Die kambodschanische Psychotherapeutin Sotheary YIM spricht in diesem Interview über die von den Khmer Rouge in großem Ausmaß ausgeübten Zwangsverheiratungen und ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit.
Das Interview wurde mit der kambodschanischen Psychologin, Psychotherapeutin und feministischen Aktivistin Sotheary YIM geführt, basierend auf ihrer therapeutischen Arbeit mit Gewaltüberlebenden der Roten Khmer. In der Vergangenheit hat Sotheary YIM unter anderem mit Kdei Karuna KdK zusammen gearbeitet, einer NGO für Friedensaufbau und Versöhnung in Kambodscha. Sotheary YIM gestaltete generationenübergreifende Dialoge zwischen Frauen, die von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt unter den Roten Khmer betroffen waren, und der jüngeren Generation, die nicht den Krieg, sondern dessen Auswirkungen, einschließlich der Übertragung von Traumata, erlebt haben. Sie hat ein Buch über die Praxis der Zwangsheirat unter den Roten Khmer und therapeutische Heilungsprozesse veröffentlicht. Sotheary YIM ist derzeit für den Zivilen Friedensdienst der GIZ in Phnom Penh tätig und arbeitet Teilzeit in ihrer klinischen Praxis.
Du hast als Psychotherapeutin mit Überlebenden von Gewalt und Trauma der Roten Khmer gearbeitet. Welche Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt haben die Roten Khmer ausgeübt?
Mir ist es bei diesem Thema wichtig, die Aufmerksamkeit auf Gewalt zu lenken, die auch schon vorher stattfand. Denn es ist nicht so, dass unter den Khmer Rouge plötzlich in diesem Land aus heiterem Himmel Gewalt gegen Frauen ausgeübt wurde. Kambodscha ist eine patriarchalische Gesellschaft. Viele Menschen sehen das so, aber uns wird etwas Anderes beigebracht. Hier heißt es immer, unsere Gesellschaft schätze die Frauen – weil viele Wörter mit dem Wort ,Mutter‘ beginnen. Aber für mich persönlich ist das Blödsinn, denn für mich ist das nur ein Vorwand, um die Frauen zu beruhigen, um den Sturm, das Aufbegehren zu beruhigen – es ist manipulativ.
Es gab viele Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, unter anderem Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung, sexuelle Verstümmelung und auch so genannten ‚Sexhandel’, also sexuelle Ausbeutung. Wie in jeder Gesellschaft ist es nicht leicht, diese Themen zu behandeln, weil sie oft tabuisiert sind. Aber es ist uns gelungen, dazu zu arbeiten, zunächst mit dem Cambodian Defenders Project (CDP) und später mit Kdei Karuna (KdK). Unser trauma-sensibler Projekt-Ansatz ermutigte die Frauen und Männer, die vergewaltigt worden waren, mit uns zu sprechen. Noch immer gibt es nicht viele, die über das reden, was sie erlebt haben. Zudem wurden viele nach den sexuellen Misshandlungen getötet. Diejenigen, die mit uns sprachen, waren oft Betroffene, auf die – zusammen mit anderen – geschossen worden war und/oder die mit Tötungsabsicht gefoltert und in Massengräber gelegt wurden – aber sie überlebten.
Ich möchte mich hier auf die Zwangsheirat konzentrieren, eine weit verbreitete Praxis, die von den Roten Khmer angeordnet wurde und Hunderttausende Frauen und Männer betraf. Sie fand in großem Ausmaß vor allem zwischen 1976 und 1979 statt, als die Bevölkerungszahlen infolge des Hungerns und Tötens immer weiter zurückgingen. Es war das erklärte Ziel von Pol Pot, dem Führer der Roten Khmer, die Bevölkerung in Kambodscha innerhalb von 15 Jahren von acht auf 20 Millionen zu erhöhen.
Die Zwangsheirat und die damit verbundenen Zwangsschwangerschaften und Vergewaltigungen gelten inzwischen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ehemalige Führungskader der Roten Khmer wurden dafür 2018 vor dem Khmer-Rouge-Tribunal (ECCC) verurteilt.
Wurden diese Ehen beiden – Frauen und Männern – aufgezwungen?
Hier sehe ich eine Verbindung zur Geschlechterdiskriminierung. Als ich mit den Überlebenden sprach, erfuhr ich, dass Männer manchmal zumindest vorher gefragt oder informiert wurden. Aber ich habe nie von Frauen gehört, die mir sagten, dass sie wüssten, wen sie heiraten würden.
