Kambodscha Architektur

Der Arc de Triomphe in Phnom Penh. © Moritz Henning

Kambodscha: In der Architektur Phnom Penhs ist bis heute der der Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich sichtbar. Die Fotostory zeigt Formen der Aneignung ebenso wie die Komplexität von Identitätskonstruktion.

Von 1863 bis 1953 stand Kambodscha unter französischer Kolonialherrschaft. Viele der in dieser Zeit entstandenen Bauten reproduzierten die damals in Frankreich gängigen Architekturstile. Doch im frühen 20 Jahrhundert ließen sich französische Planer zunehmend von der Architektur des Landes inspirieren. Sie entwickelten einen Baustil, der Motive der Bauten der berühmten Tempelstadt Angkor und historisch gewachsener Architektur aufgreift und auf die Gebäude der Kolonialverwaltung übertrug. Das 1920 eingeweihte Musée Albert Sarraut (heute Nationalmuseum von Kambodscha) oder die französische Ècole d’Administration (heute Oberster Gerichtshof) sind Beispiele dieser Melange, die bis heute das Bild einer typisch kambodschanischen Architektur prägen.

Französische Spuren des Gestern und historisierende Klischee-Bauten heute

Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1953 war Kambodscha geprägt von einer radikal neuen Architektursprache. Im Land gab es keine kambodschanische Architekt*in. Mit Vann Molyvann und Lu Ban Hap kamen erst 1956 beziehungsweise 1959 zwei ausgebildete Architekten nach Kambodscha zurück. Beide übernahmen umgehend wichtige Funktionen in der Verwaltung und prägten mit ihren Bauten das Erscheinungsbild kambodschanischer Städte, insbesondere Phnom Penhs. Studiert haben beide in Frankreich. Obwohl sie sich der spezifischen Anforderungen an das Bauen in ihrem Heimatland sehr wohl bewusst waren, sind die Einflüsse ihrer französischen Ausbildung in ihren Werken präsent.

Bis zur Absetzung von Staatsoberhaupt Prinz Norodom Sihanouk im Jahr 1971, der ein Förderer kambodschanischer Kunst und Architektur war, entstand eine spezifische kambodschanische Moderne. Diese knüpfte an die Architektur der internationalen Moderne an und suchte Bezüge zu Klima, Umwelt und lokalen Raumphänomenen, statt den Formenkanon von als traditionell verstandenen Bauten zu reproduzieren. Nur wenige Gebäude aus dieser Zeit, so zum Beispiel das berühmte Hotel Cambodiana des Architekten Lu Ban Hap zitierten direkt traditionelle kambodschanische Formen.

Ganz anders stellt sich die Situation heute dar: Im wieder einmal boomenden Phnom Penh tragen Neubaukomplexe Namen wie La Seine oder Élysée und orientieren sich in ihrer Gestaltung am Paris des späten 19. Jahrhunderts. Auf eine aufstrebende kambodschanische Mittelschicht, aber insbesondere chinesische Kund*innen zielende Immobilienentwicklungen suggerieren mit ihren nostalgisch- historisierenden Klischeebildern – die sich wenig um Authentizität scheren – einen offenbar für erstrebenswert gehaltenen, exklusiven europäischen Lebensstil. Gleichzeitig werden viele tatsächlich historische Bauten der Kolonialzeit ohne Bedenken abgerissen.

Renationalisierung der Architektur

Die Formensprache vieler aktuell entstehender staatlicher oder öffentlicher Bauten bezieht sich hingegen wieder explizit auf das Konstrukt einer typischen oder historischen ‚Khmer- Architektur’, die auch an die französischen Bauten der Kolonialzeit anknüpft. Auf die Spitze getrieben wird dieser Rückgriff vom 2021 fertig gestellten Neubau für das Ministerium für Landmanagement und Stadtplanung in Phnom Penh.

Die Bauten der 1950er bis 1970er Jahre hingegen, die ‚Architekturen der Unabhängigkeit‘, die vor der Machtübernahme der Roten Khmer im Jahr 1976 entstanden sind, genießen gegenwärtig keine Wertschätzung und werden einfach abgerissen.

Dieser erstaunliche Prozess, der von einer immer restriktiver agierenden Machtelite forciert wird lässt sich als Renationalisierung der Architektur beschreiben. Der Baustil der ehemaligen Kolonialmacht wird Geschichtsvergessen umgedeutet. Die Periode der ‚Wiederauferstehung der großen Khmer-Nation‘ nach der Erlangung der Unabhängigkeit – Kambodschas ‚Goldenes Zeitalter‘ – wird einfach beiseite geräumt und abgerissen. Einmal mehr wird versucht, eine kambodschanische Nationalarchitektur zu konstruieren, über den Bezug auf das historische Angkor und eine als traditionell verstandene Formensprache.

