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Nachtlandschaften von Ilocos. Eine Kulturgeschichte

Die Stadt Vigan nach Einbruch der Dunkelheit: Die Ilocano-Nacht im 19. Jahrhundert war eine Zeit der Interaktion zwischen der übernatürlichen und der natürlichen Dimension © lizenzfrei, Quelle: xphere

Philippinen: Während mit der Nacht gewöhnlich Schlaf und Ruhe in Verbindung gebracht werden, erschließt die kulturgeschichtliche Analyse der Nacht als Landschaft kultureller Aktivitäten verschiedene Perspektiven des Lebens einer bestimmten Gesellschaft. Die folgende Untersuchung widmet sich der Nachtlandschaft im 19. Jahrhundert in der Region Ilocos.

 

Die Grundlage der Untersuchung bieten dabei die übersetzten Schriften des Ilocano-Schriftstellers Isabello de los Reyes, um die Vorstellungswelt der Ilocanos in den nördlichen Philippinen zu beschreiben – unter besonderer Berücksichtigung der übernatürlichen Wesen, ihrer Charakteristika und ihrer Interaktionen mit der Bevölkerung. Die Daten belegen auch die Auswirkungen des vom Katholizismus und den Spaniern herrührenden christlichen Glaubens auf die Vergegenwärtigung, Rekonstruktion oder Abschaffung gewisser übernatürlicher Wesen in der Vorstellungswelt der Ilocanos jener Epoche. Die Nacht wird damit nicht nur zum Kontext der Interaktion zwischen den Menschen und dem Übernatürlichen, sondern auch ein Ort der Auseinandersetzung und der sozialen Konstruktion der Vorstellungswelt in Ilocos.

In den Philippinen ist Dr. Resil B. Mojares einer der bekannten Autoren, die Kulturgeschichte in ihren Werken thematisieren. In Waiting for Mariang Makiling präsentiert Mojares [1] Details, die in historischen Quellen der philippinischen Kultur wenig Beachtung finden und das umfangreiche und vielfältige Netzwerk von Bedeutung und Machtverhältnissen zeigen, durch die diese kulturellen Artefakte, Traditionen und Vorstellungen mit einander verwoben sind. Diese Untersuchung will diesem Ansatz nacheifern, indem sie die Kulturgeschichte des unwahrscheinlichsten Aspekts der Ilocano-Gesellschaft in der Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts rekonstruiert: die Nacht [2].

Mit der Rekonstruktion der Kulturgeschichte der Nacht in Ilocos während des 19. Jahrhunderts will die Untersuchung auch dem folgen, was Tim Edensor [3] in Bezug auf die positive Betrachtung der Dunkelheit bzw. der Nacht im Allgemeinen vorschlägt. Dies wird durch die Betrachtung der Nacht als Ort für die Schaffung von Kultur und nicht nur als Zeit für Angst und Ruhe erreicht.

Die Mitte und das späte 19. Jahrhundert war eine wichtige Epoche in der Geschichte von Ilocos, weil sich in ihr nicht nur zahlreiche Ilocano-Revolten und Wanderungen der Igorot ereigneten, sondern auch die Geburt eines Ilocano, der zum Dokumentar dieser Kultur und Geschichte wurde: Isabello de los Reyes [4].

El Folklore Filipino und Historia de Ilocos: Eine Sammlung von Vorstellungen und Praktiken der Ilocano

Isabello de los Reyes wurde 1864 in Vigan geboren. Er hatte nicht das Glück, wie seine Zeitgenossen in Europa zu studieren, aber im Vergleich zu anderen ilustrados wie Pardo de Tavera, José Rizal und Paterno bezeichnet Mojares (2006; 255) [5] de los Reyes als den „unorthodoxesten“ Gelehrten seiner Zeit, da er nicht bestrebt war, die philippinische Geschichte in eine westliche Universalgeschichte einzubetten. Sein Ziel war es, ein Archiv philippinischer Kultur zu schaffen, indem er die Aufmerksamkeit und Betonung auf die Hervorhebung des multi-kulturellen Charakters der philippinischen Nation legte (Mojares 2006; 255-287).

El Folklore Filipino und Historia de Ilocos können als seine Hauptwerke erachtet werden, zumal sie 1887 jeweils eine Silber- bzw. eine Goldmedaille bei der Weltausstellung in Madrid erhielten. Und bei der Rekonstruktion der Kulturgeschichte der Nacht in Ilocos im 19. Jahrhundert sind sie die wertvollsten Quellen. Aus der 2014 übersetzten Historia de Ilocos von de los Reyes geht hervor, dass die Nacht in Ilocos in dem Moment beginnt, in dem die Sonne vollständig am Horizont versunken ist. Auf Ilocano heißt der Moment apagsuripuet oder apagsipnget, was grob als Dämmerung zu übersetzen ist. Sipnget bedeutet Dunkelheit.

