Die Entwicklung von Gewerkschaften setzte in Philippinen im Vergleich zu den asiatischen Nachbarn sehr früh ein. Heutzutage ist rund ein Fünftel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, die meisten in lokalen Arbeiter*innen-Organisationen mit wenig Durchsetzungskraft. Die große Zahl von Arbeitslosen und -willigen schwächt die Verhandlungsmacht der Lohnarbeiter*innen.
Aus der deutschen Erfahrung zu Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen heraus betrachtet ist die Lage der Gewerkschaften und Arbeiter*innen-Organisationen in den Philippinen verwirrend: Laut dem Bureau of Labor Relations, einer dem Arbeitsministerium (Department of Labor and Employment – DOLE) unterstellten Behörde, gibt es landesweit rund 80.000 Gewerkschaften und Arbeiter*innen-Organisationen (labor organizations) mit insgesamt 5,1 Millionen Mitgliedern. Von rund 25,7 Millionen abhängig Beschäftigten sind damit knapp 20 Prozent in diesen Organisationen organisiert. Den Löwenanteil daran haben die rund 60.000 Arbeiter*innen-Vereinigungen mit zusammen 3,1 Millionen Mitgliedern. Lediglich zwei Millionen der abhängig Beschäftigten – also rund acht Prozent – sind in circa 19.000 Gewerkschaften organisiert. Von diesen sind etwas über 17.000 Betriebsgewerkschaften mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern in Unternehmen der Privatwirtschaft. Weitere etwa 1.500 Betriebsgewerkschaften mit knapp 500.000 Mitgliedern finden sich im Bereich des Öffentlichen Dienstes.
Die Betriebsgewerkschaften haben die verfassungsmäßig garantierte Möglichkeit, tarifliche Vereinbarungen im betrieblichen Rahmen – sogenannte collective bargaining agreements – zu treffen, vergleichbar mit deutschen Haustarifverträgen. Darin werden u.a. Löhne, Arbeitszeit sowie die übrigen Arbeitsbedingungen zwischen Firmenleitung und Betriebsgewerkschaft für den jeweiligen Betrieb festgelegt. Gibt es in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften, dann entscheidet – oft nach heftigen Wahlkämpfen – eine Urabstimmung, welche der konkurrierenden Betriebsgewerkschaften alle Belegschaftsmitglieder offiziell vertritt.
Landesweit existieren rund 1.100 solcher „Haustarifverträge“ in der Regel mit einer dreijährigen Laufzeit, die gerade einmal für 200.000 Beschäftigte (also knapp 0,8 Prozent aller abhängig Beschäftigen) Gültigkeit haben. Flächentarifverträge für eine Region oder Branchentarifverträge für einen Wirtschaftszweig gibt es kaum. Etwa 70 Prozent der „Haustarifverträge“ sind im Bereich von Industrieunternehmen angesiedelt und betreffen etwa 100.000 der dort Beschäftigten; die übrigen 30 Prozent betreffen den Dienstleistungsbereich mit ebenfalls etwa 100.000 der dort Beschäftigten. „Haustarifverträge“ im Bereich von Land- und Forstwirtschaft und Fischerei sind verschwindend gering.
Die Durchsetzungskraft der – zuweilen konkurrierenden – Betriebsgewerkschaften ist begrenzt. Außerdem waren zahlreiche Führer*innen von Betriebsgewerkschaften in den letzten Jahrzehnten gegenüber Unternehmen und Staat anpassungsbereit, mitunter sogar korrupt. Nach wie vor ist der ‚pragmatische‘ Gewerkschaftsboss anzutreffen, etwa der Rechtsanwalt aus der städtischen Mittelschicht, der Gewerkschaftsarbeit in erster Linie als Einkommensquelle und Mittel für den persönlichen Aufstieg betrachtet.