Die folgende Bildstrecke illustriert diesen Prozess.

Kambodschanisches Nationalmuseum

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Foto © Walter Koditek

Das heutige Nationalmuseum wurde entworfen von Georges Groslier. Der französische Historiker, Kurator, Autor und Direktor der Ècole des Arts Cambodgiens hatte sich der Renaissance der kambodschanischen Künste verschrieben. Die dreieckigen Giebel mit ihrer Ornamentik, die Säulengänge, die weit überhängende Dächer tragen, zitieren historisch gewachsene Bauformen Kambodschas. Seit seiner Eröffnung im Jahr 1920 gilt das Museum als Beispiel für typische ‚Khmer-Architektur’.

Der Oberste Gerichtshof

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Foto © Moritz Henning

Schräg gegenüber dem Königspalast befindet sich das 1909 errichtete Gebäude des heutigen Obersten Gerichtshofes. Mit seinem imposanten roten Ziegeldach, den riesigen verzierten Tympanons [Schmuckfläche in Giebeldreiecken oder Bogenfeldern von Portalen, d. R.] und der vergoldeten Turmspitze erinnert das Gebäude an traditionelle ‚Khmer-Architektur’. Mit der Verwendung religiöser Baustile für ein weltliches Gebäude folgten die französischen Architekten einer Idee, die typischerweise im Europa des 19. Jahrhunderts angewandt wurde.

Das Hotel Royal

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Foto © Moritz Henning

Das prestigeträchtige Hotel wurde vom französischen Architekten, Archäologen und Stadtplaner Ernest Hébrard erbaut. Es wurde in einem modernen französischen Kolonialstil unter Verwendung von Elementen traditioneller kambodschanischer Architektur entworfen und 1929 eröffnet. Hébrard lehnte die Verwendung der klassischen Khmer-Architektur als ‚Nachahmung von Angkor Wat‘ ab. Stattdessen erfand er einen ‚indochinesischen Stil‘, der in einer modernen Sprache Elemente des kambodschanischen Wohnhauses mit großen schrägen Ziegeldächern, Fensterläden, offenen Galerien und überdachten Gängen neu interpretierte.

Der Nationale Sportkomplex

Phnom Penh_National Sports Complex
Foto © Moritz Henning

Das 1964 eröffnete Stadion umfasst eine Sporthalle, ein Stadion, eine Schwimmanlage, sowie eine Reihe weiterer Sportflächen. Es spiegelt wie kaum ein anderes Gebäude den Aufbruchsgeist und das neu erwachte Nationalbewusstsein nach den Jahrzehnten unter französischer Kolonialherrschaft wieder. 100.000 Zuschauer*innen lauschten der Eröffnungsrede von Staatsoberhaupt Prinz Norodom Sihanouk, der nicht an markigen Worten sparte: "Durch unsere Errungenschaften und Fortschritte in allen Bereichen und durch die Dynamik der nationalen Einheit haben wir der Welt gezeigt, dass wir keine Bastardnation sind, der es an Intelligenz, Mut und Energie mangelt - wie die Feinde unseres Landes und unseres Volkes oft behauptet haben. Trotz der Kritik und Verleumdung einiger unserer Nachbarn und ihrer imperialistischen Herren haben wir bewiesen, dass wir in der Lage sind, unser altes Königreich in eine moderne Nation zu verwandeln." Obwohl in Architektur und Konstruktion radikal modern, weist der Sportkomplex in seiner Raumkonfiguration eindeutige Parallelen zu den berühmten Tempelanlagen von Angkor auf. Entworfen wurde das Stadion von Kambodschas bis heute wohl berühmtestem Architekten Vann Molyvann. Eines der wichtigsten Vorbilder für ihn war der französische Architekt Le Corbusier.

Institute for Foreign Languages

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Foto © Moritz Henning

Vorgelagerte Wasserbecken, ein zur Durchlüftung freigehaltenes Erdgeschoss und eine aus vielerlei Verschattungselementen bestehende Fassade machen das Hauptgebäude des Teacher Training College (heute Institute for Foreign Languages) von 1972 zum Musterbeispiel eines radikal modernen, aber dennoch im Lokalen verankerten, klimaangepassten Bauens. Architekt war auch hier Vann Molyvann.

