1 | 2024

Neue Rhetorik – alte Brutalität

Zivilgesellschaftliche EDSA People Power Revolution Gedenkveranstaltung am 25. Februar 2024. © AMP

Philippinen: Straflosigkeit und schwere Menschenrechtsverletzungen halten auch unter Präsident Marcos Jr. weiter an. Die internationale Staatengemeinschaft vertieft diplomatische Beziehungen, ohne Menschenrechtsschutz zur klaren Kondition zu machen.

Im Mai 2022 gewann Ferdinand Marcos Jr., Sohn des Ex-Diktators Marcos Sr., die philippinischen Präsidentschaftswahlen. Marcos‘ Wahlerfolg lässt sich unter anderem auf eine langjährige, strategische Desinformationskampagne zur Reputation seiner Familie zurückführen. Im Vergleich zu seinem Vorgänger pflegt Präsident Marcos Jr. keine aggressive Rhetorik und präsentiert seine Regierung als kooperationsbereit. In unterschiedlichen internationalen Foren hat er das Engagement seiner Regierung für die Menschenrechte bekräftigt. Dennoch führt Marcos Jr. die repressive Politik der Vorgängerregierung weiter.

Kein Ende der Polizeigewalt

Trotz des vermeintlich neuen Schwerpunktes der Anti-Drogen-Kampagne auf Rehabilitation finden drogenbezogene Tötungen und Polizeigewalt weiterhin statt. Seit Marcos Jr.‘s Amtsantritt bis Ende April 2024 gab es laut der Dokumentation von Dahas, einem Projekt im Third World Study Center der University of the Philippines, bereits über 600 drogenbezogenen Tötungen. Dahas zeigte zudem, dass es im ersten Jahr der Regierung von Marcos Jr. bereits mehr drogenbezogene Tötungen als im letzten Jahr der Duterte-Regierung gab. Der sogenannte ‚Krieg gegen die Drogen‘ unter Ex-Präsident Duterte (2016–2022) kostete offiziellen Statistiken zufolge 6.252 Menschen das Leben. Menschenrechtsgruppen gehen von mindestens 27.000 drogenbezogenen Tötungen aus.

Demonstration gegen die Rückkehr der Marcos-Familie in den Präsidentenpalast. © Raffy Lerma

Der internationalen Gemeinschaft präsentiert Marcos Jr. in Sachen Menschenrechte ein „verbessertes Bild“. Klare Maßnahmen, an denen tatsächliche Fortschritte gemessen werden können, fehlen jedoch. Die internationale Gemeinschaft scheint dennoch ihren zuvor noch sehr kritischen Ton gegenüber der aktuellen Regierung gemäßigt zu haben. Dies ist vermutlich auf die aktuelle politische Rolle der Philippinen in der Indo-Pazifik-Region zurückzuführen. Im Zuge der zunehmenden geopolitischen Spannungen gewannen die Philippinen größere Bedeutung für die internationale Sicherheitspolitik.

Schwachstellen des dysfunktionalen Justizsystems

Die philippinische Regierung beharrt darauf, ein funktionierendes Justizsystem zu besitzen. Dennoch kam es unter Marcos Jr. nur zu einer von insgesamt zwei Verurteilungen in drogenbezogenen Tötungsfällen seit 2016. Das Gerichtsurteil vom 27. Februar 2024 im Tötungsfall des 17-jährigen Jerhode „Jemboy“ Baltazar unterstreicht das Fortbestehen von Polizeigewalt und die Herausforderungen des philippinischen Justizsystems. Baltazar wurde im Zuge einer Anti-Drogen-Operation am 2. August 2023 in Navotas in Metro-Manila von mehreren Polizisten erschossen. Baltazar war unbewaffnet und leistete keinen Widerstand gegen die staatlichen Sicherheitskräfte, die ihn mit einer gesuchten Person verwechselt hatten. Zeug*innenaussagen, eine Autopsie der sterblichen Überreste von Baltazar sowie der Tatortuntersuchungsbericht enthielten ausreichend Beweise. Dennoch verurteilte das Gericht nur einen der sechs angeklagten Polizisten, Gerry Maliban, zu lediglich vier Jahren Haft wegen Totschlag. Laut Einschätzung des Richters habe es sich nicht um Mord gehandelt, weil keine Absicht zur Tötung vorlag.

