Auf den Philippinen – wie in vielen anderen Ländern – verkompliziert eine Tabukultur den nötigen Diskurs über sexuelle und häusliche Gewalt. Kyra Lüthi, selbst Überlebende häuslicher Gewalt, kämpft mit ihrer Organisation “Breaking Silence” für die Selbstermächtigung der traumatisierten Frauen und Kinder und für starke Netzwerke der Betroffenen.
Die Zahlen zu sexueller Gewalt in den Philippinen sind erschreckend hoch: schätzungsweise sieben Millionen Kinder werden jährlich sexuell missbraucht. Vergewaltigungen sind die häufigste Form von sexuellem Missbrauch, ungefähr 12% der Taten werden zu Hause verübt. Von 100 Vergewaltigungsopfern sind 87 Mädchen. Die Entwicklung der Covid-19 Pandemie verschlimmert die häusliche Situation. Die von Gewalt betroffenen, meist Kinder und Frauen, sind nun mit ihren Tätern im Haus ‚eingeschlossen’, denn oft sind diese Teil der Familie. Sie haben keine Chance, Missbrauch zu melden oder Hilfe zu suchen. Sexuelle Ausbeutung kann leicht zu Kinderprostitution und Kinderpornographie führen. Insbesondere letzteres ist eine ‚Pandemie’ an sich, welche unter den erhöhten Quarantänemaßnahmen der virusbedingten Pandemie gestiegen ist.
Die zugrunde liegenden Probleme sind verbunden mit einer in den Philippinen vorherrschenden Tabukultur, welche rund um Themen existiert die als zu sensibel betrachtet werden, um darüber zu sprechen. Sie wurzeln zugleich in einer hartnäckigen Kultur der Diskriminierung von Frauen und Kindern in Familien und Gesellschaft. Kyra Luthi gründete die Bewegung und NGO Breaking Silence, um diese Tabukultur zu beenden. “Vergewaltigung, häusliche und sexuelle Gewalt sind die geläufigsten Tabuthemen auf den Philippinen” erklärt Kyra, “alles was mit sexueller Aktivität zu tun hat, ist ein zu sensibles Thema für Menschen auf den Philippinen. Oftmals wird es als Geheimnis und Erwachsenen-Thema betrachtet, damit Kinder erst gar keine Aufmerksamkeit für das Themenfeld entwickeln.”
Mögliches Interesse könnte mit ausreichender Aufklärung und Information gestillt werden. Jedoch verhindert die Tabukultur Sexualerziehung und Sensibilisierung aufgrund fehlender Informationen und unzureichender Kommunikationsfähigkeiten in den Familien. Auch in Schulen fehlen entsprechende Lehrpläne.
Erst 2019 hat das Bildungsministerium Richtlinien herausgebracht, um verstärkt entsprechende Unterrichtslektionen in öffentlichen Grund- und weiterführenden Schulen zu integrieren. Dabei geht es hauptsächlich darum, ungewollten Schwangerschaften von Jugendlichen, Bevölkerungswachstum und der Verbreitung sexueller Krankheiten entgegenzuwirken. Kyra weist darauf hin, dass, wenn nicht genügend über Sexualität und alle damit verbundenen Angelegenheiten und Probleme gesprochen wird, “die Leute dazu neigen, Sex häufiger und auf eine respektlose und gewalttätige Art und Weise auszuüben.
So wird die Sicherheit von Frauen und Kindern, Mädchen als auch Jungen, missachtet, und oftmals wissen diese gar nicht, dass sie Missbrauchsopfer wurden.” Ohne den erlebten Missbrauch als solchen zu erkennen, werden diese Straftaten häufig nicht gemeldet. Doch selbst wenn Betroffene es realisieren, ist der Druck der Tabukultur so groß, dass sie stumm bleiben, um Prestige und sogenannte Moral der Familie zu bewahren.
Selbst wenn die Opfer einen Weg, die innere Stärke und den Mut finden und das Verbrechen melden, sind die sozio-kulturellen und politischen Systeme nicht ausgestattet und fähig die Missbrauchsopfer angemessen zu versorgen. Gerade einmal 94 Frauenhäuser gibt es auf den Philippinen. Kyra erklärt, es gäbe nur wenige Ressourcen für medizinische Untersuchungen nach Vergewaltigungen. Das Philippine General Hospital in Manila sei eines der wenigen qualifizierten Krankenhäuser mit Gerichtsmediziner*innen, so Kyra.
Allerdings sei die Lage sehr ungünstig: “Wir haben Berichte erhalten, dass Opfer mehrere Wochen auf einen Termin warten mussten, nachdem sie ihren Fall vorgetragen hatten. Es gibt kaum bis gar keine nachfolgende Unterstützung wie beispielsweise psychologische Unterstützung. Zufluchtsorte wie Frauenhäuser sind ungenügend vorhanden und unzureichend ausgestattet, um Überlebende zu beherbergen. Unglücklicherweise sorgen finanzielle Engpässe dazu, dass außerdem Heilungsprozesse und Trauma-Aufarbeitung nicht durchgeführt werden. Symptome werden nicht normalisiert und den Betroffenen fehlt die Entwicklung von Bewältigungsfähigkeiten, welche die Genesung fördern.”