Die Eheschließungen fanden meist in den Nächten statt, nachdem die Arbeit erledigt war. Sie wurden in den Sitzungssälen der jeweiligen Kooperative organisiert, und oft wurden 20 bis 30 oder auch 70 bis 100 Ehen auf einmal arrangiert, je nach Ort und Leitung der Kooperative. Die Frauen und Männer mussten sich in getrennten Reihen aufstellen, 2 Namen wurden wie A und B aufgerufen, um voreinander zu stehen, sich an der Hand zu halten und das Ehe-Gelübde abzulegen. Es gab keine Möglichkeit, nein zu sagen. Einige Paare, und besonders die Frauen, waren so verängstigt, dass sie sich nicht einmal in die Augen sehen konnten. Oft wurden hübsche und junge Frauen mit viel älteren oder behinderten Männern verheiratet. Die behinderten Männer waren oft Kriegsveteranen, die Heirat wurde als ,Belohnung‘ für ihre Verdienste angesehen.
Nach den Eheschließungen wurden die Paare dann ausspioniert, um zu sehen, ob die Ehe vollzogen wurde. So wurden die Frauen entweder durch ihre Männer zum Geschlechtsverkehr gezwungen, oder beide wurden dazu genötigt, es ‚für das Land’ zu tun.
Wurde der Geschlechtsakt bis zur zweiten oder dritten Nacht nicht vollzogen, wurden die Männer weggebracht oder getötet. Einige Männer mussten die Frauen auch vor den Augen der Soldaten vergewaltigen. Die Folge der Zwangsheirat war eine erzwungene Schwangerschaft, was ebenfalls ein Verbrechen ist.
Was geschah nach dem Ende der Ära der Roten Khmer mit diesen verheirateten Paaren – blieben sie zusammen?
Ich glaube nicht, dass es dazu genauere Zahlen gibt. Die Zwangsehen fanden landesweit statt und fast jeder wusste davon oder hatte es sogar selbst erlebt. Aber bis wir mit den NGOs das Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben, herrschte oft das Missverständnis vor, dass es sich um eine Art arrangierter Ehe handelte. Die Zwangsheirat unter den Khmer Rouge wurde daher oftmals nicht als Verbrechen eingestuft. Zudem ging es hier um sexuelle Gewalt. Wenn man mit Menschen redet, die unter den Roten Khmer gelebt haben, sprechen sie über die Zwangsevakuierungen, die Zwangsarbeit und andere Dinge, aber sexuelle Gewalt ist nicht etwas, über das gesprochen wird.
Es gibt Ehepaare, die sich nach dem Ende des Khmer-Rouge-Regimes getrennt haben, andere leben bis heute noch zusammen. Einige, die ihre Beziehung immer noch schätzen, haben später versucht, eine traditionelle Eheschließung nachzuholen. Hier geht es um die öffentliche Anerkennung des Paares und vor allem der Frauen. Denn ohne traditionell verheiratet zu sein, werden Frauen hier sozial oft nicht geachtet und respektiert.
Bei den Paaren, die noch zusammenleben und keine glückliche Ehe führen, sind viel Gewalt und Spannungen zu beobachten. Oft herrscht ein aggressiver Ton vor und sie sagen im Streit zum Beispiel: „Ich war gezwungen, dich wegen der Roten Khmer zu heiraten“. So lebt das Paar mit den Folgen der Verbrechen und darunter haben auch die Kinder zu leiden. Die Kinder werden von der Gesellschaft auch oft stigmatisiert.
In wie fern werden sie diskriminiert? Was geschieht mit den Kindern?
Sie werden als die Kinder einer unverheirateten Frau angesehen und sind deshalb in der Gemeinde nicht willkommen. Früher haben die Eltern ihre Kinder sogar versteckt. Heute ist es schon besser. Aber immer noch werden die Nachkommen eines geschiedenen Paares oder eine/r Alleinerziehenden nicht gefragt, ob sie z.B. als Brautjungfer an einer traditionellen Hochzeit teilnehmen wollen, weil das Unglück bringen soll. Die jüngere Generation ist also immer noch betroffen.
Wie siehst du als Psychologin die langfristigen Auswirkungen der sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt, die während der Ära der Roten Khmer begangen wurde?
All die Traumata, all die Gewalt, die in der Vergangenheit geschehen und nicht verarbeitet wurden, hinterlassen Spuren im Gehirn. Der Versuch der Bewältigung geschieht oft unbewusst und häufig ändern sich dadurch das Verhalten und damit auch das Leben der Betroffenen.
Eine der sehr gravierenden Auswirkungen ist, dass die Generation meiner Eltern, die den Krieg direkt erlebt hat, Probleme damit hat, sich selbst und andere zu lieben und Liebe auszudrücken. Ihre Kinder hören nicht oft „ich liebe dich“ oder „wir lieben euch“. So nehmen sie es häufig so wahr, als hätten ihre Eltern sie nie geliebt oder seien stolz auf sie.
