Indonesien/Timor-Leste: Felix K. Nesi erzählt in seinem Roman „Die Leute von Oetimu“, wie Gewalt und Konflikte während der Ära Suharto seine Heimat geprägt haben.
Der vielfach ausgezeichnete Debütroman von Felix K. Nesi „Die Leute von Oetimu“ spielt in einem fiktiven Dorf im indonesischen Westtimor an der Grenze zu Timor-Leste. Die Lebensgeschichten der Protagonisten sind eng mit der kolonialen Vergangenheit und den komplexen politischen Umbrüchen Indonesiens verwoben. Nesi verknüpft auf gelungene Weise nüchterne Beschreibung und Humor. Die Veröffentlichung seines Romans in deutscher Sprache, führte ihn im November 2024 zu Lesungen nach Berlin, Köln und Basel.
südostasien: Wie waren die Reaktion in Indonesien und Timor-Leste auf den Roman?
Felix K. Nesi, geboren 1988 im Dorf Nesam-Insana, Westtimor, gehört zu den aufstrebenden Stimmen der indonesischen Literatur. Er ist Mitbegründer der Komunitas Leko, die sich für Alphabetisierung einsetzt, sowie einer Bibliothek und eines Literaturfestivals in Westtimor. Geforscht hat er zur Versklavung von Menschen aus Timor durch den niederländischen Kolonialstaat.
Felix K. Nesi: Aus Timor-Leste gab es noch keine größeren Reaktionen. Ich vermute, dass es das Buch weder in Buchläden noch woanders zu kaufen gibt. Es fehlen die Vertriebsmöglichkeiten. Freund*innen, die dort leben und das Buch gelesen haben, waren davon aber sehr angetan. In Indonesien wurde mein Roman sehr gut aufgenommen. Noch als Manuskript hat ihn der Kunstrat Jakarta 2018 als besten Roman des Jahres ausgezeichnet. Weitere Preise folgten, etwa 2021 vom indonesischen Kulturministerium. Die Auszeichnungen helfen dabei, Aufmerksamkeit für das Buch mit seinen kritischen Inhalten über die Suharto-Zeit zu schaffen.
Es gibt nur wenige literarische Bücher, die Geschichten aus Timor erzählen – ob aus dem Westen oder Osten der geteilten Insel. Meine oder auch die nachfolgende Generation scheinen viele Ereignisse der jüngeren Geschichte kaum kritisch zu betrachten. Viele sind richtiggehend geschockt, wenn sie hören, was ich zu berichten habe, und können gar nicht glauben, was in Timor passiert ist. Bei Lesungen und Diskussionen an Universitäten treffe ich immer wieder auf Studierende, die mir entgegenhalten, was ich im Buch erzähle, stimme doch gar nicht. Unhinterfragt wird das Narrativ der Regierung übernommen, man habe in Osttimor die Kommunisten vertrieben und das Land aufgebaut. Wenn ich sie dann nach Belegen dazu frage, heißt es meist ausweichend, man wolle sie nachliefern.
Wie haben Sie von den Ereignissen in Portugiesisch-Timor 1974/1975 erfahren und wie wird an die Kolonialzeit erinnert?
Meine Eltern und andere Angehörige der älteren Generation haben viel davon erzählt: vom Einmarsch des indonesischen Militärs in Osttimor und wie sie die westtimoresische Bevölkerung rekrutiert haben, um gegen die Fretilin (Frente Revolucionária de Timor-Leste Independente = Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit von Osttimor) zu kämpfen. Von der Nelkenrevolution und den Ereignissen in Portugal war nur wenig bekannt.
Die Kolonisierung durch Portugal und die Niederlande ist Teil der Geschichte der Insel Timor und des gesamten Archipels. Portugal spielte dabei für uns in Westtimor keine so große Rolle. Zur Staatsdoktrin in Indonesien gehört der Hass auf die Kolonialmächte Niederlande und Japan. In Filmen zum Beispiel werden sie als böse Menschen dargestellt, die Indonesier*innen hingegen als Opfer. Es ist daher sehr interessant zu sehen, dass Indonesien sich seit Jahrzehnten selbst kolonialistisch verhalten hat: Wie die Regierung mit der Macht des Militärs in Timor-Leste oder in Papua vorgegangen ist und immer noch vorgeht.
In Timor-Leste ist die Haltung zur Kolonialmacht anders: Die Regierung bemüht sich sehr um einen Dialog und um Versöhnungsprozesse mit Indonesien, von dem man wirtschaftlich stark abhängig ist. Indonesien scheint wegen der Kolonialverbrechen, die Suhartos Militär dort während der Besatzungszeit begangen hat, nicht bei allen verhasst zu sein.
Wie hat sich die Beziehung zwischen Ost- und Westtimor mit der Loslösung von Timor-Leste entwickelt?
In Osttimor lebten viele Indonesier*innen aus Java und Ost-Indonesien. Als sich Osttimor 1999 durch ein Referendum lossagte, sind viele von ihnen nach Westtimor geflohen, obwohl sie nicht persönlich in den Krieg verwickelt waren. Heute ist die Situation entspannt und die Beziehungen an der Grenze recht gut. Für die Einheimischen wird die Grenze als eine durchlässige Linie empfunden, Menschen überqueren sie täglich. Zum Beispiel bringen die Bauern auf der indonesischen Seite ihre Ernte oft zu einem nahen gelegenen Markt auf der osttimoresischen Seite, weil sich die Waren dort einfacher verkaufen lassen.
