Tief in den Bergen finden sich Beispiele für das Verweben von nichtchristlichen Glaubensvorstellungen mit dem Katholizismus: sie werden so von der Kirche vereinnahmt und kontrolliert. © Henri Myrttinen
Tief in den Bergen finden sich Beispiele für das Verweben von nichtchristlichen Glaubensvorstellungen mit dem Katholizismus: sie werden so von der Kirche vereinnahmt und kontrolliert. © Henri Myrttinen
Timor-Leste: Anlässlich des Papst-Besuchs 2024 kritisiert Josh Trindade die kulturelle, spirituelle und identitätsbezogene Kolonisierung.
Im September 2024 besuchte Papst Franziskus Timor-Leste. Es war ein Ereignis, das seinesgleichen sucht. Über 600.000 Gläubige feierten mit ihm eine Messe unter freien Himmel. In seiner Rede betonte Papst Franziskus die „Inkulturation des Glaubens und Evangelisierung der Kultur“: Das Christentum, das in Asien entstand, sei durch europäische Missionare bis in diese entferntesten Ausläufer des Kontinents vorgedrungen und zeuge so von seiner universalen Berufung und seiner Fähigkeit, sich mit den unterschiedlichsten Kulturen in Einklang zu bringen, die durch die Begegnung mit dem Evangelium zu einer neuen, höheren und tiefgründigeren Synthese fänden.
Von „katholischer Kolonialisierung der timoresischen Kultur“ spricht der Anthropologe Josh Trindade und fordert eine Entschuldigung von Papst Franziskus. Mit einem offenen Brief wandte er sich im Vorfeld des Besuchs an den Papst. Er wollte nicht nur seine Willkommensgrüße übermitteln, sondern auch einige kritische Aspekte der Einrichtung und Arbeitsweise der katholischen Kirche ansprechen – Aspekte, die die kulturelle und spirituelle Identität der Menschen in Timor-Leste zutiefst beeinträchtigt haben. Wie zum Beispiel die Zwangsassimilierung zur Zeit der Missionierung während der Kolonialherrschaft.
südostasien: Welche Bedeutung hatte der Besuch des Papstes für die Menschen in Timor-Leste?
© Privat
Josh Trindade promoviert zurzeit an der Universität von Melbourne über das Konzept „Lulik“ in der osttimoresischen Kultur. Mit seiner Forschung möchte er zu einer breiteren Anerkennung der osttimoresischen Spiritualität und ihres rechtmäßigen Platzes in der Kulturlandschaft beitragen. Er ist Autor einflussreicher anthropologischer Arbeiten über Timor-Leste, die für ihren tiefen Einblick in das kulturelle Erbe des Landes und dessen Rolle bei der Gestaltung der heutigen Gesellschaft bekannt sind. Er war soziokultureller Berater im Präsidialamts. Als unabhängiger Analyst hat er an zahlreichen Projekten mitgewirkt, in denen er zu den Themen Nationenbildung und Konfliktlösung die komplizierten Beziehungen zwischen der osttimoresischen Kultur, traditionellen Systemen und moderner Regierungsführung herausgearbeitet hat.
Josh Trindade: Sein Besuch wurde seit vielen Jahren sehnlichst erwartet. Unser Land hat eine tiefe Verbindung zum Heiligen Stuhl. 98 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als römisch-katholisch.
Die Menschen in Timor-Leste sind sehr dankbar für die Hilfe und den Schutz, die der Heilige Stuhl und die katholische Kirche im Laufe unserer Geschichte, insbesondere während der Kolonialzeit und der indonesischen Besatzung, geleistet haben. Dabei war eine der bedeutendsten Gesten der Unterstützung die Anerkennung der osttimoresischen Bischofskonferenz durch den Heiligen Stuhl als eigenständige Einheit innerhalb des Vatikans, getrennt von der indonesischen Bischofskonferenz. Diese Anerkennung war ein Leuchtfeuer der Hoffnung und hat unseren Kampf um Unabhängigkeit bestätigt. Die Beiträge der Kirche zum Gesundheits- und Bildungswesen werden ebenfalls zutiefst geschätzt.
In Ihrem offenen Brief thematisieren Sie dennoch eine intellektuelle Aneignung durch die Kirche. Worin besteht diese?
Die katholische Kirche hat intellektuelle Aneignung betrieben, indem sie sich indigene Begriffe wie „Maromak“ und „Maromak Oan“ zu eigen machte und sie in der christlichen Lehre zur Darstellung eines christlich-männlich-patriarchalischen Gottes umfunktionierte. Bei den Tetun Terik, der größten Ethnie Timors, bezieht sich „Maromak“ traditionell auf die Fruchtbarkeitsgöttin, eine zentrale Figur in ihrem spirituellen und landwirtschaftlichen Leben. In ähnlicher Weise ist „Maromak Oan“ der Titel des höchsten spirituellen Führers im Herrschaftsgebiet von Wehali, das vor der Ankunft der Europäer als rituelles Zentrum der Insel Timor diente. „Maromak Oan“ wird heute innerhalb der Kirche als Bezeichnung für Jesus Christus, also „Gottes Sohn“ verwendet.
