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„Die Jugend ist der Schlüssel“

Kambodscha genderbasierte Gewalt

Bei Workshops mit jungen Menschen setzt WPM auf kreative und partizipative Methoden. © Women Peace Makers

Kambodscha: Genderbasierte Gewalt zieht sich durch Familien, Traditionen und Generationen. Engagierte Bewegungen sorgen für Veränderung. Doch alte Rollenbilder sind gesellschaftlich und kulturell stark verankert. Ein Interview mit der Friedensaktivistin Suyheang Kry.

Unsere Interviewpartnerin:

Suyheang Kry ist Expertin in Konflikttransformation, Transnational Justice, Gender Mainstreaming und gendersensible Mediation © privat

Suyheang Kry ist die Geschäftsführerin der kambodschanischen NGO Women Peace Makers (WPM). Sie stammt aus einer konservativen Familie und wuchs in der Postkonfliktzeit auf. In ihrem Bestreben, den Status quo traditioneller Geschlechterrollen in Frage zu stellen und zu ändern, widmet sie ihr Berufsleben seit einem Jahrzehnt der Gender- und Friedensförderung. Sie ist Expertin für partizipatorische Ansätze und hat eine Friedensforschungsmethodik, bekannt als Facilitative Listening Design (FLD), mitentwickelt. WPM legt in ihrer Friedensarbeit einen Schwerpunkt auf interethnische Fragen aus der Überzeugung heraus, dass darin eine der Hauptursachen für Konflikte in Kambodscha liegt.

Welche Formen und welches Ausmaß hat genderbasierte Gewalt in Kambodscha?

Wenn es in Kambodscha um genderbasierte Gewalt geht, redet man zumeist über Gewalt gegen Frauen. Es gibt daneben Gewalt gegen andere Gender wie LGBTIQ. Wichtig ist zudem Intersektionalität, also die Verschränkung verschiedener Formen von Diskriminierung. Eine nationale Umfrage von 2015 stellte fest, dass jede fünfte Frau im Laufe ihres Lebens sexuelle und physische Gewalt durch ihren Partner erlebte. Jede dritte kambodschanische Frau erleidet emotionale Gewalt.

In einer länderübergreifenden UN-Studie (2013) gaben 33% der befragten kambodschanischen Männer zu, dass sie körperliche und sexuelle Gewalt gegenüber ihrer Partnerin ausübten. 20% vergewaltigte ihre Partnerinnen. Solche Daten sind wirklich alarmierend.

Außerdem finde ich es wichtig, nicht nur über sichtbare Gewalt zu sprechen, sondern auch über die nicht sichtbare, wie die soziale Stigmatisierung von Frauen. Die Ursachen von genderbasierter Gewalt liegen im Machtungleichgewicht und der Genderungleichheit. Sie wird durch negative Gendernormen, Stereotypen sowie traditionellen Praktiken und Bräuche aufrechterhalten.

Wie zeigen sich diese Normen und Werte im Alltag konkret?

Diese tief verwurzelte Ungleichheit zeigt sich in einem Sprichwort der Khmer: „Männer sind Gold, Frauen sind Stoff“. Es offenbart den niedrigeren sozialen Wert, der Frauen zugeschrieben wird.

Ein anderes Beispiel ist der Chbap Srey, eine Art traditioneller Khmer-Verhaltenskodex für Frauen in Form eines Gedichtes. Darin befinden sich die grundlegenden kulturellen Normen, die zur Verletzung der Rechte von Frauen in Kambodscha beitragen. Obwohl es sich nicht mehr [nach umfassender gesellschaftlicher Kritik, Anm. d. Red.] in den Lehrplänen der Schulen findet, ist sein Einfluss immer noch groß. Der Chbap Srey beschreibt, wie sich Frauen zu Hause oder im öffentlichen Raum verhalten sollen. Dabei wird die Rolle der Frauen als minderwertig dargestellt und unter dem Mann eingeordnet. Solche traditionellen und negativen Normen sowie Stereotype von Frauen sind allgegenwärtig in der ganzen Gesellschaft und reichen bis in die Politik und sogar ins Justizsystem.