Die Betriebsgewerkschaften haben zudem die Möglichkeit, sich größeren Gewerkschaftsverbänden anzuschließen, von denen es landesweit 136 gibt. Davon lediglich vier für einen ganzen Industriezweig, die übrigen sind bezüglich der Branchen gemischt und haben ihren Zusammenhalt eher aufgrund regionaler Gegebenheiten oder durch programmatische Haltungen bezüglich gewerkschaftlicher oder gesellschaftspolitischer Vorstellungen oder durch die persönliche Ausstrahlungskraft von Führungskräften an der Spitze des Verbandes. Der unmittelbare Nutzen aus dem Anschluss an einen Verband liegt für die Mitglieder der Betriebsgewerkschaft in den Dienstleistungen, die die größere Vereinigung gewährleisten kann. Rechtshilfe bei Verhandlungen, finanzielle Unterstützung bei Streiks und Arbeiterbildungsmaßnahmen zählen dazu.
Allerdings gehört nur etwa die Hälfte aller Betriebsgewerkschaften einem Verband an, die übrigen 8.000 sind unabhängig. Von einer gewerkschaftlichen Gegenmacht kann daher weder auf Ebene der Betriebsgewerkschaften noch auf Ebene der Gewerkschaftsverbände gesprochen werden. Alle Zahlenangaben beziehen sich auf amtliche Statistiken des Bureau of Labor Relations (BLR) – Stand März 2018 – bzw. der Philippine Statistics Authority (PSA) – Stand Januar 2018.
Als höchste Stufe in der Struktur der philippinischen Gewerkschaften sind schließlich die vier Dachverbände – oder in philippinischen Begriffen – die Gewerkschaftszentren zu nennen, denen sich die zahlreichen Verbände anschließen können. Als gesellschaftliche Kraft haben die Gewerkschaften erst auf dieser Ebene des Zusammenschlusses Gewicht. Die Dachverbände unterscheiden sich hinsichtlich ihrer gesellschaftspolitischen Ausrichtung und ihres Selbstverständnisses bezüglich der gewerkschaftlichen Interessenvertretung ihrer Mitglieder voneinander, was sich oftmals bis in unterschiedliche Auffassungen zu alltäglichen Fragen niederschlägt. Die unterschiedlichen Grundlagen der Dachverbände sind in der langen Geschichte der Gewerkschaftsbewegung und ihrem Verhältnis zu den gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten 120 Jahre verankert. Auch sind sie in der internationalen Gewerkschaftsbewegung unterschiedlich vernetzt.
Die erwähnten landesweit rund 60.000 Arbeiter*innen-Vereinigungen sind – in aller Regel – lokale Zusammenschlüsse von 3,1 Millionen Beschäftigten zur Vertretung ihrer Interessen in der Arbeitswelt (und Gesellschaft) im weiteren Sinn. Diese Organisationen sind in den drei großen Regionen Luzon, Visayas und Mindanao annähernd gleich verteilt, wobei in Luzon rund die Hälfte aller organisierten Mitglieder anzutreffen ist und in den Visayas und Mindanao jeweils rund ein Viertel.
In jüngerer Zeit ist im Spektrum dieser Vereinigungen die Bildung von Allianzen zu beobachten, zu denen sie sich teils nach regionalen, teils nach branchenbezogenen Ordnungsprinzipien verbünden. Dies führt zur Stärkung der Verhandlungsmacht der organisierten Beschäftigten und auch zu konzertierten Aktionen.
Die organisierte Interessenvertretung abhängig Beschäftigter hat in den Philippinen verglichen mit den asiatischen Nachbarn sehr früh eingesetzt. Die erste Gewerkschaft wurde bereits zur spanischen Kolonialzeit 1892 in Manila durch Drucker und Lithografen gegründet, die Union de Litografos y Impresores de Filipinas. Bald danach entstand 1902 durch die Initiative von Isabelo de los Reyes der erste Gewerkschaftsverband – ebenfalls in Manila, die Union Obrera Democratica (UOD) -, in dem sich die Organisationen von Druckern und Lithografen, Zigarrenmachern, Schneidern und Schuhmachern vereinten. Die Bewegung fand schnell auch Anhänger*innen in eher ländlich geprägten Landesteilen, so beispielsweise bei den Beschäftigten auf Plantagen (Zuckerrohr in Negros, Ananas und Bananen in Mindanao) und im Bergbau (z.B. den Goldminen in der Mountain Province).
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bildeten sich innerhalb der in der Marcos-Ära neu entstehenden Exportproduktionszonen (z.B. in Bataan und Mactan) unter den Arbeiter*innen der Textil- und Bekleidungsunternehmen und in Elektronikfirmen Gewerkschaften. Dies musste meist insgeheim geschehen, weil in diesen Zonen ein striktes Versammlungsverbot galt und Zuwiderhandlungen auf staatliche Repressalien stießen.
