen Sexismus auf der Straße, kommen bei mir rassistische Sprüche wie oben genannt noch dazu. Ich dachte lange, mit meinem Umzug in die Großstadt könnte ich solchen Sprüchen entfliehen, mich in der Anonymität und Unsichtbarkeit verstecken. Diese Person – für die ich bloß das asiatische Mädchen war – erinnerte mich daran, dass ich mich nicht verstecken konnte, aber auch nicht dazu gehören sollte. Manchmal habe ich trotzdem einen ganz guten Spruch parat, um das Othering meines Gegenübers zu enttarnen, ohne dass ich dieser Person Vorwürfe mache und sie im schlimmsten Fall auch noch defensiv reagiert und sich schämt. Ich bin wütend, aber Scham halte ich trotzdem für kein konstruktives Gefühl.

Viel mehr als ‚nur’ philippinisch-deutsch

Ich bin Filipina und ich bin Deutsche. Gleichzeitig bin ich viel mehr als das. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, aber die Deutschen haben mich nie vergessen lassen, dass ich so richtig nicht hierhin gehöre. Mein ganzes Leben versuche ich, mich zu beweisen. Ich versuche, zu beweisen, dass ich dazugehöre.

Ich bin keine Nationalistin. Daher muss ich Zugehörigkeit nicht durch meine gelebte Zugehörigkeit zu einer Nation erfahren. Ich strebe trotzdem nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Tut das nicht jede*r? Ich möchte dazugehören, aber lieber so, wie ich bin. Ich möchte mich nicht verstellen müssen. Oft habe ich aber das Gefühl, die Menschen wollen es nicht sehen.

„Ich bin keine Nationalistin. Daher muss ich Zugehörigkeit nicht durch meine gelebte Zugehörigkeit zu einer Nation erfahren. Ich strebe trotzdem nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Tut das nicht jede*r? Ich möchte dazugehören, aber lieber so, wie ich bin.“

Es gibt einen Spruch, an den ich oft denken muss: Gesagt ist nicht immer gehört, gehört heißt nicht immer verstanden, verstanden heißt nicht immer einverstanden, einverstanden heißt nicht immer umgesetzt und umgesetzt heißt nicht immer beibehalten. Der Weg zu einer nachhaltigen Veränderung ist also langwierig. Wir müssen immer wieder in Dialog treten mit unserer Gemeinschaft.

Philippinische Gemeinschaft I: Utang na loob

Für mich war Identität immer ein Kampf, bei dem es darum ging, dafür einzustehen, wer ich bin und mir nicht die Sicht verblenden zu lassen von denjenigen, die mich nicht sehen können oder wollen. Meine Identität ist vielschichtig. Ich bin Deutsch-Filipina und dadurch gehöre ich der philippinischen Diaspora in Deutschland an. In Deutschland und in den Philippinen waren meine Großeltern Bauern, auch meine Eltern hart arbeitend. Nur weil meine Vorfahren gewisse Lebensentscheidungen getroffen haben, bin ich wiederum hier. In den Philippinen nennt man so etwas wohl utang na loob: Ich bin meinen Vorfahren unermessliche „innerste Dankbarkeit“ schuldig – ganz buchstäblich. Die akkumulierten Erfahrungen meiner Vorfahren mit den darauf folgenden Entscheidungen und Erfahrungen, die ich in Abhängigkeit davon getroffen habe, machen aus, wer ich bin und brachten mich dorthin, wo ich jetzt gerade stehe.

Philippinen Identität

Tambay [dt. „Abhängen“] der philippinischen Diaspora bei Kuya Juns Späti in Berlin. © Analie Neiteler

 

Philippinische Gemeinschaft II: Kapwa

Seit meinem Umzug nach Berlin und dem Beginn des Studiums kann ich mich sehr glücklich schätzen, noch mehr philippinische Deutsche oder deutsche Filipin@s in ähnlichen Identitätskrisen, wie ich sie hatte, kennen zu lernen. Weil ich mich im Studium mit der Region Asien beschäftige – insbesondere den Philippinen – versuche ich, die Welt mit Hilfe von asiatischen Philosophien zu verstehen. Der Begriff Kapwa ist ein Konzept der philippinischen Psychologie und bedeutet so viel wie „geteilte Identität“, Gleichberechtigung oder „mit anderen sein“ (Concepcion 2016). Kapwa als Begriff zu lernen, war eine Lehre für mich. Durch Kapwa konnte ich endlich ausdrücken, was ich immer gesucht habe: Gemeinschaft.

Diskriminiert oder privilegiert?

In meiner Kindheit war ich zweimal in den Philippinen, mehr Reisen waren finanziell nicht drin. Bis zu unserer ersten Reise hatte meine Mutter ihre Familie 15 Jahre nicht gesehen. Fast bis zum Abschluss meines Bachelor- Studiums habe ich mich übermäßig negativ diskriminiert gefühlt. Ich habe viel darüber nachgedacht, was ich alles nicht hatte und was mir Steine in den Weg gelegt hat. Ich fange nun an, meine Privilegien zu sehen und statt mich derer zu schämen, sie zu nutzen. Für diejenigen, die weniger privilegiert sind.