Office of the Prime Minister

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Foto © Moritz Henning

Das 2010 eröffnete Büro des Premierministers ist ein Beispiel für den Versuch, einen neuen Khmer-Architekturstil zu definieren, indem angkorianische Dekorelemente mit ‚moderner‘ Architektur kombiniert werden. Die Verwendung traditioneller Dekorationen ist ein repräsentatives Zeichen nationaler Identität und tritt dementsprechend in den Vordergrund. Laut Premierminister Hun Sen sei das Gebäude ein Symbol für die großen Leistungen Kambodschas, da alle am Bau beteiligten Ingenieur*innen, Architekt*innen, Konstrukteur*innen und Designer*innen Khmer waren.

Das Hotel Cambodiana

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Foto © Moritz Henning

Das von dem kambodschanischen Architekten Lu Ban Hap entworfene Hotel Cambodiana ist eines der wenigen Beispiele aus den 1960er Jahren, welches historische Bauformen direkt aufnimmt. Das Dach des Mittelturms referiert direkt die Bauten des nahe gelegenen Königspalastes, während der gewaltige, ursprünglich auf Stützen stehende Baukörper von der Unité d’Habitation in Marseille, des französischen Architekten Le Corbusier, inspiriert scheint.

Elysée

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Foto © Moritz Henning

Wie auch der Arc de Triomphe (siehe Titelbild) ist das Elysée ein Projekt der Overseas Cambodia Investment Corporation. Die Gestaltung orientiert sich angeblich an der berühmten Pariser Avenue des Champs Élysées. Das Projekt soll jüngere, wohlhabende Kambodschaner*innen sowie Ausländer*innen, vornehmlich chinesischer Herkunft ansprechen, die in den Immobiliensektor des Landes investieren wollen. Authentizität, Nachhaltigkeit oder Fragen des klimagerechten Bauens spielen dabei offensichtlich eine eher untergeordnete Rolle.

Norton University

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Foto © Walter Koditek

Die Architektur des 2010 fertig gestellten Gebäudes versucht, Elemente verschiedener Stile zu integrieren, darunter der zentrale Turm, der den klassischen Stil von Preah Vihear simuliert, und das Dach, das an den Kreuzgang von Angkor Wat erinnert. Mit seinen massiven Pilastern [Wandpfeiler, d. R.] und Gesimsen lehnt sich die Fassade an den griechisch-römischen neoklassischen Tempelstil an. Es scheint offensichtlich, dass die figurative Verbindung verschiedener Motive, die als traditionelle Khmer-Architektur verstanden werden, Vorrang vor anderen, möglicherweise nahe liegenderen Gestaltungsaspekten hatte.

La Seine

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Foto © Moritz Henning

Das Projekt La Seine versucht, ‚Pariser Charme’ nachzuahmen. Es beinhaltet Wohnbauten, Geschäftshäuser und einen Glockenturm.

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Der Autor

Moritz Henning ist Architekt und lebt in Berlin. In seiner Arbeit widmet er sich architektonischen, kuratorischen und redaktionellen Projekten sowie Veröffentlichungen. Ein Schwerpunkt ist dabei die postkoloniale Architekturmoderne Südostasiens. Derzeit gehört er zum Team der künstlerischen Leitung des Projekts Encounters with Southeast Modernism und ist Initiator und Gastredakteur der ARCH+ 243 Contested Modernities. Postkoloniale Architektur und Identitätskonstruktion in Südostasien, veröffentlicht im Jahr 2021. Er ist Mitautor des 2020 erschienenen Architectural Guide Phnom Penh.

  • <em>La Seine</em> in Phnom Penh
    La Seine in Phnom Penh

    Kambodscha – In der Architektur Phnom Penhs ist bis heute der der Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich sichtbar. Die Fotostory zeigt Formen der Aneignung ebenso wie die Komplexität von Identitätskonstruktion.

Moritz Henning

Moritz Henning ist Architekt und lebt in Berlin. In seiner Arbeit widmet er sich architektonischen, kuratorischen und redaktionellen Projekten sowie Veröffentlichungen. Ein Schwerpunkt ist dabei die postkoloniale Architekturmoderne Südostasiens. Derzeit gehört er zum Team der künstlerischen Leitung des Projekts Encounters with Southeast Modernism und ist Initiator und Gastredakteur der ARCH+ 243 Contested Modernities. Postkoloniale Architektur und Identitätskonstruktion in Südostasien, veröffentlicht im Jahr 2021. Er ist Mitautor des 2020 erschienenen Architectural Guide Phnom Penh.

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