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Gewerkschaftsfreiheit in Vietnam
In Vietnam wird wahrscheinlich bald ein Arbeitsgesetz verabschiedet, das die Gründung neuer, parteiunabhängiger Gewerkschaften zulassen würde. Dies würde eine revolutionäre Veränderung der Gewerkschaftsstrukturen Vietnams bedeuten.
Ist es wirklich wahr? Während die meisten Länder Südostasiens ihre beschleunigte Industrialisierung mit Ausbeutung, repressiven Anti-Gewerkschaftsgesetzen und Arbeiter*innenunruhen begleiten, gibt es ein Land – Vietnam – das eine andere Richtung einschlägt. Anstatt eine repressive Arbeitsgesetzgebung zu verfolgen, debattiert Vietnams herrschende Elite gerade darüber, die Arbeitsmarktpolitik zu reformieren, um die Gründung freier Gewerkschaften zu ermöglichen.
Es stimmt zwar, dass Vietnam eine solche Initiative deshalb unternahm, weil es der Trans-Pacific Partnership (TPP) beitreten wollte, von der es sich vor allem mehr Handel und Direktinvestitionen mit und aus den Vereinigten Staaten erhoffte. Als Mitglied wäre Vietnam dazu verpflichtet, die freie Assoziation zu gewährleisten. Dies würde eine revolutionäre Veränderung der Gewerkschaftsstrukturen Vietnams bedeuten und neue Gesetze und Institutionen nötig machen. Um eine solche Veränderung mitzufinanzieren, stellte die US-Regierung im Jahr 2013 vier Millionen US Dollar bereit, die das vietnamesische Ministry of Labour, Invalids and Social Affairs (MOLISA) dabei unterstützen sollten, diese Transformation innerhalb von fünf Jahren zu bewerkstelligen.
Vietnam öffnet sich, während China repressiver wird
Skeptiker, eingefleischte Kritiker von Einparteiensystemen und jene, die – wie die US- Gewerkschaften – bei einem TPP Abkommen zu den Verlierern zählen würden, waren sich alle einig, dass Vietnam das Abkommen nur aus ökonomischen Gründen unterzeichnete, und dass eine echte Koalitionsfreiheit nie zustande kommen würde. Aber wenn dies so wäre, warum entwickeln die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) und der Vietnamesische Gewerkschaftsbund (VGB) weiterhin ein Gesetzentwurf, das dem VGB die Unabhängigkeit von der Partei garantieren und Arbeiter*innen das Recht zugestehen würde, ihre eigenen Gewerkschaften zu gründen? Und zwar nachdem Donald Trump Anfang 2017 aus dem TPP ausgetreten ist. Noch rätselhafter ist die Frage, warum die VGB-Bürokratie der Partei empfohlen hat, das System der Industriebeziehungen zu demokratisieren.
Um das Rätsel zu lösen argumentiere ich, dass ökonomische Interessen nur ein Teil der Geschichte bilden. Es gibt auch andere Faktoren – historische, politische und strukturelle – die erklären, warum Vietnam sich diesem Druck von Außen beugt. Diese Faktoren schufen die Vorbedingungen für den Wandel, bei dem der TPP als Katalysator fungierte. Um diese Argumentation zu stärken und den Kontext klarzumachen, werde ich China als Vergleichsmoment verwenden. Sowohl Vietnam als auch China haben ihre Wurzeln im Marxismus-Leninismus, beide sind asiatisch und konfuzianisch, beide autoritäre, sozialistische Einparteienstaaten, die die Marktwirtschaft umarmen. Doch Vietnam öffnet sich politisch, während China unter dem Xi Jinping Regime zunehmend repressiver wird. Obwohl sie ähnlich aussehen, sind sie in Wirklichkeit sehr verschieden. In dem wir diese Unterschiede herausarbeiten, werden wir auch verstehen, warum Vietnam diese bemerkenswerte Veränderung vollzieht.
Vietnamesischer Gewerkschaftsbund hat lange, kämpferische Tradition
Zunächst sind beide Gewerkschaftsverbände, der VGB und der Gesamtchinesischer Gewerkschaftsbund (GCGB) tatsächlich die sozialen Wohlfahrtszweige der Partei. Jedoch ist die GCGB viel schwächer als die VGCL in ihren jeweiligen politischen Strukturen. Die GCGB ist seit 1949 der Herrschaft von Partei und Staat untergeordnet – jeglicher Geist des Widerstands wurde ihnen ausgetrieben. Nach sieben Jahrzehnten ist die GCGB heute nicht mehr als eine sehr schwache, zweitrangige Bürokratie.