Durch den starken Einfluss von Kolonialismus und auferlegtem Patriarchat müssen Frauen weitaus mehr Hürden bewältigen, um sich Gehör zu verschaffen. Scham, Furcht, Leugnung und Trauma-bedingter Gedächtnisverlust sind einige der Hindernisse, die es erschweren, Zugang zu Hilfe und Gerechtigkeit zu erlangen. Rape culture [z.dt. Kultur der Vergewaltigung, d. Autorin] ist eine der Hauptursachen warum Kyra Breaking Silence ins Leben rief. Der Begriff der rape culture beschreibt die Einstellung der Gesellschaft dazu, sexuelle Übergriffe und Missbrauch zu normalisieren oder trivialisieren. Vergewaltigungen sind oft motiviert durch Macht, Kontrolle und Aggression. Das bedeutet auch, dass durch diese Denkweisen gewalttätige Machtausübung normalisiert wird.
“Wir wollen rape culture beenden. Wir wollen Opfer stärken und sie wissen lassen, dass es mehr als in Ordnung ist, sich lautstark zu äußern, und es nicht schambehaftet ist. Dasselbe gilt für die Gesellschaft – es sollte normal sein, über diese Themen zu sprechen. Denn je mehr diese Probleme thematisiert werden, so wie beispielsweise über harmlose Verbrechen wie Diebstahl gesprochen wird, desto eher verringern wir die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person gewalttätig wird.” Kyra führt weiter aus: “Wissen ist Macht. Würde jede Person wissen, dass Vergewaltigung und Gewalt inakzeptable Verbrechen sind, würden viele Täter möglicherweise von Straftaten abgehalten werden.”
Um den Teufelskreis der Traumatisierung zu durchbrechen, ist das Beenden der Tabukultur die Hauptpriorität, um Menschen zu schützen, ist sich Kyra sicher. “Der beste Weg ist, das Thema sexuelle und häusliche Gewalt als offenes Thema in jedem Haus, jeder Schule, Arbeitsplatz und öffentlichen Orten einzubringen. Prävention, körperliche Sicherheit und Richtlinien zum Selbstschutz, wenn man Opfer einer Straftat wird, müssen umfassend in der Öffentlichkeit besprochen werden”, äußert Kyra, und betont die Wichtigkeit des Zugangs zu Information und damit verbundener Aufmerksamkeit für die Problematik, damit jede*r auf sich und andere achten kann. Diese Lösung lässt sich nicht nur für Frauen, sondern für alle Geschlechter anwenden.
Die gesellschaftliche Transformation im letzten Jahrzehnt ging nur sehr langsam voran. Rape culture und Tabukultur verstärken sich gegenseitig, und lassen die Betroffenen nicht nur verstummen, sondern geben ihnen die Schuld an der Gewalt, die ihnen widerfahren ist. “Viele Menschen verschließen sich, wenn es um diese bestimmten Themen geht”, so Kyra. “Die Existenz der rape culture ist offensichtlich.” Sie sorgt dafür, dass Straftaten weder berichtet, noch untersucht und strafrechtlich verfolgt werden. Ungleichheiten und rape culture gibt es auch im Justizsystem , wenn die Glaubwürdigkeit der Opfer in Frage gestellt wird, sie beschuldigt und beschämt und die Vergewaltiger unzureichend verurteilt werden. “Wir wissen erst, dass jemand verletzt wurde, wenn es zu spät ist. Wenn es passiert ist, wenn eine Kindheit gestohlen wurde, wenn Unschuld, oder schlimmer, Leben genommen wurde. Die Tabukultur verschleppt und verlangsamt die gesellschaftlichen Verbesserungen.” Jüngste Vorkommnisse haben diese Themen wieder in die philippinischen Medien gebracht, als eine Polizeistation in der Provinz Quezon Frauen und Mädchen daran erinnerte , sich “anständig” anzuziehen, um nicht vergewaltigt zu werden.
Für Kyra selbst war es ein langer und schmerzhafter Prozess, um von einem Opfer zu einer Überlebenden zu werden. “Jahrelang fanden Debatten mit tausend Gründen in meinem Kopf statt, ob ich darüber sprechen sollte oder nicht. Hauptsächlich aufgrund der Reaktionen der Menschen um mich herum. Ich befürchtete, schrecklich verurteilt und beschuldigt zu werden”, so Kyra, die eben diese Reaktion sowohl selbst erfahren, als auch bei anderen Betroffenen mitbekommen hatte.