Einige haben uns berichtet: „Meine Eltern gehen gewalttätig miteinander und mit mir um. Sie schlagen mich, sie sind aggressiv zu mir.“ Das ist eine Art Übertragung des Traumas der Eltern auf die Kinder. Die Menschen hier denken, dass Gewalt normal ist, dass es normal ist, ihren Kindern gegenüber gewalttätig zu sein, weil sie ihre Kinder damit erziehen. Ich glaube, sie denken, dass es normal ist, weil es oft passiert – aber es ist definitiv keine normale Handlung, den Kindern gegenüber gewalttätig zu sein.
Was ich auch als eine Folge der erlebten Gewalt unter den Khmer Rouge ansehe ist, dass unsere Eltern uns sagen: „Seid nicht zu aktiv, denn es wird euch wehtun, die Politik wird euch wehtun. Bleibt in der Menge oder folgt der Menge, fallt nicht auf, sonst werdet ihr zur Zielscheibe.“ So erziehen uns unsere Eltern und übertragen ihre Ängste – wie können wir uns so entwickeln? Sobald wir wachsen, sobald wir uns hervorheben, sagen sie, das sei zu viel. Das passiert Frauen sehr oft, ich habe es selbst oft gehört.
Denkst du, dass Veränderungen möglich sind?
Die arrangierte Ehe ist in unserer Gesellschaft immer noch sehr akzeptiert, und der Übergang zur Zwangsheirat ist fließend. Und wenn es zu Vergewaltigungen kommt, wird dies immer noch den Frauen angelastet, auch von den führenden Politikern. Dies zeigt sich auch in einem sehr umstrittenen neuen Gesetzesentwurf nachdem Frauen zukünftig Strafe zahlen müssten, wenn sie sich nicht ,angemessen‘ kleiden.
Aber ja, ich sehe, dass Veränderungen möglich sind. Ich bin darauf vorbereitet, allerdings weiß ich auch wie viel Kraft es kostet. Ich gehöre zur ersten Generation von Frauen, die aufgestanden ist und über Gewalt an Frauen gesprochen hat.
Jetzt stellen die jungen Frauen und Männer immer mehr Fragen. Aber der Wandel hätte viel früher stattfinden können – seit mehr als 30 Jahren wird in Kambodscha die ,Gleichstellung der Geschlechter‘ gefördert. Dies ist nach wie vor die Agenda unseres Ministeriums für Geschlechterfragen und der NGOs. Ich bin der Meinung, dass es nicht funktioniert, nur zu informieren und die Botschaft zu vermitteln. Kreativität ist wichtig – deshalb setze ich auf den Dialog.
In meiner jüngsten Arbeit verbinde ich die sexuelle Gewalt und Vergewaltigung, die unter den Roten Khmer stattfand, mit der Gewalt, die heute gegen Frauen ausgeübt wird. Deshalb organisieren wir Dialoge zwischen Überlebenden des Roten Khmer Regimes und Studierenden. Es geht darum, was man aus der Geschichte, aus den Erfahrungen der Betroffenen lernen kann. Schüler*innen und Studierende glauben immer noch, dass Frauen vergewaltigt werden, weil sie ihren Körper nicht bedecken, oder weil Männer Drogen nehmen oder betrunken sind. Es wird immer nach einer Entschuldigung für eine Vergewaltigung gesucht.
In einem unserer Dialoge, die wir organisiert haben, gab es eine weibliche Überlebende von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch während des Regimes der Roten Khmer. Und sie stand auf und sagte: „Nein, das ist nicht wahr. Ich war sehr dünn, hässlich, sehr schmutzig, trug Arbeitskleidung – es ist nicht wahr, dass Frauen vergewaltigt wurden, weil sie ihren Körper nicht bedeckten.“ Dieser Moment hat mich sehr beeindruckt.
Video zu den „Women’s hearing with the young generation“, die 2013 von CDP in Anwesenheit von Studierenden durchgeführt wurden:
Wir müssen hier in Kambodscha noch viel mehr tun. Wir müssen alle einbeziehen, Männer und Frauen müssen zusammenarbeiten, und wir müssen mehr erreichen mit unserer Arbeit und unserem Engagement. Ich konzentriere mich jetzt sehr auf die maßgebliche Rolle, die Elternschaft, Erziehung und Bildung spielen, das ist wirklich wichtig. Jungen und Mädchen müssen die gleichen Chancen auf Bildung haben. Und sie müssen die Chance bekommen, frei zu leben. Es wird zwar länger dauern, aber ich denke, so kann sich der Wandel vollziehen.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen von: Karin Griese
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