Indonesien: Gojek – gestartet als App zur Vermittlung von Motorradtaxis, ist mittlerweile eine Plattform für diverse Dienstleistungen. Gojek hat die Regeln des Marktes von Grund auf verändert. Das hat Vor- und Nachteile für Konsument*innen, aber auch für die Menschen, die als Motorradtaxifahrer*innen ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Aus dem Stadtbild von Jakarta sind sie nicht mehr wegzudenken: die grün-schwarzen Uniformen tausender Motorradfahrender im Dienst der digitalen Dienstleistungsplattform Gojek oder der farblich gleich auftretenden Konkurrenz Grab. Ihren Ausgang nahm die grün-schwarze Präsenz im Januar 2015, als ein, bis dahin weitgehend unbekanntes, lokales Start-up namens Gojek eine App auf den Markt brachte, die binnen kürzester Zeit den gesamten Nahverkehr Jakartas aufmischen sollte. Was diese App bot, war voll im globalen Trend und zugleich ganz auf den heimischen Markt ausgerichtet: eine digitale Ridehailing-Plattform nach dem Vorbild des US-Giganten Uber, die jedoch nicht auf auto-basierte Taxidienste, sondern auf die namensgebende Dienstleitung des Motorradtaxis, auf Indonesisch: ojek, ausgerichtet war.
Wer Jakarta kennt, weiß, wie beliebt und praktisch ojek dort sind. Wendig schlängeln sie sich an den endlosen Staus vorbei, durch enge Gassen der Wohnviertel hindurch. Auch wenn der genaue Preis verhandelt wird und variiert, fahren ojek zu einem Bruchteil des regulären Taxi-Preises. Ojek operieren seit jeher in einer Grauzone der ‚Informalität‘: rechtlich ist die Nutzung von Motorrädern als öffentliche Verkehrsmittel untersagt, doch werden sie in der Praxis – angesichts eines bislang unzureichenden öffentlichen Nahverkehrssystems – geduldet.
Herkömmlichen ojek-Fahrern (in der Regel sind es Männer) haftet das Image von Armut und Grobheit an, da sie ihren Lebensunterhalt im ‚rauen Alltag‘ der Straße verdienen. Gojek trat nun als ‚Modernisierer‘ des informellen Transportgeschäfts auf und erklärte seine ‚philanthropische‘ Absicht, jene „armen“ ojek-Fahrer ökonomisch „zu empowern“. So versprach das Unternehmen, dass die digitale Vermittlung von Kundschaft unproduktive Wartezeit verringern und somit die Einnahmen der Fahrenden steigern könne.
Dabei sollten auch die Passagiere eine neue Servicequalität erfahren, mit erhöhtem Komfort und einheitlichen Sicherheits- und Hygienestandards. So warb Gojek mit einer festen Kilometerpauschale und einer entsprechend transparenten Preiskalkulation, aber auch der Bereitstellung frisch desinfizierter Helme. Zudem lockte das Unternehmen mit einer Unfallversicherung für Fahrgäste und Fahrer sowie mit der Möglichkeit, Fahrer für ihre Servicequalität im Online-Profil zu bewerten.
Letztlich zog ein unschlagbar günstiges Aktionsangebot die Aufmerksamkeit der jungen smartphone-affinen Hauptstädter*innen auf sich und verhalf Gojek zum Durchbruch: Während des Fastenmonats, Mitte Juni bis Mitte Juli 2015, bot Gojek Fahrten von bis zu 25 km für unschlagbare 10.000 Rupiah (ca. 0,70 Euro) an. Im Vergleich dazu verlangten herkömmliche ojek-Fahrer damals bereits 5.000 Rupiah für eine Kurzstrecke und an die 50.000 Rupiah für eine 10 km-Fahrt. Entscheidend am Gojek-Angebot war, dass es auch für die Fahrer lukrativ war. Denn diesen wurde vom Unternehmen gemäß der damals regulären Kilometerpauschale 4.000 Rupiah/km vergütet, abzüglich der 20 Prozent Servicegebühr, die Gojek bei jedem Auftrag für seine vermittelnden Dienste einbehielt. Dieses Zusammenspiel aus extrem niedrigen Verbraucherpreisen und hohen Kilometersätzen führte zunächst zu fantastischen Einkommen für die Fahrer*innen (zunehmend auch Frauen). In den Medien berichteten glückliche Gojek-Fahrer*innen von Monatseinkommen, die dem Dreifachen des damaligen Mindestlohns entsprachen. Bald schon konnte sich Gojek kaum mehr vor dem Ansturm registrierungswilliger Fahrer*innen retten und die grün-schwarzen Uniformen begannen, sich auf den Straßen der Hauptstadt zu tummeln.