Die nachfolgende Tabelle zeigt auf Grundlage von de los Reyes‘ El Folklore Filipino (1994) die übernatürlichen Wesen, ihre Charakteristika und ihre Aktivitäten während der Nacht.

Übernatürliche Wesen Charakteristika Aktivitäten in der Nacht
Katatao-an / Ilocos Sur
Sangkabagi / Ilocos Norte (35-39)
„Ein und dasselbe. Ilocanos in Ilocos Norte haben nur einen anderen Begriff für dieses Wesen.“ (35)

„Manchmal unsichtbar, erscheinen in menschlicher Gestalt oder als Riesen und benutzen eine fliegende banca.“ (35)

„Weder Geister noch Gespenster.“ (37)

„Leben unsichtbar in einigen Bäumen und man sagt, sie seien befreundet mit Geistheilern oder katalonan.“ (37)

„Baum Anitos.“ (37)

„Gehen zu einsamen Orten wie Piraten und suchen nach Kadavern.“ (35)

„Erscheinen mitten in der Nacht und durchqueren Fenster und Löcher.“ (35)

„Wecken ihre Opfer mit kaum hörbarer Stimme und veranlassen sie, in einem barangay zu sitzen, das um 1 Uhr morgens durch den Weltraum fliegt und die Erde in 30 Minuten umrundet.“ (37)

„Verbieten ihren Freunden, den Rosenkranz zu beten, zur Messe zu gehen, sich zu bekreuzigen oder ihren religiösen Pflichten als Christen nachzukommen.“ (37)

Pugot Ein Wesen, das verschiedene Gestalten annehmen kann, „manchmal die einer Katze mit glühenden Augen; gelegentlich die eines finsteren Hundes, der langsam an Größe zunimmt, oder die eines schwarzen Riesen von beängstigenden Dimensionen.“ (53)

„Haushalts Anitos.“ (53)

Anioaas „Ein unsichtbarer Schatten, der sich vom menschlichen Körper löst und das tut, was der Verstorbene zu Lebzeiten getan hat.“ (239) Gegen 8 Uhr abends kann man in die Kirche gehen und anioaas zuhören und klar ihre Schritte hören. (239)
Old vieja (Frau) Eine Frau, von der die maibangbangon oder Geistheiler ihre Inspiration beziehen. (63) Erscheint in Träumen während einer Masernepidemie und bietet Mais an; jene, die ihn annehmen, erkranken. (63)

Die folgenden Tabellen zeigen verschiedene Formen von Aberglauben in Verbindung mit Gegenständen, Himmelskörpern, übernatürlichen Wesen und Aktivitäten insbesondere zu nächtlicher Zeit (de los Reyes 1994).

Himmelskörper, nachts sichtbar
Mond / bulan – wird als Heimat von Kabunian / Bathala angesehen. (59)

Kometen – die Chinesen glauben Ilocanos, dass Kometen Hunger und Unglück ankündigen. (61)

Sternschnuppen / Layap – Ilocanos glauben, dass sie etwas mit Liebe zu tun haben.

„Die einfachen Menschen glauben, wenn sie einen Knoten ins Taschentuch machen, sobald ein layap fällt, können sie in dem Knoten den babato (wundersamen Stein der Liebe) einschließen.“ (61)

„Es gibt Zeiten in der Nacht, zu denen man das Klingen der Glocken im Himmel hören kann. Wer dem zuhört, wird lange leben.“ (125)

Tiere, Pflanzen und unbeseelte Objekte
Babato (Ilocos Norte), Ginginammul (Ilocos Sur) – kleine Steine mit wundersamen Kräften. (71) z.B.: Stein von der Banane kann nur nachts erworben werden.(71)

Wenn Hähne nachts alarmierend krähen, dann weil ein sangkabagi sie stehlen wird. (39)

„Wenn die Hähne sich bei Dämmerung in Bäumen sammeln, kräht einer. Wenn kein anderer Vogel antwortet, bedeutet das, dass der Hahn seinen Besitzer verflucht.“ (99)

„Ein Glühwürmchen ist die Lampe eines bösen Geistes.“ (101)

Menschliche Aktivitäten
Ilocanos setzen ein Kruzifix auf ihr Bett oder an die Tür ihrer Hütte, um den sangkabagi daran zu hindern, sich zu nähern. (39)

Es ist verboten, bei Dämmerung den Boden zu kehren, um nicht unsichtbare Wesen zu beleidigen, die sich durch Verursachung von Krankheit rächen können.

