[post_category]
Autor*in: [post_coauthors]
Geister hinter den Kulissen der Macht
Die Poster zu diesem Artikel stellte uns der indonesische Posterkünstler Alit Ambara zur Verfügung. Er schuf sie 2015, um den Opfern der Massaker von 1965 zu gedenken. Alit Ambara, den wir in der südostasien 2/2017 vorgestellt haben, ist Teil des Posterkollektivs Nobodycorp Internationale Unlimited.
Indonesien: Der so genannte Kalte Krieg führte Mitte der 60er-Jahre in Indonesien zu einem Massenmord an Linken durch Militärs, Paramilitärs und Zivilisten. Das Blutbad ebnete den Weg für die – von Washington, London und Bonn unterstützte – antikommunistische Diktatur von General Suharto. Die traumatischen Erinnerungen der Überlebenden spiegeln sich bis heute in Geschichten über gefährliche Geister und verwunschene Orte.
Die Jahre 1965 und 1966 sind ein dunkles Kapitel in der indonesischen Geschichte. Es war die Zeit der Massenmorde an Kommunisten und vielen Menschen, die des Kommunismus bezichtigt wurden. Die Gewalt erstreckte sich über Java, Bali, Sumatra auf weitere Teile Indonesiens und forderte schätzungsweise zwei Millionen Opfer. Diese Massenmorde spiegelten nicht nur Klassenkonflikte oder unterschiedliche politische Ideologien wider. Die Gewalt wurde auch mit dem kulturellen Argument legitimiert, dass Kommunismus die soziale Harmonie erschüttere.
Führte aber die Vernichtung der vermeintlichen Feinde zu einer harmonischeren indonesischen Gesellschaft? Keineswegs. Wie es scheint, wird das Alltagsleben auch heute noch herausgefordert und zuweilen gar bedroht durch die Geister der Opfer des damaligen Massakers.
Wie in vielen asiatischen Kulturen gibt es auch in Indonesien den Glauben, dass die Seelen der Verstorbenen nicht aus dem alltäglichen Leben verschwinden. Vielmehr werden sie zu Geistern, die in einer „anderen Welt“ leben. Doch auch, wenn sie sich in einer anderen, einer ewigen Welt befinden, bleiben sie im Kontakt mit ihren Nachfahren, um die Harmonie aufrecht zu erhalten. Bei diesem Prozess wird unterschieden zwischen der Harmonie der großen Welt (jagad besar) und jener der kleinen Welt (jagad kecil). Nur „gute“ Geister können für Harmonie sorgen, während „böse“ Geister die Harmonie stören.
„Böse Kommunisten“ = „böse Geister“
Ob die Geister der Verstorbenen gut oder schlecht sind, hängt davon ab, wie sie von der Lebenswelt in die ewige Welt übergehen, sprich: mit ihrer Todesursache, zusammen. Ein natürlicher Tod ist ein Tod nach Gottes Willen. Es ist ein guter Tod, aus dem ein guter Geist hervorgeht. Ein nicht natürlicher Tod, sei es durch einen Unfall, durch Mord oder Selbstmord, ist ein unvollkommener Tod, der zu einer teuflischen Reise in eine dunkle Welt führt. Von dort können die bösen Geister – sichtbar oder unsichtbar – lebensbedrohlich für die Menschen wirken.
Seit dem blutigen Geschehen von 1965/66 bis heute können wir beobachten, wie sich die Erinnerung an die Gewalt gegen Kommunisten bzw. als Kommunisten geltende Menschen vermischt mit komplexen Trauma-Folgen und kulturellen Weltanschauungen in Erzählungen über Geister im täglichen Leben widerspiegelt.
Dieser Artikel basiert auf Geistererzählungen von Bewohnern des Dorf Masean (Batuagung, Jembrana, Bali) und von Menschen, die am Ufer des Winongo-Flusses (Yogyakarta, Java) leben. Weitere „Geister-Erfahrungen“ stammen von der Insel Buru, wo sich das größte Lager für politische Gefangene befand. In all diesen Erzählungen ist auf vielfältige Weise das Trauma spürbar, unter dem die Gesellschaft bis heute leidet.