Die VGB, andererseits, hat eine lange Geschichte der Militanz, zuerst gegen den französischen Kolonialismus und später gegen die Amerikaner. Im Süden kämpften die Gewerkschaften gegen den vietnamesischen Kapitalismus. Die VGB ist viel schützender ihren Mitgliedern gegenüber. Schon auf dem Gewerkschaftskongress von 1988 erzielte sie eine gewisse Unabhängigkeit und durfte seitdem ihre Ideen auch gegen die Partei und Geschäftsleitung formulieren. Mitte der 1990er Jahre, zum Beispiel, veröffentlichte die offizielle Zeitung des VGB, Laodong („Arbeit“), Artikel, die offen eine unabhängige Position der Gewerkschaft gegenüber der Partei und dem Arbeitsministerium abgesteckt haben. Seit Jahren vertritt die VGB offen die Position, dass der Mindestlohn zu niedrig für die Deckung der Grundbedürfnisse der Arbeiter*innen ist. Eine solche öffentliche Debatte sucht man in der chinesischen Gewerkschaftszeitung Workers’ Daily vergebens. Hier spricht die VGCL, wie alle chinesischen Bürokratien, mit einer Stimme – die der Partei.
Ein Grund, warum die VGB diesen Freiraum hat, ist ihre Organisationsstruktur. In beiden Gewerkschaftsverbänden kontrolliert die Partei die Ernennung der Topkader der Gewerkschaft. Aber in China sind die Gewerkschaftsgliederungen von Partei und Staatsapparat der gleichen bürokratischen Stufe untergeordnet. So haben die höheren Gewerkschaftsgliederungen kaum Einfluss auf die unteren. In Vietnam dagegen, kann die Befehlsgewalt der zentralen Gewerkschaftsführung den Einfluss der lokalen Parteigliederungen überstimmen. So kann die VGB ihren übergeordneten Auftrag, die Rechte der Arbeiter*innen zu vertreten und zu schützen, nachkommen, auch wenn die lokale Parteigliederung lokale und ausländische Investitionen anzulocken versucht, indem sie die Arbeiter*innen ruhig stellt. In China sind die lokalen Gewerkschaften unter der Kontrolle der lokalen Partei, die meist mit den Arbeitgebern zusammenarbeitet. So können die lokalen Gewerkschaften den Arbeiter*innen gar nicht helfen, auch wenn sie dies wollten. Wenn Arbeiter*innen streiken stehen die Gewerkschaften deshalb meist auf Seiten der Lokalregierung und des Kapitals – und schauen zu, wie die Polizei Arbeiter*innenproteste gewaltsam auflösen. Die Situation wird dadurch verschlimmert, dass die Arbeitsgesetzgebung in China zur Legalität von Streiks schweigt. In anderen Worten gibt es in China kein Streikrecht.
Streikrecht und Streikpraxis in Vietnam
Vietnam dagegen erkennt das Recht zu streiken an. Das Verfahren, einen legalen Streik anzumelden, ist zwar so kompliziert und bürokratisch, dass von den vielen tausenden Streiks, die in den letzten zwei Jahrzehnten statt fanden, kein einziger als legal eingestuft werden könnte. Trotzdem, weil das Streikrecht anerkannt ist, werden streikende Arbeiter*innen, auch wenn sie die bürokratischen Vorgaben nicht einhalten, von der Partei, dem Staatsapparat und vom VGB nicht unterdrückt. Wenn ein Streik beginnt, dann erscheint sofort ein lokaler Vertreter der Arbeitsbehörde und der Gewerkschaft, die die Geschäftsleitung für die Missachtung von relevanten Arbeitsgesetzen und Vorschriften zur Schnecke machen und im Namen der Arbeiter*innen verhandeln. Die Polizei ist auch schnell zur Stelle, aber beobachtet die Situation eher, um zu verhindern, dass der Streik gewaltsam wird. Nach einigen Tagen, wenn die Forderungen erfüllt werden, wird die Produktion wieder aufgenommen.
