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Indonesiens geraubte Archive in den Niederlanden

geraubte Archive

„Freiheit oder Tod“ (Merdeka atau mati). Das aus dem Jahr 1949 stammende Foto zeigt Slogans an einer Wand in Semarang. Die Rechte an dieser historischen Aufnahme hält das Holländische Nationalarchiv. © Nationaal Archief Netherlands

Indonesien/Niederlande: Die aktuelle Restitutionsdebatte ist in den Niederlanden stark auf Exponate in Museen fokussiert. Die Geschichte der in den ehemaligen Kolonien beschlagnahmten Archive, zu denen kaum Zugang besteht, findet bisher wenig Beachtung.

In den Niederlanden wird die Debatte über die Rückgabe von kolonialem Kulturerbe zurzeit intensiv geführt, nachdem die niederländische Regierung die Empfehlung der nationalen Beraterkommission zur bedingungslosen Rückgabe von geraubten Objekten angenommen hat. Die Beraterkommission zum Umgang mit kolonialer Kollektion wurde von der Regierung berufen und hatte ihre Empfehlungen am 7. Oktober 2020 der Ministerin für Kultur und Wissenschaft, Ingrid van Engelshoven übergeben. Die meiste Aufmerksamkeit wird Objekten in den niederländischen Museen gewidmet, die aus verschiedensten Teilen der ehemaligen niederländischen Kolonien einschließlich Indonesien stammen. Was in dieser aktuellen Debatte aber noch fehlt, ist der Umgang mit Archiven, die vom niederländischen Kolonialregime beschlagnahmt und dann versteckt wurden.

Begleiterscheinung der holländischen Kolonialherrschaft war eine penible Dokumentation ihrer Aktivitäten. Jede Akte, jedes Dokument, jede Karte, jedes Bild, das die koloniale Verwaltung und ihre Aktivitäten belegen konnte, wurde in einem sehr gut strukturierten und reglementierten kolonialen Archivsystem aufbewahrt. Auch als das niederländische Militär 1945 nach Indonesien zurückkehrte, gab es Aufzeichnungen über dessen Aktionen.

Diese Archive enthalten eine Vielzahl von Dokumenten und Aufzeichnungen, die während des ‚Dekolonisierungskrieges’ 1945-1949 bei niederländischen Militäroperationen beschafft, beschlagnahmt oder geplündert wurden. Da viele indonesische Archive in die Niederlande gebracht wurden, ist die Existenz der versteckten Archive den meisten Indonesier*innen, mit Ausnahme von Archivaren und Historikern, kaum bekannt.

geraubte Archive

Nefis Dokument über die Verbreitung des Slogans „Merdeka atau Mati“ (Freiheit oder Tod) von 1946 © Rika Theo

Aufzeichnungen über die Dynamik des Unabhängigkeitskampfes

Es waren die niederländischen Geheimdienste, Netherlands Forces Intelligence Service (NEFIS) und Centrale Militaire Inlichtingendienst (CMI), die die bei ihren administrativen, nachrichtendienstlichen und militärischen Operationen erbeuteten Dokumente und Aufzeichnungen archivierten und aufbereiteten. In ihren – heute als NEFIS/CMI-Archiven bezeichneten – Sammlungen finden wir Aufzeichnungen, die die Dynamik der frühen indonesischen republikanischen Regierung belegen, geschrieben von den republikanischen Führern und Institutionen.

Die Archive enthalten auch wertvolle Aufzeichnungen von indonesischen gesellschaftspolitischen Organisationen mit unterschiedlichsten Positionen zum Unabhängigkeitskampf. Es gibt zum Beispiel Briefe indonesischer Informanten an den niederländischen Geheimdienst oder Dokumente, die verschiedene Konflikte und Dissonanzen unter den Indonesiern darstellen, die in den offiziellen indonesischen Geschichtsbüchern nicht erörtert werden. Andere Aufzeichnungen enthalten sehr persönliche Dokumente: Tagebücher, Fotos, private Briefe und persönliche Gegenstände verschiedener Personen, von Freiheitskämpfern, Politikern, Schriftstellern und Journalisten.