„Ich habe viel darüber nachgedacht, was ich alles nicht hatte und was mir Steine in den Weg gelegt hat. Ich fange nun an, meine Privilegien zu sehen und statt mich derer zu schämen, sie zu nutzen. Für diejenigen, die weniger privilegiert sind.“

Mein Privileg ist, dass ich gut überleben kann in dieser Welt, die vor Ungerechtigkeiten nur so strotzt. Ich kann auch besser überleben als das meine Vorfahren und Teile meiner erweiterten Familie tun können. Dass ich mich privilegiert fühle, löst in mir eine starke Solidarität aus mit denjenigen, die es nicht sind. Aber Privileg ist ein Gefühl so wie Solidarität ein Gefühl ist. Etwas schwer Greifbares, Abstraktes.

Intersektionalität: Positionierung als Empowering

Noch versuche ich selbst, mich im Netz der Intersektionalität zurechtzufinden. Intersektionalität ist ein Konzept, das von der Schwarzen Juristin Kimberlé Crenshaw entwickelt wurde, um die vielschichtige Diskriminierung in Gesellschaftsstrukturen darzustellen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung schreibt darüber in einem Heft mit Bildungsmaterial zum Konzept Intersektionalität: „Viele Menschen sehen sich in ihrem alltäglichen Leben nicht nur mit einem einzelnen Unterdrückungsverhältnis, wie zum Beispiel sexistischen Strukturen, konfrontiert, sondern befinden sich zur selben Zeit in einer prekären ökonomischen Situation und sind zusätzlich als (Post-)Migrant_innen negativ von Rassismus betroffen.“

Zu erkennen, welche Diskriminierungsformen es gibt, ist allerdings nur der erste Schritt zu gesellschaftlicher Transformation. Sich nicht selbst zu lähmen und stattdessen selbst zu ermächtigen, das geht in meinen Augen nur, wenn wir auch darauf schauen, welche Privilegien wir haben. Diese Privilegien anzunehmen, statt sich ihrer zu schämen und sie einzusetzen, kann sehr selbst ermächtigend wirken.

Die philippinisch-US-amerikanische Rapperin Ruby Ibarra, hat in ihrem Song Us (feat. Rocky Rivera, Klassy & Faith Santilla) folgende Zeilen geschrieben:

So let it be known, if you don’t already
Pinays have always been part, and
Parcel, if not, imperative and critical to the struggle
Filipinas are no strangers to wielding our own power
Of all the privileges that exist in this
World, none of which you may be a benefactor of
There is at least one you bear
And that is the privilege of having been born a Filipina
Your DNA contains building blocks made from the
Mud of over 500 years of resistance and survival
And when you are ready, sis, we’ll be right here

[Sei dir bewusst, falls du es noch nicht weißt
Pinays waren schon immer fester Bestandteil,
wenn nicht sogar notwendig und ausschlaggebend im Kampf
Von all den Privilegien der Welt,
die du vielleicht nicht hast,
hast du wenigstens ein Privileg
und das ist das Privileg, als Filipina geboren worden zu sein
Deine DNA enthält die Bausteine
aus 500 Jahren Widerstand und Überleben
Und wenn du bereit bist, Schwester, sind wir hier]

YouTube Video: Ruby Ibarra: Us (feat. Rocky Rivera, Klassy & Faith Santilla):

Nur, weil wir als philippinische Diaspora in Deutschland unsere privilegierte Situation im Vergleich zu den Philippinen verstanden haben, konnten wir uns zusammentun und zu Beginn der Corona-Pandemie die Aktion Ayuda – Hoffnung durch Aktion ins Leben rufen. Damit haben wir benachteiligte Gruppen auf den Philippinen mit Lebensmitteln versorgt sowie ein Krankenhaus in Marawi mit Covid-Schutzausrüstung. Ohne unser philippinisches Verständnis von Kapwa – dass wir zusammengehören – wäre diese diasporische Solidarität wahrscheinlich nicht möglich gewesen.

Du bist nicht allein und du gehörst dazu

Lange habe ich mich allein gefühlt mit meiner Erfahrung. Das Teilen von Erfahrungen mit Menschen, die ähnliche Lebensgeschichten haben und das Gefühl eines kollektiven Empfindens haben mir sehr gut getan. Daher habe ich in meinem Beitrag für das Buchprojekt des Sentro ng Kultura at Wika ng Austria at Pilipinas deutschsprachige sogenannte second generation Filipin@s nach ihren Erfahrungen befragt und diese zusammen getragen. Damit hoffe ich, jungen Menschen mit ähnlicher Ausgangsposition, wie ich sie hatte, Mut zu machen und ihnen das Gefühl zu geben, gehört zu werden. Ich möchte ihnen sagen: „Vielleicht haben wir beide eine ähnliche Geschichte und sei es nur die, dass deine Eltern oder ein Elternteil irgendwann nach Deutschland gekommen sind. Vielleicht hast du die Erfahrung der Migration sogar selbst gemacht und aus erster Hand miterlebt. Ganz sicher ist aber, du bist nicht allein und du gehörst dazu. Wir gehören hierher.“

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