Die militärischen Grenzschutzbeamten sind in der Regel recht locker und nicht allzu streng mit den Gemeinden an der Grenze. So ist es auch schon vorgekommen, dass eine alte Person auf der indonesischen Seite verstorben ist, aber ihre Beerdigung in Timor-Leste stattfand, weil sie zu einer Familie gehörte, deren Mitglieder auf beiden Seiten der Grenze leben. Trauernde, die von der indonesischen Seite kamen und zur Beerdigung gehen wollten, konnten einfach ihre Ausweise (KTP, Kartu Tanda Penduduk) am Grenzposten abgeben, die Grenze überqueren, um an der Beerdigung teilzunehmen, und dann auf dem Rückweg ihre Ausweise wieder abholen. [In der Regel ist ein Einreisevisum vorgeschrieben, Anm. der Red.]
Die kolonialen Mächte brachten das Christentum in den malaiischen Archipel. In Ihrem Roman kritisieren Sie die Institution Katholische Kirche deutlich. Gleichzeitig erkennen Sie aber auch die positive Rolle der Kirche an, die die Menschen in Ostindonesien im Bildungs- und Gesundheitsbereich unterstützt. Woran machen Sie Ihre Kritik fest?
Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen, und ich mag den Katholizismus sehr. Die katholische Kirche ist eine machtvolle Institution und sehr gut organisiert, bis hin zu den kleinsten Einheiten der Gemeinden. Sie ist oft effektiver und besser aufgestellt als die kommunale Verwaltung. Doch die Kirche hat ihre Macht nur selten genutzt, um die dringenden Probleme der Gesellschaft direkt anzugehen. Dabei hätte sie so vieles im Sozialen bewirken können. Stattdessen beschäftigt sich die Kirche nur mit Dingen wie Spendengeldern, mit Regeln und Vorschriften – und erschweren damit das Leben der Menschen manchmal sogar.
Viele Menschen sind frustriert und von der Kirche enttäuscht, aber sie trauen sich nicht, dies offen anzusprechen und flüstern nur hinter dem Rücken der Amtsträger. Also dachte ich, jemand muss diese Kritik an der Kirche äußern und tat dies in der Hoffnung, dadurch neue Diskussionen anzustoßen. Wenn das bereits andere Leute getan hätten, müsste ich es vielleicht nicht tun.
„Die Leute von Oetimu“ ist eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Bei ihrer Lesung beschrieben Sie die koloniale Grundhaltung mit: „Sie sind dümmer als wir, also sollten wir in der Lage sein, Macht über sie auszuüben“ („mereka ini lebih bodoh daripada kita, jadi kita bisa kuasai saja mereka“). Wer vertritt diese Ansicht? Wie zeigt sich diese Einstellung speziell in Indonesien und Timor-Leste?
Das Zitat war keine Anspielung auf eine bestimmte Person. Aber ich stelle mir immer vor, dass Kolonialisten genauso denken, etwa die Regierung in Jakarta gegenüber den Menschen außerhalb Javas, wie auch gegenüber Osttimor. Vielleicht hatten nicht alle schlechte Absichten – doch zumeist war die Motivation, andere Menschen „zu verbessern“, immer auch gepaart mit dem klaren Ziel, sie zu dominieren und auszunutzen. Rechtfertigend sagen sie dann: „Oh, diese Leute sind dumm, wir bemitleiden sie, lasst uns dorthin gehen und ihr Leben besser machen.“ Ohne den lokalen Kontext zu verstehen, versuchen sie, die Dinge für uns nach ihren Anschauungen zu verändern. Aber was verbessern sie damit wirklich?
Früher hatten wir zum Beispiel viele verschiedene Arten von Grundnahrungsmitteln in Westtimor. Jetzt muss jeder Reis essen. Es ist mittlerweile Standard, dass zu jeder Mahlzeit Reis gehört. Etwas anderes wird von vielen gar nicht in Erwägung gezogen.
Oder wie damals die Niederländer, die uns kolonisierten: Sie wollten uns „entwickeln“. Aber sie hielten die Einheimischen für unzivilisiert und dachten, ihr eigener Weg sei der beste. Am Ende plünderten sie uns also gleich zweimal. Sie haben nicht nur unsere natürlichen Ressourcen ausgebeutet, sondern uns auch Veränderungen aufgezwungen, die weder unserer Kultur noch unseren Traditionen entsprachen. Die in den Dörfern seit Jahrhunderten entwickelten Weisheiten wurde abgewertet, überdeckt und schlussendlich vieles ausgelöscht.
Welche Rolle kann Ihrer Meinung nach die Literatur dabei spielen, für noch heute existierende koloniale Denkmuster zu sensibilisieren?
Romane sollen die Leser*innen unterhalten und gleichzeitig neue Perspektiven aufzeigen, den Blick der Menschen weiten. Das wäre der Idealzustand. Ich glaube, dass die Literatur in unterschiedlicher Weise auf die Leser*innen einwirkt. Obwohl es in „Die Leute von Oetimu“ um Kolonialismus geht, gibt es weitere Erfahrungsebenen: Manche verstehen das Buch vielleicht als Liebesroman, als Kriminalgeschichte oder anderes. Meine Hoffnung ist dennoch, dass meine Leser*innen in der Lage sind, das größere Bild zu erkennen. Wer weiß, ob sich dadurch nicht auch etwas in ihren Denkmustern ändert.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen und Indonesischen von: Monika Schlicher und Nelden Djakababa Gericke
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