„Jemand, der ein Ereignis träumt, kann erwarten, dass das genaue Gegenteil davon eintrifft.“ (103)

„Es ist schlecht, nachts zu pfeifen, weil es Geister anlockt.“ (103)

„Wenn ein Junggeselle von einer Junggesellin träumt, wendet er die Kissen, sodass sie auch von ihm träumt.“ (105)

„Wer mit dem Kopf in Richtung Süden oder Osten schläft, wird krank erwachen.“(109)

„Wer in Ilocos Norte nachts pfeift, wird dünn.“ (109)

„Es ist nicht gut, kurz vor der Abenddämmerung im Fluss zu baden, weil dann noch die sangkabagis ihr Bad nehmen.“ (109)

„Wenn sich Ilocanos des Nachts an Kleidung erinnern, die sie zum Trocknen aufgehängt haben, gehen sie nicht hinaus, um sie zu holen. Stattdessen warten sie bis zum nächsten Tag, um sie erneut zu trocknen. Man glaubt daran, dass die sankagabis die Kleidung benutzen und die Nutzung verbieten, ehe die Sonnenstrahlen sie gereinigt haben. Andernfalls kann es tödliche Krankheiten nach sich ziehen.“ (111)

Die Ilocano-Nacht im 19. Jahrhundert war eine Zeit der Interaktion zwischen der übernatürlichen und der natürlichen Dimension – durch die Intervention übernatürlicher Wesen und durch die Aktivitäten von Objekten oder Tieren, die angeblich mit diesen übernatürlichen Wesen in Beziehung standen. Durch diese Interaktion bildeten sich nächtliche Praktiken und Vorstellungen der Ilocanos heraus.

Kolonialer Einfluss

Die spanischen Kolonisten bemächtigten sich des Bewußtseins der Filipin@s , indem sie die babailans und katalonans sowie die anitos, die einst Grundlage der indigenen Religion und der Erziehung und Bildung in den prä-spanischen philippinischen Gemeinschaften waren, an den Rand drängten. (Salazar 2004) . Von Belang ist hierbei der Einfluss des Katholizimus in Ilocos, welcher seit der Ankunft der Spanier und der Errichtung von Villa Fernandina (Vigan) als Hafenstadt 1572 unter Führung von Juan de Salcedo sowie der Ankunft der Augustiner 1574 in der Region Fuß fasste.

Die Einführung des Katholizismus sorgte sowohl für eine alternative Interpretation als auch für Ergänzungen des Übernatürlichen im Bewußtsein der Ilocanos. Ein Beispiel ist die Hinzufügung der sirena zum Ilocano-Konzept von litao – oder wie de los Reyes sie benennt – des anito des Wassers, des Meeres und der Flüsse (de los Reyes 1994, 45). Die sirena wurde Frau von litao und führte zu dessen Bedeutungsverlust, da man von nun an die Geschichte der sirena als Königin des Meeres, die Männer verzaubert und ertränkt, stärker betonte.

Ein weiteres Beispiel ist sangkabagi, der von seinem anito-Status her ein Wesen repräsentiert, das gegen die Kirche ist und einem Dämon ähnelt, der verzweifelt versucht, die Menschen durch Bestechung und das Anbieten übernatürlicher Kräfte vom Glauben fernzuhalten und mit dem Kruzifix als Waffe daran gehindert wird, Christen Schaden zuzufügen (de los Reyes 1994, 37) [7]. Tatsächlich wurden mit der Ankunft des Christentums die lokalen übernatürlichen Wesen neu dargestellt als Feinde der neuen Religion – wie der sangkabagi in ständigem Kampf mit dem katholischen Glauben.

Dies zeigt, dass die Bedeutungsminderung und Fehlrepräsentation der indigenen übernatürlichen Wesen Teil der Mechanismen der Kolonisierung waren unter der Herrschaft der Strategie der reduccion [8].

Durch den Sieg im Kampf gegen die übernatürlichen Wesen mittels Schriften und Fehlrepräsentationen gewannen die Spanier nach und nach die Oberhand im Einfluss auf die Gedankenwelt der Ilocanos und boten eine alternative und mächtigere übernatürliche Quelle an Stelle der indigenen Konstrukte an.