Geraubte Archive, gelenkte öffentliche Meinung

Diese versteckten Archive waren wichtige Ressourcen für die damalige niederländische Kolonialregierung. Sie wurden verwendet, um die internationale Meinung und Diplomatie in Bezug auf die niederländische Re-Kolonisierung Indonesiens zu beeinflussen. Darüber hinaus dienten die versteckten Archive, wie von Okeu Yulianasari (Deciphering the NEFIS Archives: Investigating Dutch Information Gathering in Indonesia, 1945-1949, MA Thesis, University of Leiden, 2012) recherchiert und später von Michael Karabinos (The Djogdja Documenten: The Dutch-Indonesian Relationship Following Independence through an Archival Lens, 2015) erweitert, als dokumentarischer Beweis für die Anschuldigung der Niederländer über die vermeintlich dysfunktionale indonesische republikanische Regierung, insbesondere indem sie diese mit Opiumhandel, Aufstand und Kommunismus in Verbindung brachten. Zu diesem Zweck wurden die Berichte, die das Original und die Kopie oder die übersetzte Version der Original-Dokumente enthielten, an verschiedene niederländische und internationale Stellen geschickt. Dies ist einer der Gründe, warum die versteckten Aufzeichnungen an mehreren Orten, das heißt nicht ausschließlich in den NEFIS/CMI-Archiven zu finden waren. Sie waren zum Beispiel im Archiv des Algemeene Secretarie, Procureur General, Rapportage Indonesia und sogar in den Archiven internationaler Organisationen und anderer Länder außerhalb der Niederlande verstreut.

Historisch gesehen wurde die Rückgabe der geraubten Kulturgüter auf der von den Vereinten Nationen gesponserten Round Table Conference (RTC), der Verhandlungsrunde über die Souveränität des ehemaligen Niederländisch-Indien im Jahr 1949, in einem Kulturabkommen vereinbart. Artikel 19 des Abkommens sah vor, dass Kulturgüter indonesischer Herkunft an die indonesische Regierung übergeben werden sollten.

geraubte Archive

Runder Tisch Konferenz zwischen Indonesien und den Niederlanden in Den Haag, August 1949. © Nationaal Archief Netherlands

Die Archive von NEFIS und CMI wurden jedoch vor der Unterzeichnung des Abkommens zur Übertragung der Souveränität am 27. Dezember 1949 per Schiff in die Niederlande transportiert. Danach wurden sie viele Male zwischen verschiedenen niederländischen Ministerien hin und her verlegt und vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Diese Archive wurden schließlich im Nationalarchiv untergebracht und 1990 zum Teil der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hier wurden sie als inbeslaggenomen, gevonden en buitgemaakte (beschlagnahmt, gefunden und gestohlen) bezeichnet und unter einem größeren Inventar von NEFIS/CMI Archive abgelegt (Zugangsnummer 2.10.62). Die gesamten NEFIS/CMI-Archive bestehen aus 75 Metern Akten und sind in 7334 Inventarnummern geordnet, während die versteckten Archive aus 3099 Akten bestehen.

Indonesien besitzt kaum Archive aus den ersten Jahren der Unabhängigkeit

Für Indonesien sind die versteckten Archive von Bedeutung, weil sie eine entscheidende Dekolonisierungsperiode dokumentieren, den Befreiungsprozesses, aus dem ein neuer Nationalstaat hervorging. Außerdem sind Archive aus dieser Zeit im Land selbst sehr rar. Sie wurden entweder entsorgt, verbrannt oder sind in verschiedenen Einzelbeständen verstreut. Der ‚Dekolonisationskrieg’ 1945- 1949 hat nicht nur Leben und Orte zerstört, sondern auch viele Archive. Im Einführungsdokument des Arsip Nasional Indonesia (ANRI) für das statische Archiv in den Jahren 1945- 1950, heißt es, dass Informationen über verschiedene Ereignisse in den frühen Jahren der Unabhängigkeit unvollständig sind. ANRI besitz zum Beispiel aus dieser Zeit nur drei Kisten mit Archiven des indonesischen Innenministeriums.