Von 23 Verbänden und mit Unterstützung der Marcos-Regierung 1975 unter dem Kriegsrecht gegründet, um alle Gewerkschaftsverbände in einem Dachverband zu vereinen und nach dem Prinzip der Industriegewerkschaften zu organisieren. Inzwischen gehören rund 30 Verbände dem TUCP an, insbesondere auch aus dem Bereich des Öffentlichen Dienstes. Zu den Zielen gehört die Mitwirkung an einer stabilen philippinischen Wirtschaft durch die Einhaltung des Arbeitsfriedens. TUCP gilt als größter Dachverband und hat nach eigenen Angaben 1,2 Millionen Mitglieder. TUCP ist Mitglied im Internationalen Gewerkschaftsbund mit Sitz in Brüssel, dem auch der Deutsche Gewerkschaftsbund angehört.
Gegründet 1950 von amerikanischen Jesuiten, die in der Ära des Kalten Krieges ‚kommunistischen Einflüssen‘ entgegenwirken wollten. In der Marcos-Ära ist FFW auf Distanz zur Regierung geblieben und nicht dem TUCP beigetreten. FFW vereint zehn Gewerkschaftsverbände insbesondere aus dem Bereich kirchlicher Unternehmen (z.B. Schulen und Universitäten) sowie dem Bankenwesen und sieht sich der katholischen Soziallehre verpflichtet. Nach eigenen Angaben hat FFW 200.000 Mitglieder. FFW ist – wie TUCP – Mitglied im Internationalen Gewerkschaftsbund.
Gegründet 1971 als Vereinigung von zwölf Gewerkschaftsverbänden hatte sich TUPAS 1975 dem TUCP angeschlossen, zog sich aber 1977 aus Protest gegen dessen zu starke Regierungsnähe wieder zurück. Neben dem Einsatz für gewerkschaftliche Forderungen im engeren Sinn beteiligt sich TUPAS an gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und Mobilisierungen. TUPAS ist der kleinste Dachverband; die Mitgliederzahl wird mit rund 50.000 angegeben. TUPAS ist Mitglied im Weltgewerkschaftsbund mit Sitz in Athen.
Gegründet 1980 zur Marcos-Zeit auf Initiative einer Gruppe von Gewerkschaftsführern, sieht sich KMU als Zentrum des militanten Flügels der philippinischen Gewerkschaften und positioniert sich als „genuin, kämpferisch und national orientiert“. Neben gewerkschaftlichen Forderungen im engeren Sinn verfolgt KMU eine gesellschaftspolitische Agenda zur Umgestaltung des Landes und ist der nationaldemokratischen, anti-imperialistischen Strömung im Land zuzurechnen. Nach eigenen Angaben hat KMU 115.000 Mitglieder. KMU gehört sowohl dem Internationalen Gewerkschaftsbund als auch dem Weltgewerkschaftsbund sowie der Globalen Gewerkschaftsföderation InstustriAll an.
Auch die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst mussten sich zunächst heimlich zusammenschließen und lange für ihr Recht auf gewerkschaftliche Organisationsfreiheit kämpfen. Schwierig gestaltet sich bis heute die organisierte Interessenvertretung abhängig Beschäftigter in den zahlreichen Kleinbetrieben des Landes – typischerweise im handwerklichen Bereich. Gewerkschaftlich unorganisiert sind auch die knapp 16 Millionen Beschäftigten im Land, die als Selbständige u.a. im großen informellen Sektor, in landwirtschaftlichen Familienbetrieben oder anderen Familienunternehmen – in der Regel unbezahlt – tätig sind.
Gewerkschaften und Arbeiter*innen-Organisationen sind in zahlreichen Firmen stillschweigend oder explizit verboten, auch wenn dies gesetzeswidrig ist. Gewerkschafter*innen werden oftmals als erste entlassen, werden auf Schwarze Listen gesetzt und verlieren so die Chance auf Neuanstellung. Bilden sich Gewerkschaften, schließen Fabriken einfach und öffnen ihre Tore anderswo. Die große Zahl von Unterbeschäftigten, Arbeitslosen und -willigen ermöglicht es den Firmen, sie gegeneinander auszuspielen.