Durch die Aneignung dieser Begriffe hat die Kirche das Glaubenssystem der Indigenen erheblich verändert und in den Schatten gestellt. Die spirituelle Landschaft wurde grundlegend neu definiert und die ursprünglichen Bedeutungen dieser Begriffe ausgelöscht. Die Kirche verschärfte die Situation noch, indem sie die Timoresen als „gottlose Wilde“ bezeichnete – ein Narrativ, das sich bis heute gehalten hat.
Das Ritual „Mane hitu“ im Dorf Babulo findet etwa alle sieben bis zehn Jahre statt. Seit der Unabhängigkeit versuchen die Gemeinschaften im ganzen Land, ihre kulturellen Praktiken wiederzubeleben. Dies wird auch als ein Weg zur Heilung der zerrütteten Beziehungen aus der Zeit der Kolonialisierung betrachtet. Priester wirken ebenfalls daran mit. © Josh Trindade
Dieses Erbe der Aneignung und Ausgrenzung hat nach wie vor tiefgreifende Auswirkungen. Der starke Einfluss der Kirche macht es schwierig, die Begriffe „Maromak“ und „Maromak Oan“ wieder im indigenen Kontext zu verwenden und in den schulischen Lehrplan aufzunehmen. So wirkt das historische Handeln der Kirche bis heute. Es behindert die Bemühungen, Kulturgut zu bewahren und lebendig zu halten.
In einem weiteren Punkt kritisieren Sie die Verwendung des Begriffs „Lulik“, den Sie als die Essenz des osttimoresischen Lebens und der Spiritualität beschreiben. Inwieweit fand hier eine Vereinnahmung und Aneignung statt?
Der Umgang der Kirche mit dem Begriff „Lulik“ verdeutlicht für mich ihre tief verwurzelte Heuchelei. Einerseits ermahnen die Kirchenführer die Gemeinden während der Sonntagsmesse und erklären: „Ihr dürft nicht an „Lulik“ glauben, ihr dürft „Lulik“ nicht verehren; das „Uma Lulik“ (Sakralhäuser) ist ein Ding des Teufels, des Satans, und ein Ort, an dem böse Geister angebetet werden.“ Diese Botschaft ist eindeutig: „Lulik“, das heilige Konzept, das die Grundlage der timoresischen Spiritualität bildet, wird als etwas mit den christlichen Lehren Unvereinbares verurteilt und verunglimpft.
In krassem Gegensatz zu dieser Verurteilung lassen sich die Kirchenführer selbst mit Titeln wie „Amu (Priester) Lulik“ oder „Nai Lulik“ (heiliger Herr) ansprechen. Das sind Titel, die die heilige Konnotation des Konzepts tragen, das sie anprangern. Diese Titel, die in der osttimoresischen Kultur mit Respekt und Ehrfurcht verbunden sind, werden von denselben Kirchenvertretern mit Stolz angenommen. Die Verwendung von „Lulik“ in ihren Titeln bedeutet einen tiefen Widerspruch: Während sie das Konzept öffentlich als heidnisch oder böse verurteilen, sonnen sie sich in der Ehre, die mit ihm verbunden ist.
Josh Trindade vor den wieder errichteten „Uma lulik“ – heiligen Häusern im Bezirk Uato-Lari. Die Sakralhäuser und die damit verbundenen Zeremonien waren während der 24 Jahre andauernden indonesischen Besatzung verboten und in der portugiesischen Kolonialzeit davor herabgewürdigt. Der Wiederaufbau der „Uma lulik“ ist für die Menschen von großer Bedeutung, um sich mit ihrem Land, ihren Vorfahren und ihren Wurzeln zu verbinden. © Josh Trindade
Dieser Widerspruch ist nicht nur eine Frage der Semantik, sondern spiegelt die umfassende kulturelle und spirituelle Aneignung wider, die die Kirche praktiziert hat. „Lulik“, das ist nicht nur ein Wort, sondern es umfasst Glaubensvorstellungen, Praktiken und eine tiefe Verbindung mit dem Heiligen. Die selektive Verwendung des Begriffs durch die Kirche offenbart den Versuch, indigene Konzepte zu vereinnahmen und zu kontrollieren und sie gleichzeitig zu untergraben und zu dämonisieren.