Die philippinische Regierung zeigt keinen politischen Willen, die Täter*innen von schweren Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Bis dato weigert sich die Regierung, mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vollumfänglich hinsichtlich dessen Ermittlungen zu mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenzuarbeiten. Dabei handelt es sich um außergerichtliche Hinrichtungen, die im Rahmen von Rodrigo Dutertes ‚Krieg gegen die Drogen‘ während seiner Amtszeit als Präsident der Philippinen sowie als Bürgermeister und Vize-Bürgermeister von Davao City begangen wurden. Auch wenn die Philippinen den IStGH verlassen haben, ist dieser – entgegen der Behauptung der philippinischen Regierung – weiterhin zuständig für den Zeitraum von 2011 bis 2019.

Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger*innen

Gedenken an die Opfer von Dutertes ‚Krieg gegen die Drogen‘. © Raffy Lerma

Auch unter Präsident Marcos Jr. schrumpft der zivilgesellschaftliche Handlungsfreiraum stetig weiter. Seine Regierung kriminalisiert Menschenrechtsverteidiger*innen gezielt, wobei sie die Schwachstellen des dysfunktionalen Justizsystem sowie Gesetze zur Terrorismus- und Geldwäschebekämpfung nutzt. Fälle von sogenanntem red-tagging von Menschenrechtsverteidiger*innen durch Regierungsbeamt*innen haben sich seit Marcos‘ Amtsantritt gehäuft. Red-tagging bezeichnet das Brandmarken von Individuen und Organisationen als terroristisch. Die umstrittene National Task Force to End Local Communist Armed Conflict (NTF-ELCAC) wendet seit ihrer Gründung im Jahr 2018 kontinuierlich und gezielt red-tagging gegen Menschenrechtsverteidiger*innen an. Infolge dieser Praxis kommt es oft zu weiteren Einschüchterungen, Diffamierungen, Kriminalisierungen, physischen Angriffen und auch zur Tötung von Menschenrechtsverteidiger*innen. Zwei UN-Sonderberichterstatter*innen haben im Zuge ihrer Reisen in die Philippinen im November 2023 sowie Januar 2024 die Auflösung der NTF-ELCAC empfohlen.

In zahlreichen Fällen erheben Staatsanwält*innen Anklage und Richter*innen lassen Verfahren zu, ohne entlastende Beweise zu berücksichtigen. Die Gerichtsverfahren von Fällen fabrizierter Anklagen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen ziehen sich auch unter der Regierung von Präsident Marcos Jr. aufgrund überlasteter Gerichte, langsamer Bürokratie und Korruption innerhalb des Justizsystems über Jahre hin. Konstruierte Tatvorwürfe, die sich oft auf gefälschte Beweise und Falschanschuldigungen stützen, sollen Menschenrechtsverteidiger*innen diskreditieren und möglichst lange im Gefängnis halten. Typische Anklagepunkte sind Mord, Brandstiftung, illegaler Besitz von Schusswaffen und Sprengstoffen oder Terrorismusfinanzierung. Bei diesen Anklagen ist eine Freilassung gegen Kaution nur in Ausnahmefällen möglich.

Unter Marcos Jr. fand auch das umstrittene Anti-Terrorismus-Gesetz von 2020 vermehrt Anwendung gegen Aktivist*innen, die auf Basis des Gesetzes fälschlicherweise als Terrorist*innen öffentlich gebrandmarkt wurden. Das Anti-Terrorismus-Gesetz ist vor allem wegen seiner äußerst weit gefassten und vagen Definition von Terrorismus ein hochgradig problematisches Gesetz. Personen und Organisationen können selbst bei Fehlen jeglicher Beweise von dem Anti-Terrorismus Council (ATC) als „terroristisch“ eingestuft werden. Verdächtige können bis zu 24 Tage ohne Haftbefehl festgehalten sowie ihre Bankkonten und die ihrer Organisationen eingefroren werden. Das Anti-Terrorismus-Gesetz hat die Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger*innen institutionalisiert. Im Juni 2023 wurden vier Aktivist*innen der Cordillera Peoples Alliance in Baguio mittels des Gesetzes offiziell zu Terrorist*innen erklärt. Die vier Aktivist*innen erfuhren über eine Pressemitteilung der ATC erst einen knappen Monat später von der Resolution. Kurz darauf wurden ihre privaten Konten sowie die ihrer Verwandten und Organisation eingefroren.