“Aber es gibt eine andere Seite, die mir Hoffnung gab – all die Menschen, die Verständnis gezeigt haben. Sie waren für mich da. Sie haben mir geglaubt und mich unterstützt. Die erste Person, die mir und an mich glaubte, mit der bin ich nun verheiratet. Und als mein Mann mich gestärkt und ermutigt hatte, war es mir möglich, andere zu erreichen, welche dieselben Erfahrungen durchgemacht haben. Ich merkte: ich bin nicht allein”, erinnert sie sich.
Kyra sah, dass andere von Gewalt betroffenen Frauen auch nur darauf warteten, dass jemand an sie glaubte. Heute gibt es einen Kreis Überlebender, welche sich gegenseitig bestärken. “Gemeinsam sind wir stärker. Es ist ehrlich gesagt, niemals einfach, darüber zu sprechen, es ist beängstigend. Aber dadurch werden Opfer eben Überlebende. Nicht nur, weil wir nicht mehr durch Ängste kontrolliert werden, sondern auch, weil wir dann als starke, die Gewalt Überwindende wahrgenommen werden.”
Jenna (Name geändert), eine der Frauen von Breaking Silence, erlebte sexuellen Missbrauch in extrem jungen Alter – mit etwa vier Jahren wurden sie und ihre wenige Jahre älteren Cousins und Cousinen von Erwachsenen erstmals zu Vergewaltigungs,spielen’ manipuliert, welche immer wieder vorkamen. “Wir wussten gar nicht was wir taten, uns wurde gesagt es sei nur ein Spiel”, erinnert sie sich. Jenna trug diese unvorstellbaren, entsetzlichen Erinnerungen jahrelang mit sich herum, durchlebte immer wieder traumatisierende Scham- und Schuldgefühle. Eines Tages nahm sie ihren Mut zusammen und besuchte eine der Veranstaltungen von Breaking Silence.
Kyra empfing sie mit offenen Armen, und vor allem mit offenen Ohren. Jenna’s Erinnerungen brachen aus ihr heraus, und durch Kyra konnte sie realisieren, dass keine der Taten ihre Schuld oder die ihrer Cousinen und Cousins waren. Wissend, dass sie nun eine Familie von Überlebenden hat, die sich gegenseitig auffangen und aufrichten, hat diese Bewegung ihr geholfen, ihre eigene Stille zu durchbrechen, über sexuelle Belästigung und Missbrauch zu sprechen und die Aufmerksamkeit auf das Thema zu richten. Jenna und Kyra planen, gemeinsam ein Gespräch mit allen Betroffenen zu suchen, um sowohl einen Abschluss, als auch den wahren Täter zu finden.
Über solche Themen zu sprechen ist ebenfalls verbunden mit einem langsamen Aufkommen von Feminismus in der philippinischen Kultur und Gesellschaft. Für Kyra wird Feminismus immer offensichtlicher, da junge Menschen mutiger in ihrer Aussprache werden. Jedoch sei “Feminismus ein Konzept das viele Menschen auf den Philippinen nicht verstehen” bemerkt Kyra, und erklärt, wie Konservatismus und religiöse Kultur die Akzeptanz progressiver Bewegungen einschränkt. Doch sie ist hoffnungsvoll: “Mit dem Aufschwung der jüngeren Generation und mit einer Bevölkerung, die zur Hälfte aus unter 25-jährigen besteht, werden solche Traditionen stark verändert werden.
Beispielsweise war in den frühen 2000er Jahren nur ein einziger Frauenhaarschnitt akzeptiert und verbreitet. Mädchen, die ihre Haare sehr kurz geschnitten haben, wurden sofort als ,Lesben’ oder burschikos betrachtet. Heutzutage ist das kein Problem mehr.” Kyra erläutert den Grund hierfür: “Nicht immer hat es mit Sexualität zu tun, allerdings sind die Menschen heutzutage etwas freier. Ein weiteres Beispiel ist, dass es für die philippinische Kultur schwierig war zu akzeptieren, dass “Jungs auch weinen”. Weinen wurde als etwas Unmännliches betrachtet, als Schwäche. Nun sind die Leute aber empathischer und Emotionen definieren nicht länger vermeintlich das Geschlechts oder die sexuelle Orientierung.
Kyra hat sich schließlich in eine widerstandsfähige Persönlichkeit verwandelt. Das führt sie darauf zurück, dass sie sich bewusst mit den an ihr begangenen Verbrechen auseinandergesetzt hat. Dazu beigetragen hat auch das Sicherheitsnetz der Menschen um sie herum. Mit diesem Wissen möchte sie nun ein Sicherheitsnetz für alle Betroffenen erschaffen.
Sie möchte ihre Bewegung wachsen lassen und mit mehr öffentlicher Aufmerksamkeit Projekte starten, sodass ein Netzwerk Überlebender und Unterstützer*innen weltweit aufgebaut werden kann. Dieses soll sowohl Psycholog*innen, Berater*innen, Therapeut*innen, juristische und politische Einrichtungen integrieren. Es soll offen sein für jede betroffene Person oder Verbündete.
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