Bericht von Al Jazeera aus den Anfangstagen von Gojek. Dass das Unternehmen innerhalb weniger Jahre zum Marktführer aufsteigen wird, war damals noch keineswegs ausgemacht.
Das Fastenmonatsangebot war nur der Auftakt für eine ausgedehnte Angebotsschlacht im Kampf um die Marktführerschaft. Denn neben Gojek drängten inzwischen weitere Plattform-Anbieter ins ojek-Geschäft, allen voran das malaysische Ridehailing-Unternehmen Grab. Grab hatte bereits im November 2014 begonnen, in Ho-Chi-Minh-Stadt mit einem ähnlichen Angebot zu experimentieren. Der große Erfolg dieses Geschäftsmodells kam jedoch erst in der ojek-Branche Jakartas.
Zunächst machte jedoch der Lokalpionier Gojek das Rennen. Rasch expandierte das Unternehmen in weitere Städte und erweiterte sein Dienstleistungsangebot um Essenslieferungen sowie Kurier-, Einkaufs-, Massage-, Schönheits-, Hausreinigungs- und Umzugsdienste. Im März 2016 waren landesweit bereits 210.000 Fahrer mit Gojek registriert, bei über 13 Millionen Downloads der App. Finanziert wurde diese Expansion von internationalen Wagniskapital-Investoren, wobei Gojek von Oktober 2015 bis März 2016 Kapital in Höhe von 73 Millionen US-Dollar ‚verbrannte‘. Im August 2016 knackte das Unternehmen dann die Bewertungsmarke von einer Milliarde US-Dollar und ging als Indonesiens erstes „Einhorn“ in die Geschichte ein. So wurde Gojek zum gefeierten Aushängeschild einer national geprägten digitalen Transformation. Gojek-Gründer Nadiem Makarim, Spross einer reichen Unternehmerfamilie, ist seit 2019 Indonesiens Minister für Bildung, Kultur, Forschung und Technologie.
Die konventionellen ojek-Fahrer waren vom Aufstieg des digitalen Geschäftsmodells kaum begeistert. Anfänglich waren nur Wenige bereit, sich als ‚Partner‘ der Plattform anzuschließen und damit an deren Preis- und Servicerichtlinien zu binden. Sie ahnten, dass die ‚goldenen Zeiten‘ der subventionierten Aktionsangebote und hohen Kilometerpauschalen schon bald vorbei sein könnten. Einige lehnten es auch prinzipiell ab „für jemand anderen zu arbeiten“ und die Früchte ihrer harten Arbeit teilen zu müssen – auch wenn dies bedeutete, auf potentiell höhere Einkommen zu verzichten. Doch selbst wenn sie wollten, scheiterten viele der ojek-Fahrer an den bürokratischen Hürden der Gojek-Registrierung, da sie nicht über die erforderlichen Dokumente verfügten oder die damalige Altersgrenze von 55 Jahren überschritten.
Anstatt sich ‚empowert‘ zu fühlen, sahen sich die herkömmlichen Fahrer in ihrer Existenz bedroht. Denn das neue Geschäftsmodell entzog sich allen bisherigen Mechanismen der Marktregulierung. Bis zum Aufkommen der Apps waren alle ojek-Dienste über ein dezentrales System von Motorradtaxiständen, den pangkalan, organisiert gewesen. Diese Stände gab und gibt es an jeder größeren Kreuzung und jedem strategischen Umsteigeplatz in der Stadt (wenngleich ihre Präsenz seit dem Siegeszug von Gojek deutlich nachgelassen hat). Oft sind sie als selbst gezimmerte Unterstände erkennbar. Zugleich haben sie eine wichtige Funktion für die Selbstorganisation: Jeder Stand wird von einem Zusammenschluss von Fahrern betrieben und deckt ein bestimmtes Territorium ab. Dabei regelt ein ungeschriebener Verhaltenskodex, welcher Fahrer wann und wo Fahrgäste aufnehmen darf – und wann er diese den Fahrern einer anderen, lokalen pangkalan zu überlassen hat. Innerhalb der pangkalan greift dann ein Rotationsprinzip, sodass jedes Mitglied gleichermaßen zum Zuge kommt. Dieses System wurde durch die Plattformen jedoch vollständig ausgehebelt, da im digitalen Geschäftsmodell jede*r Fahrer*in in der gesamten Stadt Passagiere aufnehmen konnte – solange er*sie nur schnell genug auf die Anfrage reagierte.