Nach wie vor verschwinden Aktivist*innen

Präsident Ferdinand Marcos Jr. hält eine Wahlkampfrede im Rahmen der „UniTeam Grand Rally“ in General Trias, Cavite am 22. März 2022. © AMP

Unter Marcos Jr. wurden zudem vermehrt Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen von Menschenrechtsverteidiger*innen verzeichnet. Im Januar 2023 verschwanden Dyan Gumanao und Armand Dayoha in Cebu City. Einige Tage später tauchten die zwei Aktivist*innen wieder auf und berichteten, wie die Polizei sie entführt und misshandelt hatte. Bis heute kämpfen sie für Gerechtigkeit. Die Polizei streitet eine Involvierung in den Vorfall weiterhin ab. Die Untersuchungen der Menschenrechtskommission haben auf Basis von Überwachungskameraaufnahmen den Namen einer Person und eines Motorrads identifizieren können, die in die Entführung verwickelt waren und dem Geheimdienst des philippinischen Militärs zugeordnet werden konnten. Eine Strafanzeige konnte bisher nicht erwirkt werden. Im September 2023 wurden die Umweltaktivistinnen Jonila Castro und Jhed Tamano nahe Metro Manila entführt. Später präsentierte die Regierung die beiden im Rahmen einer Pressekonferenz und behauptete, sie hätten sich als Kämpferinnen des bewaffneten Aufstands ergeben. Diese widersprachen und erklärten, das Militär habe sie entführt. Eine Klage wegen angeblichen Meineids wurde abgewiesen, doch nun droht ihnen eine Anzeige wegen Verleumdung.

Das Verschwindenlassen von Menschenrechtsverteidiger*innen ist ein gängiges Mittel zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft, auf das vor allem autokratische Regierungen immer wieder zurückgreifen. Auch während der Militärdiktatur von Marcos Jr.‘s Vater (1965-1986) wurden mehr als 900 Menschen entführt, wovon viele Aktivist*innen waren. Die Philippinen verabschiedeten 2012 als erstes Land in Asien ein Gesetz zur Kriminalisierung der Praxis des Verschwindenlassens. Dieses Gesetz wurde bis heute nicht genutzt.

  • Artikel
Die Autorin

 Astrud Lea Beringer hat Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert und viele Jahre in Südostasien verbracht. Dort hat sie u.a. zum Thema Klimawandel-Resilienz in Thailand geforscht und durch Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit die Landrechtsbewegung auf den Philippinen unterstützt. Den Fall Sicogon hat sie durch die Mitarbeit in der Graswurzelorganisation RIGHTS von 2018 bis 2019 unmittelbar begleitet.

  • Neue Rhetorik – alte Brutalität

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  • Profitgier statt Solidarität

    Die Philippinen sind eines der Länder, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Sechs Jahre nach dem Super-Taifun Yolanda leben noch immer Tausende Menschen in provisorischen Behausungen. Der Wiederaufbau dient großen Unternehmen, die aus der Notsituation der Menschen Nutzen schlagen.

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Astrud Lea Beringer

Astrud Lea Beringer hat Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert und viele Jahre in Südostasien verbracht. Dort hat sie u.a. zum Thema Klimawandel-Resilienz in Thailand geforscht und durch Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit die Landrechtsbewegung auf den Philippinen unterstützt. Den Fall Sicogon hat sie durch die Mitarbeit in der Graswurzelorganisation RIGHTS von 2018 bis 2019 unmittelbar begleitet.

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