Ein Vertreter eines deutschen Vereins, der eng mit MOLISA, dem VGB und der Universität von Hanoi zusammenarbeitet, schildert seine Erfahrung: „Es gibt viele Anekdoten, dass Gewerkschaftsfunktionäre oft schon im Vorfeld über illegale Streiks informiert sind. VGB-Funktionäre auf der lokalen Ebene geben offen zu, dass sie überzeugt und entschlossen sind, ‚Arbeiterrechte zu schützen und für sie zu kämpfen.‘ Das ist ihre höchste Priorität, und kann nicht immer erreicht werden, wenn man legalistisch jeden Paragraphen oder die offizielle Doktrin des konfliktfreien Kompromisses folgt. Es gibt zudem gerade Versuche innerhalb des VGB, einen Fonds für entlassene Streikführer zu schaffen. Es gibt sogar Fälle, bei denen erfolgreiche Streikführer, die später unmöglich einen Job finden können, als VGB Mitarbeiter angestellt werden.“
Internationale Beziehungen
Ein weiterer, wichtiger Faktor ist Vietnams Offenheit bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Kontakten, darunter auch internationale Arbeiter*innenorganisationen und ihren Ideen und Hilfeleistungen. Für viele Jahre kooperieren MOLISA und der VGB mit internationalen Organisationen wie die ILO und zwei TUSSOS (Trade Union Support and Solidarity Organizations): die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und APHEDA, die philanthropische Entwicklungshilfeorganisation des australischen Gewerkschaftsverbandes. Die ILO hat eine wichtige Rolle beim Entwerfen von Vietnams Arbeitsgesetze und bei der Organisierung von Weiterbildungen gespielt.
Das kamaradschaftliche Verhältnis zwischen dem VGB und einigen OECD Gewerkschaften geht zurück auf die Solidarität während des anti-amerikanischen Krieges (aka Vietnamkrieg). Ein kultureller Indiz dafür ist, dass vietnamesische Gewerkschaftler*innen (im Gegensatz zu chinesischen) ihre Kolleg*innen aus dem Ausland als Brüder und Schwester anreden – ein Zeichen, dass sie sich selbst als Teil einer internationalen Gemeinschaft von Gewerkschaften verstehen.
Schritte in Richtung Sozialpartnerschaft
Der VGB ist zuversichtlich, dass er erfolgreich um die Gunst der vietnamesischen Arbeiter*innen konkurrieren kann, auch wenn es künftig neue Gewerkschaften geben wird. Der Bund versteht, dass er sich selbst reformieren muss, um attraktiv zu bleiben. Er muss seine gesamte Struktur verstärken. So hat der VGB – in Zusammenarbeit mit der ILO – Mitte 2016 ein ‚Train the Trainers‘ Programm ausgefahren, das verschiedene Gewerkschaftsebenen im sozialen Dialog und Tarifverhandlungen ausbildet. Besonderer Fokus wird auf die unterste Gewerkschaftsebene gelegt, die gemeinhin die schwächste ist. Die Trainings sollen dazu dienen, dass die Funktionäre als Vertreter der Arbeiter*innen identifizieren und sich von der Dominanz der Geschäftsführung emanzipieren. Gleichzeitig müssen Gewerkschaftsgliederungen auf der Fabrikebene gestärkt werden, damit sie mit dem Fabrikmanagement erfolgreich verhandeln können.
Auf Anregung der ILO will Vietnam auf nationaler Ebene ein dreigliedriges System der Arbeitsbeziehungen etablieren. So werden Mindestlöhne und andere Arbeitsstandards auf der nationalen Ebene zwischen den drei Parteien (Gewerkschaft, Staat, Arbeitgeber) verhandelt und festgelegt.
Kürzlich, nach der letzten Festlegung des Mindestlohns, hat der VGB öffentlich kritisiert, dass er für die Grundbedürfnisse der Arbeiter*innen nicht ausreichen würde. Er plädiert stattdessen für einen festgelegten, existenzsichernden Lohn.
Der Entwurf des überarbeiteten Arbeitsgesetzes ist jetzt soweit, dass er zur Zustimmung durch das nationale Parlament vorgelegt werden kann. Falls angenommen, würde es bedeuten, dass Vietnam die Kernarbeitsnormen der ILO ratifizieren würde. Vietnam wäre das erste Beispiel für einen sozialistischen Einparteienstaat, der freiwillig und friedlich einen Teil seiner Kontrolle über die Gesellschaft aufgeben würde, ohne dafür gewaltsame Revolutionen wie in den ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetunion durchleben zu müssen.
Übersetzung aus dem Englischen von: Oliver Pye
Zum Weiterlesen:
- Do, C. 2017. “The Regional Coordination of Strikes and the Challenge for Union Reform in Vietnam.” Development and Change 48 (5): 1–17.
- Nguyen, T.P. 2017a. “Workers’ Strikes in Vietnam from a Regulatory Perspective.” Asian Studies Review 41(2): 263-280.
- Siu, K., and A. Chan. 2015. “Strike wave in Vietnam, 2006–2011.” Journal of Contemporary Asia, 45(1): 71–91.
- Tran, A. N., J. Bair, and M. Werner. 2017. “Forcing Change from the Outside? The Role of Trade-Labour Linkages in Transforming Vietnam’s Labour Regime. Competition & Change, 21(5): 397-416.
Dieser Text erscheint unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.