ANRI hat jedoch von der niederländischen Nationaal Archief (NAN) Archive erhalten. Eine Auswahl, nämlich die Djogdja Documenten, wurden nach Indonesien zurückgegeben. Diese umfassen 356 Inventarnummern – eine kleine Zahl im Vergleich zu den Tausenden von NEFIS versteckten Archiven. Es waren Dokumente, die von den staatlichen Institutionen und von den Führern der Republik Indonesiens geschrieben und beim Angriff der niederländischen Truppen 1948 auf die damalige republikanische Hauptstadt Yogyakarta beschlagnahmt wurden.

Diese besondere Rückführung entstand aus einem Antrag Indonesiens, der eher informell während des frühen Mikrofilmaustauschprojekts zwischen den beiden Nationalarchiven gestellt wurde. Nach einer Reihe von formellen und informellen Verhandlungen gab Den Haag 1976 die Akten schließlich in zwei Durchgängen an Jakarta zurück. 1987 erfolgte eine weitere Übergabe, einschließlich der Papiere von Abdul Gafar Pringgodigdo, der die Verfassung Indonesiens aufzeichnete.

NEFIS Registrierungsakte von beschlagnahmten Dokumenten aus Semarang 1946. © Rika Theo

Die meisten geraubten Dokumente werden versteckt aufbewahrt

Die Rückführung von Djogdja Documenten gilt als eine der wenigen Erfolgsgeschichten von Archivansprüchen weltweit. Dennoch bleiben viele Lücken. So sind beispielsweise die Angaben zu Auswahlkriterien und Ablauf der Rückgabe von Archiven nicht in der Archivbeschreibung bei NAN zu finden. Außerdem gibt es aus Yogyakarta immer noch viele indonesische Regierungsarchive, die bislang in den Niederlanden verbleiben. Wenn die Rückgabe der indonesischen Regierungsarchive aus Yogyakarta möglich ist, wie sieht es dann mit anderen geraubten indonesischen Regierungsarchiven aus, die von 1945 bis 1949 aus verschiedenen Gegenden beschlagnahmt wurden?

Außerdem unterliegt die Nutzung der in den Niederlanden befindlichen Archive durch Indonesier*innen großen Hürden. Man muss nach Den Haag kommen, um sie einsehen zu können. Bei der Fülle der Akten in den NEFIS/CMI-Archiven ist es nicht einfach, sich im Online-Katalog zurechtzufinden. Denn obwohl die meisten Archive in indonesischer Sprache verfasst wurden, ist der Katalog nur auf Niederländisch verfügbar. Da die versteckten Archive unter den NEFIS/CMI-Archive abgelegt sind, gibt die Beschreibung meistens nur die NEFIS und den Geheimdienst als Ersteller dieser Archive an. Sie erzählt wenig über die indonesischen Verfasser. Zweitens muss man, um diese Dokumente zu finden, wissen, dass sie sich im Teilbestand Documentatie unter den Inventarnummern 3013 bis 7112 befinden. In der an NEFIS/CMI orientierten Archivanordnung sind die geraubten Archive nämlich versteckt. Darüber hinaus wird in der Beschreibung immer noch eindeutig „Politioneel actie“ verwendet, ein alter umstrittener Begriff, der die Gewalt der holländischen Invasion ohne jede Erklärung verschleiert.

Erste Verbesserungen für eine leichtere Aktensuche

Trotz dieser erheblichen Probleme wurde das Suchmittel der NEFIS/CMI-Archive tatsächlich verbessert. Im Jahr 2016 erweiterte der Historiker der Universität Leiden, Harry Poeze, die Beschreibung jedes Datensatzes um Personennamen, Organisationsnamen und Ortsnamen. Dies macht die Aktensuche einfacher als mit dem bisherigen Katalog, der nur die Aktennummer ohne individuelle Aktenbeschreibung auflistet.

Der Fall der versteckten Archive zeigt, dass der Besitz von kolonialen und kolonisierten Archiven einen großen Einfluss darüber gibt, wie auf die Archive zugegriffen wird und wie sie verwendet werden können. Die fehlende Zugänglichkeit und Inklusivität des Suchvorgangs weisen auf das anhaltende Erbe der kolonialen Archivinfrastruktur hin. Wir sollten uns um die Rückgabe dieser geraubten Archive bemühen. Aber zunächst brauchen wir konkrete Maßnahmen, um diese Archive für die Menschen des Ursprungslandes überhaupt auffindbar und zugänglich zu machen.

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