Schlussfolgerung

Während die Nächte in städtischen Zentren wie Vigan, Candon, Laoag und San Fernando durch jährliche Feste und andere von den Spaniern eingeführte, christliche oder katholische Traditionen belebt wurden, blieben die meisten Nächte in Ilocos im 19. Jahrhundert verwunschen oder teilweise regiert von alten Vorstellungen, wie denen von lokalen übernatürlichen Wesen und anderem Ilocano-Aberglauben.

Die Nacht, die allgemein mit Schlaf und Ruhe in Verbindung gebracht wird, hat sich als Zeit für viele Aktivitäten erwiesen. Diese Aktivitäten repräsentieren nicht nur die sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Aspekte der Ilocano-Gesellschaft, sondern auch ihr Glaubenssystem und ihre Beziehung zur Umwelt.

Im Ilocos Sur des 19. Jahrhunderts ist die Nacht Ort verschiedener Konflikte insbesondere religiöser Natur, wobei die lokalen Glaubenssysteme der Ilocanos an den Rand gedrängt und angegriffen werden. Die Angriffe auf die lokalen Glaubenssysteme bescherte der christlichen Kirche mehr Macht über die Iloconos, die Rettung vor den bekämpften Wesen durch Befolgung katholischer Lehren und Riten suchten. Es ist interessant zu beobachten, dass die Nächte in Ilocos als eine Zeit sozial konstruiert waren, in der Angst herrschte, aber keine physische Bedrohung – vielmehr vorgestellte Bedrohung durch zwei Quellen des Übernatürlichen: die lokalen und die katholischen Konstrukte.

Daher ist die Nacht in Ilocos im 19. Jahrhundert Ort kultureller Produktion und des Konflikts von Vorstellungen, die bei entsprechender weiterer Aufmerksamkeit Einsichten in weitere bislang unbekannte Tatsachen der Ilocano-Kultur und ihres Erbes erbringen können. Die Nacht in den ihr gebührenden sozio-kulturellen Kontext zu stellen, eröffnet Forschungsaufgaben, die Kulturhistoriker in Zukunft beschäftigen sollten.

Übersetzung aus dem Englischen von: Jörg Schwieger

 

Quellenverweise:

  • [1] Mojares, R. (2002) Waiting for Mariang Makiling: Essays in Philippine Cultural History. Quezon City: Ateneo De Manila University Press.
  • [2] Die Ilocanos sind eine ethno-linguistische Gruppe im Tiefland der Region 1 der Philippinen, der Ilocos Region, im nördlichen Teil der Insel Luzon.
  • [3] Edensor, T. (2013) „Reconnecting with Darkness: Gloomy Landscapes, Lightless Places“ in Social and Cultural Geography, Volume 14, Issue 4. Taylor and Francis Online. Eingesehen am 1. Dezember 2015.
  • [4] Delos Reyes, I. (2014) History of Ilocos Sur, Volume 1 and 2. Peralta-Imson, M.E. (trans). Quezon City: University of the Philippines Press.
  • [5] Mojares, R. (2006) Brains of the Nation: Pedro Paterno, T.H. Pardo de Tavera, Isabelo Delos Reyes and the production of modern knowledge. Quezon City: Ateneo De Manila University.
  • [6] Salazar, Z. (2004) Kasaysayan ng Kapilipinuhan: Bagong Balangkas. Quezon City. Eingesehen am 10. August 2014.
  • [7] Delos Reyes, I. (1994) El Folk-lore Filipino. Dizon, S. and Peralta-Imson, M.E. (trans). Quezon City: University of the Philippines Press.
  • [8] Resil Mojares (2002, 87-107) in Waiting for Mariang Makiling: Essays in Philippine Cultural History, definiert reduccion nicht nur als Prozess der Reduzierung verstreuter Stammessiedlungen an einem Ort, sondern auch der Reduzierung von tradierter Kultur und Systeme zur einfacheren Verwaltung.
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Der Autor
Reidan M. Pawilen (Hauptautor) ist Dozent am Institut für Sozialwissenschaften an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der University of the Philippines Los Baños. Er studierte Sozialwissenschaften, Geschichte und Politikwissenschaften an der University of the Philippines Baguio und schloss den Masterstudiengang Geographie an der University of the Philippines Diliman ab.
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Ryan Alvin M. Pawilen (Co-Autor) ist Dozent am Institut für Sozialwissenschaften an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der University of the Philippines Los Baños. Er studierte Sozialwissenschaften, Ethnologie und Psychologie an der University of the Philippines Baguio und Philippine Studies mit dem Fokus auf soziokulturellen Studien auf den Philippinen an der University of the Philippines Diliman.
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