Die Gewerkschaften sind dagegen machtlos. Sie stoßen bei Organisierungsversuchen zuweilen auf Apathie unter den Beschäftigten, da diese fürchten, von der Betriebsführung als Gewerkschafter oder „Aktivist“ identifiziert und damit Repressalien ausgesetzt zu werden beziehungsweise den Job zu verlieren.
In zahlreichen Firmen wurden unternehmensfreundliche Gewerkschaften ins Leben gerufen, die den Gruppen, die Arbeitnehmerinteressen gegen das Management vertreten, das Leben schwer machen. Von Firmenleitungen werden sie logistisch und auch finanziell unterstützt – bis hin zur Aufstellung von Wahllisten durch das Management. Sich gewerkschaftlich zu engagieren, ist und bleibt gefährlich: Zwischen 2001 und 2010 sind 97 Gewerkschafter ermordet worden; weitere sechs zwischen 2012 und 2016.
Die Arbeit von Gewerkschaften wird nicht nur durch Unternehmen behindert, sondern zusätzlich durch interne Streitigkeiten und Konkurrenzkämpfe gelähmt. Dabei kommt es regelmäßig zu Mitgliederabwerbungen und feindlichen Kampagnen. Überdies führt die politische Polarisierung innerhalb der Bewegung dazu, dass gemeinsame Aktionen mühsam errungen werden müssen und sich einzelne Gewerkschaften, Verbände oder Dachverbände sowie Arbeiter*innen-Organisationen und Allianzen von der Politik instrumentalisieren lassen und so die Interessen der Mitglieder auf der Strecke bleiben.
Die gesetzlichen Regelungen und Bestimmungen für die Arbeitswelt sind – wie auch in anderen Bereichen – durchaus modern und halten internationalen Standards Stand. Erhebliche Probleme bestehen allerdings bei ihrer Umsetzung und Befolgung im Alltag. Daher haben oder hätten Gewerkschaften und Arbeiter*innen-Organisationen reichlich Tätigkeitsfelder und ausreichend Raum für gemeinsames Engagement – auch bei divergierenden Ausgangspunkten.
Allein die Lohnpolitik bietet viele Ansatzpunkte, um große Teile der abhängig Beschäftigten aus prekären Lebensverhältnissen zu befreien. Darüber hinaus belastet die gesetzlich zulässige Kontrakt-Arbeit in Verbindung mit Kettenarbeitsverträgen viele Beschäftigte, weil dadurch die Bestimmungen zum Mindestlohn und weitere soziale Sicherungen großflächig unterlaufen werden. Auch bei Arbeitsschutz und -sicherheit besteht erheblicher Handlungsbedarf; maßgebliche Vorschriften werden ignoriert, Kontrollen durch Behörden lasch gehandhabt und Bußgelder so gering bemessen, dass sie für Unternehmen günstiger sind als Investitionen in Schutzmaßnahmen – oftmals mit gravierenden Folgen für Leib und Leben der Beschäftigten.
Erstmals seit über 20 Jahren sind zum 1. Mai 2018 alle bis dato durch politische Differenzen getrennte gewerkschaftliche Dachverbände und Großorganisationen der Arbeiter*innen-Vereinigungen gemeinsam mit 60.000 Kundgebungsteilnehmer*innen in Manila und landesweit 150.000 Teilnehmer*innen aufmarschiert. In den vergangenen Jahren war man getrennt marschiert und hatte stets nur wenige Tausend Mitglieder mobilisieren können. Nun hat die Enttäuschung über die nicht eingelösten Versprechen durch Präsident Duterte, insbesondere das staatliche Versagen bei der Eindämmung bzw. Abschaffung der Kontrakt-Arbeit, zu massiven Protesten und neuer Einigkeit geführt.
Der (für die südostasien redaktionell bearbeitete) Beitrag entstammt folgender Neuerscheinung:
Rainer Werning / Jörg Schwieger (Hg.), Handbuch Philippinen. Gesellschaft-Politik-Wirtschaft-Kultur. 6., aktualisierte und erweiterte Auflage, Berlin, Verlag regiospectra, Feburar 2019. ISBN 978-3-94477-2906-7
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