Der Landkreis Jembrana auf der Insel Bali war vor 1965 eine starke Basis der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI). Aus diesem Grund ereigneten sich dort besonders viele Morde an Menschen, die einer kommunistischen Weltanschauung verdächtigt wurden. 50 Jahre nach den Gewalttaten von 1965 und 17 Jahre nach dem Ende von Suhartos „neuer Ordnung“ (1965 – 1998), geschah in Jembrana etwas Interessantes. Im Dorf Masean (Batuagung) wurde das traditionelle Ritual ngaben durchgeführt. Bei diesem Ritual auf Bali, wo die Mehrheit der Einwohner dem hinduistischen Glauben angehören, werden Leichname verbrannt, um die Seelen der Toten von den Makeln ihrer physischen Existenz zu reinigen. So geschah es 2015 auch mit den sterblichen Überresten von einigen Opfern der Massenmorde. Die lokale Gemeinschaft entschied sich zu diesem Schritt, nachdem viele Menschen von Angst und Besorgnis umgetrieben worden waren.
Ida Bagus Kadek Suwartama, der hinduistische Priester des Dorfes, erklärt die Ursache der Ängste folgendermaßen: Die Dorfbewohner hätten seltsame Sachen erlebt, beispielsweise Leichen ohne Köpfe herumlaufen sehen. „Jedes Mal, nachdem jemand so etwas gesehen hat, gab es kurz darauf einen Selbstmord“, so Ida Bagus Kadek. Seit 1965 habe es 50 Selbstmorde in Masean gegeben, immer auf die gleiche Weise, durch Erhängen. Und nicht zu zählen seien die vielen Unfälle, die sich an den Orten der Massengräber von 1965 ereigneten.
Ida Rsi Bhujangga Waisnawa Putra Sara Shri Satya Jyoti, Dozent für Religionswissenschaft an der Hinduistischen Universität in Denpasar, begründet die Notwendigkeit zur Durchführung des ngaben so: „Die Leichen der vor Jahrzehnten verstorbenen Menschen werden, wenn sie nicht eingeäschert wurden, zu Bhuta Cuil, zu Geisterwesen, die jederzeit das Leben der Menschen stören können. Gemäß unserer Weltanschauung findet eine Art Tauziehen zwischen prakerti (physische, sichtbare Welt) und purusa (ätherische, unsichtbare Welt) statt. Wenn ein Mensch stirbt, muss die Seele – durch das ngaben-Zeremoniell – vom prakerti befreit werden – damit sie sich von dessen Anziehungskraft lösen kann.“
Die Erzählungen von den störenden Seelen der Toten, die im Dorf Masean immer wieder Unheil verursachen, zeigen, dass die Politik des Abschlachtens nicht vorbei war, als Suhartos „neue Ordnung“ die Bühne der Macht in Besitz genommen hatte. Sie setzte sich vielmehr im politischen Bewusstsein der Menschen fest. Erzählungen von den Geistern der Toten, die sich rächen wollen, wurden wieder und wieder erzählt, jüngeren Generationen überliefert und so als Bestandteil der täglichen Gespräche verewigt. In den Augen vieler „beweist“ dies fortwährend, dass Kommunisten die kosmische Harmonie stören.
Traumatische Erinnerung wird zur Geistergeschichte
Auch die Menschen am Ufer des Flusses Winongo in Yogyakarta (Java) erzählen sich Geschichten von Geistern. Diesen begegnet man bevorzugt an dunklen und ungepflegten Teilen des Flussufers. Auch diese Geschichten gehen auf die Grausamkeiten von 1965 zurück und werden bis heute von Generation zu Generation weitergegeben. In ihnen ist die Rede von seltsamen Stimmen, die mitten in der Nacht zu hören sind, von unsichtbaren Wesen, die es auf das Leben der Anwohner abgesehen haben. Es geht um verfluchte Orte, an denen Unheil geschieht. Die Erzählungen von Wesen, die in unheimlicher Gestalt erscheinen, weil sie einst Opfer eines gewaltvollen Todes geworden sind, zeigt, wie sich die damalige Gewalterfahrung bis heute als Angst ins kollektive Bewusstsein der Gesellschaft schreibt. Wie es scheint, verbirgt sich im Geschehen der Massenmorde das Kommunismusthema und Tote werden nach und nach zu Wesen, die überall herumgeistern, zu lästigen, verbrecherischen Wesen, zu Zerstörer*innen der Harmonie.
Die Erzählungen aus Bali und Java zeigen die vielschichtigen Auswirkungen der damaligen Gewalt, sie zeigen Verdrängung, Schuldgefühle und den Wunsch, zu einem normalen Leben zurückzukehren. Das Trauma versteckt sich in den Geistergeschichten und wirkt zugleich in ihnen fort. Die Gruselnarrative, die als kollektive Bedrohung für Menschen auf den Straßen von Jembrana oder am Flussufer des Winongo daher kommen, sind vielleicht auch Ausdruck der Verdrängung der Tatsache, dass Anwohner*innen beim Blutbad von 1965/66 – aktiv oder passiv – zu Mittäter*innen wurden, häufig aus Angst vor den Drohungen der Armee. So wird die Erinnerung an das grausame „Damals“ zur fortgesetzten Angst im „Jetzt“, wie es Jeffrey Alexander in seinem Buch Trauma: A Social Theory [1] beschreibt.