Deshalb reagierten pangkalan in ganz Jakarta mit Protest-Bannern, die Fahrern von Gojek und Grab untersagten in ‚ihrem‘ Territorium Fahrgäste aufzunehmen oder auch nur das Gebiet zu betreten. Diese Verbote wurden mit Gewaltandrohungen untermauert. Medien berichteten von tätlichen Angriffen lokaler ojek-Fahrer auf ihre grün-schwarz uniformierten Konkurrenten. In der Öffentlichkeit wurde der Konflikt ‚ojek versus Gojek‚ auf die territoriale Dimension reduziert und als bloße Revierverteidigung der Alteingesessenen abgetan, die sich durch ihre Gewalt dem ‚freien Wettbewerb‘ verweigern wollten.
Für die pangkalan-Fahrer ging es jedoch um weitaus mehr als ‚ihr‘ jeweiliges Territorium; es ging um die grundsätzliche Frage, ob und wie die ojek-Branche reguliert werden und nach welchen wirtschaftlichen Prinzipien sie operieren sollte. Denn während Plattformen wie Gojek der expansiven Wagniskapital-Logik folgten, war das System der pangkalan auf die Sicherung eines auskömmlichen Lebensunterhalt für ihre Mitglieder ausgerichtet. Darum war die Größe einer pangkalan der lokalen Nachfrage angepasst, wobei sich die Fahrer in der Regel aus der angrenzenden Nachbarschaft rekrutierten. Meist handelte es sich dabei um Männer mittleren bis fortgeschrittenen Alters aus der Unter- oder unteren Mittelschicht, die keinen Zugang zum formellen Arbeitsmarkt (mehr) hatten. Für sie war ojek-Fahren eine Existenz sichernde Hauptbeschäftigung. Die Plattformen zogen nun ganz neue Bevölkerungsgruppen an: Büroangestellte, Hausfrauen und Studierende, die in den App-basierten ojek-Diensten eine lukrative Nebenverdienstmöglichkeit sahen. Statt Verteilung und Einkommenssicherheit ging es nun um Wettbewerb und Akkumulation, befördert durch die individuellen Leistungsprämien der Plattformen. Dabei war es für die Unternehmen egal, ob der Markt ein ausreichendes Einkommen für all ihre Fahrer hergab.
Mit der Zeit konnte das alte ojek-System dem ökonomischen Druck nicht mehr standhalten. Die Banner verschwanden, pangkalan verkleinerten sich, und immer mehr ojek-Fahrer schlossen sich den Plattformen an. Während dessen begannen sich die neuen, digital vernetzten Fahrer*innen in lokalen Gruppen zu organisieren, um sich im Alltag und dem Umgang mit ihrer Plattform gegenseitig zu unterstützen. Die Unternehmen wiederum senkten ihre Kilometerpauschalen, kaum dass sie genügen Fahrer an sich gebunden hatten. So zahlte Gojek schon im Juli 2016 nur noch 1.500 Rupiah pro Kilometer.
Zwar stießen diese Kürzungen auf vehemente Proteste der Fahrer, die nun gegen das Management ihrer eigenen Plattform auf die Straße gingen. Sie forderten die indonesische Regierung dazu auf, die digitale ojek-Branche zu regulieren und damit ihre Rechte gegenüber den Plattformen zu stärken. Vor dem Höchsten Gericht klagten sie jedoch erfolglos auf eine offizielle Anerkennung ihrer Dienste als öffentliches Verkehrsmittel. Immerhin erzeugten die Fahrer von Gojek und Grab genügend öffentlichen Druck, um das Verkehrsministerium im Jahr 2019 dazu zu bewegen, unter Berufung auf das „öffentliche Interesse“ eine Verordnung über den „Schutz und die Sicherheit von Motorradfahrern“ zu erlassen, die einheitliche Tarife für digitale ojek-Dienste und transparente Verfahren für die Einstellung und Suspendierung von Fahrern festgelegt. Jedoch blieb die festgesetzte Tarifspanne unter den Erwartungen der Fahrer*innen zurück. Eine verlässliche Umsetzung der Verordnung war und ist zudem nicht gewährgeleistet.
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