Diese Umstände machen es für Überlebende von Gewalt noch schwieriger, Hilfe zu finden. Laut der Studie hat fast die Hälfte der Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, dies nicht angezeigt. Einige davon fanden, dass Gewalt normal sei, während andere sich fürchten oder schämen. Hinzu kommt laut einem Bericht des Frauenministeriums (2010), das mehr als ein Drittel der lokalen Behörden glaubt, dass Gewalt gegenüber Frauen gerechtfertigt ist. Nur 24% der von physischer und sexueller Gewalt betroffenen Frauen suchte Hilfe.

Kambodscha genderbasierte Gewalt

Zum Internationalen Frauentag 2020 führte WPM eine erfolgreiche Kampagne in der Provinz Kampot durch © Women Peace Makers

Du sagst, Intersektionalität sei wichtig. Was heißt das genau?

LGBTIQ, Sexarbeiter*innen, Hausangestellte, Arbeiter*innen in Bekleidungsfabriken, Migrant*innen vom Land, Minderheiten und Indigene, um nur einige Gruppen zu nennen, sind generell verletzlicher, genderbasierte Gewalt trifft sie stärker.

Frauen mit Behinderung erfahren eher Gewalt in ihrem Haushalt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in eine Notlage kommen, emotionale Gewalt erleben oder von Haushaltmitgliedern kontrolliert werden, ist höher. LGBTIQ-Frauen erleiden mehr häusliche Gewalt, wobei die Gemeinschaft bei ihnen oft darüber hinwegsieht. Frauen und Mädchen der Khmer Krom und der ethnischen vietnamesischen Minderheit haben oft mit einer anti-vietnamesischen Haltung und auch strukturellen Herausforderungen zu kämpfen. Dazu zählen ihr rechtlicher Status sowie der Zugang zu Rechten und sozialen Diensten. Andere Minderheiten wie die muslimischen Cham und die 24 indigenen Gruppen sind mit sozialer Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert. Arbeitsmigrant*innen vom Land kommen oft nach Phnom Penh, da es dort Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Sie erhalten aber nur Jobs, die einen niedrigen sozialen Status haben. Intersektionelle Marginalisierung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie genderbasierte Gewalt erleben.

Bei genderbasierter Gewalt, gibt es da Unterschiede zwischen dem ländlichen und urbanen Raum?

Ja. Etwa 80% der Bevölkerung lebt auf dem Land. Dort gib es weniger Infrastruktur, Gesundheitseinrichtungen und verfügbare Dienste als in den Städten. Darüber hinaus ist es schwieriger, an aktuelle Informationen zu kommen, da es an Zugang zu Technologie oder dem Internet fehlt. Ein damit verbundenes Problem ist Armut, die auf dem Land größer ist. Weiter sind die dort häufiger vorkommenden, von Frauen geführten Haushalte aufgrund der sozialen Normen sowie der begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten verletzlicher.

In ländlichen Gebieten neigen Mädchen dazu, früher zu heiraten und es gibt höhere Schulabbruchquoten. Letzteres aus mehreren Gründen, aber es ist meist verknüpft mit Armut. An Orten mit nahe gelegenen Fabriken brechen mehr Mädchen die Schule ab, weil ein Job ‚vor der Haustüre liegt’. Andere Gründe sind weite Schulwege, Ablehnung im Elternhaus gegenüber dem Schulbesuch oder ein Mangel an Informationen über die Bedeutung von Bildung.

Unabhängig von solchen Unterschieden findet sich genderbasierte Gewalt überall: In reichen und armen Familien, in allen Klassen, Kulturen, sie existiert in der Stadt und auf dem Land.

Ist Kinderheirat in Kambodscha weit verbreitet?

Darüber haben wir landesweit leider nicht ausreichende Daten. Aber es gibt sie. Und wir wissen, dass sie eher in ländlichen Gebieten stattfindet. Laut dem Cambodia Demographic and Health Survey 2014 haben 1,9% der Frauen im Alter von 20-24 Jahren mit 15 geheiratet, und 19% bevor sie 18 Jahre alt waren.