Auf der Insel Buru, wo sich in den 70er-Jahren das größte Lager für politische Gefangene befand, das oft auch als indonesischer Gulag bezeichnet wird, erzählen sich die Menschen andere Geschichten. Der Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, der dieses Lager überlebte, beschreibt in seinem Buch Das Stille Lied eines Stummen, wie viele Gefangene angesichts der unerträglichen Zwangsarbeit und Willkürherrschaft der Militärs den Tod wählten, sei es dadurch, das Risiko einzugehen, bei einem Fluchtversuch erschossen zu werden, oder durch Selbstmord [2].
Verstorbene Häftlinge als Verbündete der Lebenden
Selbstmord wurde als „sichere“ Methode bevorzugt und darüber hinaus als eine, bei der Mithäftlinge nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Zum Verüben des Selbstmordes wurden stille, versteckte Orte gewählt, wie Flussufer mitten im Wald. Immer wenn ein Selbstmord geschehen war, erzählten sich die Häftlinge Geistergeschichten voll grausamer Details. Diese Geschichten kamen den Militärs zu Ohren, die die Zwangsarbeiter bewachten. Und sie glaubten schließlich daran, dass an den Orten, wo ein Selbstmord geschehen war, böse Geister ihr Unwesen trieben und dass es besser sei, sich von diesen Orten fern zu halten.
Die Geschichten wurden zahlreicher und sie wurden von den Häftlingen wieder und wieder erzählt, wodurch sie immer weiter die Runde bei den wachhabenden Militärs machten. Die Wiederholung des Gruselnarrativs wurde zum Mittel der „psychologischen Kriegsführung“ zwischen Häftlingen und Soldaten. Und so wurden diese „verfluchten Orte“ zu Freiräumen, wo sich erschöpfte oder kranke Häftlinge erholen konnten, ohne die Präsenz der Militärs befürchten zu müssen.
Für die Militärs befeuerten diese Geistergeschichten auch die Angst vor der grausamen Rache der Menschen, die sie gefoltert, verletzt oder ermordet hatten. Die Geister der toten Häftlinge waren für sie eine unsichtbare und unkontrollierbare Bedrohung. Daran, dass die Militärs das Narrativ der Häftlinge bestätigen, zeigt sich psychologisch gesehen die Angst der Täter. Die Häftlinge wiederum fühlten sich von den Geistern der Toten nicht bedroht, es waren ja ihre Leidensgefährten, die sie schützen würden und von denen sie geschützt werden würden. Sie erfanden diese Geschichten vielmehr, um zumindest zeitweise der lebensgefährlichen Zwangsarbeit zu entkommen.
Die dargestellten Geistergeschichten aus Bali, Java und Buru zeigen, dass das „Erschaffen“ von Geistern nicht losgelöst von den herrschenden Machtverhältnissen betrachtet werden kann. Denn diese bestimmen die Bedeutung der Geister. Der Massenmord an (vermeintlichen) Kommunisten hat ein Trauma nach sich gezogen, das die Zeit nicht geheilt hat. Bis heute spiegeln die Geistergeschichten, wie sie in den Beispielen aus Bali und Java erzählt werden, Verdrängung, Schuldgefühle und Angst. Und sie dienen der – im Sinne des Harmoniestrebens – fortgesetzten Vergewisserung, dass es sich bei den Toten um die Zerstörer der Harmonie gehandelt habe. Nicht so bei den Geistergeschichten der Häftlinge von Buru. Hier dienen die Gruselnarrative dem strategischen Ziel, sich der Macht der Militärs zu entziehen.
Die indonesische Zeitgeschichte ist eine „Geistergeschichte“, weil noch immer so viel dessen im Dunkeln liegt, was 1965 geschah. Es wird noch vieler Mühen bedürfen, diese Dunkelheit zu erhellen und für Gerechtigkeit zu sorgen.
Übersetzung aus dem Indonesischen von: Anett Keller
Zum Weiterlesen:
- [1] Alexander, J. C. (2013). Trauma: A Social Theory. Cambridge, Malden.
- [2] Der Originaltitel lautet Nyanyi Sunyi Seorang Bisu, die deutsche Übersetzung erschien im Jahr 2000 im Horlemann Verlag.
Dieser Text erscheint unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.