Kolonialismus und Missionierung gingen vielfach Hand in Hand. Wie hat sich dies in Timor-Leste gezeigt?
Während der Zeit des portugiesischen Kolonialismus und der indonesischen Besatzung kollaborierte die katholische Kirche aktiv mit beiden Mächten und führte systematisch ein „Zwangsassimilierungsprogramm“ durch. Dieses Programm zielte darauf ab, den Osttimores*innen ihre indigene Identität zu nehmen und sie durch eine zu ersetzen, die den „zivilisatorischen“ Standards der Kolonisatoren entsprach. Eine der durchdringendsten und nachhaltigsten Auswirkungen dieses Programms ist die weit verbreitete Annahme portugiesischer Namen.
Während der Kolonialzeit weigerte sich die Kirche bei der Taufe kategorisch, indigene Namen zu akzeptieren. Sie bezeichnete sie als „unzivilisiert“, „wild“ oder „heidnisch“. Diese abwertenden Bezeichnungen wurden verwendet, um die Legitimität der kulturellen Identität der Menschen zu untergraben und sie zu zwingen, ihre angestammten Namen zugunsten von solchen aufzugeben, die von der Kirche und den Kolonialbehörden als akzeptabel angesehen wurden.
Welche Folgen hat das in der Gegenwart?
Die Auswirkungen dieses erzwungenen Assimilationsprogramms sind tiefgreifend. Viele Osttimores*innen tragen heute ganz selbstverständlich portugiesische Namen. Der Geschichte des Zwangs, der zur Annahme dieser Namen führte, sind sie sich oft gar nicht bewusst. Überdies hat die Stigmatisierung indigener Namen zu einem tiefsitzenden Schamgefühl geführt, das die Menschen dazu veranlasst, sich von ihren ursprünglichen Namen und damit auch von ihren kulturellen Wurzeln zu distanzieren. Diese verinnerlichte Scham zeigt die Wirksamkeit der Assimilationsstrategie der Kirche.
Messe an der Motael-Kirche in Dili. © Monika Schlicher
Die Rolle der Kirche in diesem erzwungenen Assimilationsprogramm verdeutlicht die komplexe und oft Komplizen-hafte Beziehung zwischen religiösen Institutionen und Kolonialmächten. Indem sie Hand in Hand mit den Kolonialherren arbeitete, förderte die Kirche nicht nur die Verbreitung des Christentums, sondern trug auch zur kulturellen Beherrschung und Unterwerfung der osttimoresischen Bevölkerung bei. Das Erbe dieser Zusammenarbeit prägt unsere Gesellschaft bis heute, da die Überbleibsel der Kolonialpolitik in Form von Namen, kulturellen Praktiken und Identitäten fortbestehen, die durch die jahrhundertelange Zwangsassimilation unauslöschlich verändert worden sind.
Wie sollte die katholische Kirche mit diesen Aspekten ihrer Geschichte der Missionierung umgehen? Was wären aus ihrer Sicht nötige Schritte?
Angesichts des oben skizzierten historischen Kontextes ist es offensichtlich, dass die Kirche eine bedeutende Rolle bei der kulturellen, spirituellen und identitätsbezogenen Unterdrückung des timoresischen Volkes gespielt hat. Ich finde es unerlässlich, dass die Kirche ihre Rolle bei diesen historischen Ungerechtigkeiten anerkennt. Die Kirche schuldet uns eine förmliche Entschuldigung, nicht nur für ihre Handlungen während der Kolonialzeit, sondern auch für die anhaltenden Auswirkungen dieser Handlungen auf die osttimoresische Identität und Kultur.
Eine Entschuldigung von höchster kirchlicher Ebene wäre ein starkes Zeichen der Versöhnung und des Respekts. Es würde unsern kulturellen Verlust anerkennen. Es wäre einer erneuerten Beziehung förderlich, die auf gegenseitigem Respekt, Verständnis und einer echten Wertschätzung des reichen kulturellen Erbes von Timor-Leste beruht.
Welche Reaktionen haben Sie auf den Brief erhalten?
Gläubige bei der Messe mit Papst Franziskus in Tasi Tolu. © Octávio de Araújo
Ich hatte mit Kritik, Gegenreaktionen oder sogar Drohungen von Seiten der Osttimoresen gerechnet, aber überraschenderweise ist nichts davon eingetreten. Die wenigen Antworten, die ich erhielt, waren positiv und unterstützend. Ich denke, der Grund dafür ist, dass das, was ich in dem Brief vorgebracht habe, die Lebenserfahrung Vieler während der Kolonialzeit widerspiegelt. Ich hätte erwartet, dass der Brief eine Debatte und Diskussionen zu diesem Thema auslösen würde. Aber das ist bislang noch nicht geschehen.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen von: Monika Schlicher
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