Workshop mit Mädchen von Minderheiten und Indigenen in der Provinz Mondulkiri. WPM versucht möglichst viele Gruppen in ihrer Arbeit zusammenzubringen © Women Peace Makers

Was sind die Folgen genderbasierter Gewalt für die Betroffenen und die Gesellschaft?

Gewalt gegen Frauen und Mädchen wirkt sich nicht nur auf ihre Leben aus, sondern auf die Familien, die Gemeinschaften, die Nation und auf die ganze Welt, einfach, weil Frauen die ‚Hälfte des Himmels tragen‘ und gleichberechtigt sind. Abgesehen von den physischen und psychischen Verletzungen und auch Todesfällen stellt genderbasierte Gewalt für das Land und die Welt eine enorme wirtschaftliche Belastung dar, die Kosten belaufen sich auf fast 2% des globalen Bruttoinlandsprodukts.

Die Folgen der Gewalt sind besonders verheerend für die Familien. Kinder werden Zeugen der Gewalt und wachsen mit ihr auf. Sie lernen die Muster, handeln irgendwann selbst so und geben es an die nächste Generation weiter. Das wird zu einem nicht enden wollenden Kreislauf der Gewalt. Manchmal führt sie sogar zum Tod.

Wo können betroffene Frauen* und LGBTIQ Hilfe finden? Gibt es staatliche Anlaufstellen?

Ja, es gibt zuständige Anlaufstellen, aber nur begrenzt. Bei häuslicher Gewalt wenden sich Betroffene normalerweise zunächst an ihre Familie, Freund*innen und Verwandte. Manchmal wenn es ‚ernst’ wird, gehen sie direkt zu den lokalen Behörden. Zu den verfügbaren staatlichen Diensten gehören z.B. Community-Gesundheitszentren, Polizeistationen und kommunale Streitbeilegungsausschüsse.

Besorgniserregend ist das Fehlen staatlich geführter Frauenhäuser. Eine nationale Hotline für Hilfe suchende Frauen ist noch nicht richtig eingerichtet. In jeder Provinz gibt es jedoch zumindest eine persönliche Kontaktstelle innerhalb des Department of Women’s Affairs, die Frauen ebenfalls unterstützt.

Gibt es psychologische Hilfsangebote für betroffene Frauen* und Mädchen*?

Selten. Nach dem Bürgerkrieg gab es nur wenige Psycholog*innen. Der Bereich entwickelt sich erst seit zwei Jahrzehnten. Nur einige Organisationen bieten dies an und psychiatrische Einrichtungen sowie Krankenhäuser sind rar und nur in größeren Städten zu finden.

Das Frauenministerium arbeitet mit den wichtigsten Interessenvertreter*innen zusammen, um eine Umsetzung des Mindeststandards für die Beratung von Gewaltüberlebenden zu entwickeln und zu stärken. Aber das deckt noch nicht das gesamte Land ab.

Welche Rolle spielt die Jugend Kambodschas bei der Friedensförderung und der Bekämpfung genderbasierter Gewalt?

Die Jugend ist der Schlüssel. Die mit Gewalt zusammenhängenden Normen, Werte und Verhaltensweisen sind über Generationen weitergegeben worden. Wir müssen all diese negativen Stereotypen verlernen. Das ist eine große Herausforderung.

Die Jugend vertritt die kommende Generation und trägt ein starkes Potenzial in sich. Sie kann kulturelle Normen, negative geschlechtsspezifische Einstellungen sowie Stereotypen über „die Andere/den Anderen“ und damit verbundene gewalttätige Verhaltensweisen verändern.

Kambodscha ist ein sehr junges Land. Über 70% der Bevölkerung wurde nach dem Khmer-Rouge-Regime geboren. Die Jugend kann Veränderung bewirken und Gendergerechtigkeit ermöglichen. Aber die Jugend kann sie auch verhindern. Als treibende Kraft für Veränderungen, mit Energie, Leidenschaft, Neugierde und Fähigkeiten, können junge Menschen einen entscheidenden Einfluss auf Gleichaltrige und ihre Familie ausüben.

Kambodscha genderbasierte Gewalt

Workshop mit Frauen aus vier verschiedenen marginalisierten Gruppen © Women Peace Makers

Bei WPM arbeitet ihr viel mit der Jugend. Wie bezieht ihr dort Jungen* und junge Männer* in eure Projekte ein?

Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen versuchen wir, kreativ heranzugehen und konzentrieren uns auf interaktive Übungen, oft im Freien. Wir bieten ihnen Wissen an, aber keine Theorien. Gewöhnlich bringen wir in Workshops eine große Gruppe zusammen, darunter Khmer, Indigene und Minderheiten, und LGBTIQ.

Übungen wie Forumtheater oder der Privilege Walk sind regelmäßig Augenöffner für junge Männer. Manche Teilnehmer sind erschüttert, wenn sie sich ihrer Privilegien bewusst werden und wie es ist, eine Frau zu sein. Danach ändern sie ihre Denkweise, Einstellungen und letztlich ihr Verhalten. So beginnt Wandel.

Bei erwachsenen Männern gehen wir anders vor. Mit ihnen machen wir eine Art Männerdialog, bei dem wir über ihr Leben sprechen. Darüber, wie sie in bestimmen Situation handelten oder warum sie dies und jenes tun. So helfen wir ihnen, Geschlechterrollen und Stereotypen zu reflektieren und zu hinterfragen. Bei dem Prozess braucht man aber einen langen Atem.

Wie ermächtigt ihr junge Frauen* und Mädchen*?

Zurzeit arbeiten wir vor allem mit grassroots women leaders [d.h. Frauen, die in dörflichen Gemeinden führende Positionen innehaben, d. Red.] und mit Frauen* aus marginalisierten Gruppen. Wir glauben, dass Frauen bereits eine Stimme haben. Sie brauchen Chancen, Fähigkeiten und Räume. Wir schaffen ihnen diesen Raum und unterstützen sie auf ihrem Weg dabei, ihre Stimme zu erheben, sich austauschen, sich gegenseitig zu unterstützen und auf ihre Weise zu führen.

Hat sich in Kambodscha in den letzten Jahren etwas verändert?

Genderarbeit begann Anfang der 1990er Jahre. Damals wurde der Begriff noch gar nicht benutzt. In den 2000er Jahren änderte sich das allmählich, als Gender in nationalen Strategieplänen und Gesetzen verwendet wurde.

Das Gesetz zur Verhinderung häuslicher Gewalt und zum Schutz von Opfern wurde 2005 verabschiedet, und in der Folge wurden beispielsweise Richtlinien wie Neary Ratanak (5-Jahresplan für die Gendergleichberechtigung und Empowerment von Frauen in Kambodscha), der Nationale Aktionsplan zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen, eine nationale Genderpolitik entwickelt.

Im Vergleich zum letzten Jahrzehnt haben wir heute mehr Frauen mit höherer Bildung. Frauen haben Stellen inne, in denen sie selbst etwas bewirken können. Eine Entwicklung ist sichtbar, aber es muss noch viel mehr getan werden.

Video: Weaving Women’s Leadership for Change, Women Peace Makers:

Welche weiteren Entwicklungen sollte es in den nächsten Jahren geben?

Die wirksame Umsetzung von Gesetzen, Richtlinien und nationalen Aktionsplänen ist noch verbesserungsfähig. Ein weiteres Problem ist der Mangel an weiblichen Führungskräften. Es sollte Mechanismen und Maßnahmen geben, um hier Veränderungen zu bewirken. Die Strafverfolgung sollte gestärkt werden. Soziale Dienste, einschließlich Rechtshilfe, Streitbeilegung, Frauenhäuser und Beratung, sollten kostenlos für Überlebende von genderbasierter Gewalt sein. Und zwar in einer gendersensiblen und -gerechten Weise.

Was ist entscheidend, um diese Ziele zu erreichen?

Information ist Macht. Der Zugang zu Informationen und zu Bildung wird die Möglichkeiten der nächsten Generationen Kambodschas bestimmen. Eine Zukunft mit besser ausgebildeten Frauen wird dieses Land zum Besseren verändern. Es gibt noch viele Herausforderungen und Widerstände, aber wir glauben, ein gerechteres Kambodscha für alle Gender, Minderheiten und Ethnien schaffen zu können.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Raphael Göpel

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