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Fluch der Arbeit (Teil I)

 © Lilli Breininger

Arbeitet auf eigene Rechnung und ohne Sozialversicherung im informellen Sektor: Ananasverkäufer in den Philippinen © Lilli Breininger

Philippinen: Die Beschäftigungslage von rund 45 Millionen Erwerbstätigen ist geprägt von Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Heimarbeit und Tätigkeiten im so genannten informellen Sektor. Diese Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes schlagen auch auf die in regulären Beschäftigungsverhältnissen oder in Kontrakt-Arbeitsverhältnissen Tätigen durch und wirken sich auf ihre Löhne und Arbeitsbedingungen sowie die Lebensbedingungen ihrer Angehörigen aus.

 

Die Philippinen sind ein Billiglohnland. Der Mindestlohn liegt zwischen 236 Peso in der Region Bicol auf dem Land und 491 Peso im Ballungsraum Manila, also zwischen 3,70 Euro und knapp 7,60 Euro – am Tag, bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 44,5 Stunden! Da die Mindestlöhne in den meisten Branchen aber eher den Höchstlohn darstellen (so der Gewerkschafter Josua Mata) liegen die tatsächlichen Tageseinnahmen einer Arbeitskraft sogar niedriger. So geht das Forschungsinstitut IBON davon aus, dass 46 Prozent der Beschäftigten weniger als den Mindestlohn verdienen und gerade einmal 29 Prozent mehr als den Mindestlohn (Manila Times, 24.7.2016). Vor allem in Manila kommen oft weite Wege zur Arbeit hinzu, die aus einem Achtstundentag nicht selten zwölf Stunden machen.

Auch mangelnde Arbeitssicherheit ist wieder als ein Problem erkannt worden, nachdem es in den letzten Jahren zwei große Arbeitsunfälle gab: Im Mai 2015 starben 72 Arbeiter*innen bei einem Brand in der Schuhfabrik Kentex (Metro Manila). Im Dezember 2017 kamen in Davao City 36 Beschäftigte eines Callcenters beim Brand eines Einkaufszentrums in den Flammen um. In beiden Fällen waren die Fluchtwege unpassierbar. Feuerschutzbestimmungen wurden ignoriert beziehungsweise von der Brandschutzbehörde nicht auf ihre Einhaltung überprüft. Konsequenzen für die Unternehmen: bislang keine.

Zurzeit beschäftigt das Arbeitsministerium nicht einmal 600 Inspektor*innen, um die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen in über 75.000 Unternehmen landesweit zu überwachen. Seitdem die Regierung Aquino 2013 freiwillige Verhaltenskodizes zum Nonplusultra erklärt hat, ist die Einhaltung von Arbeitsschutzgesetzen größtenteils ins Belieben der Unternehmen gestellt (vgl. Reese, Niklas (2015): Brand as usual – Arbeitsschutz in den Philippinen, in: südostasien 4, S. 55-58).

 © Lilli Breininger

Jugendlicher Straßenverkäufer © Lilli Breininger

Erbärmliche Arbeitsbedingungen

Der Brand bei Kentex hat nicht nur zum Vorschein gebracht, dass der Arbeitsschutz katastrophal ist, sondern auch dass die Arbeitsbedingungen insgesamt erbärmlich sind. “Kentex ist ein typischer Fall eines sweatshops”, schreibt die Soziologin Bernadeth Pante (Rappler.com, 21.5.2015), die sich daher auch weigert, bei dem Brand von einem bloßen “Unfall” zu sprechen.

So waren nur 30 der insgesamt 200 Beschäftigten bei Kentex Mitglied der (zudem arbeitgeberfreundlichen) Betriebsgewerkschaft. 30 weitere waren Gelegenheitsarbeiter*innen, die im Rahmen des Pakyaw (Großpack)-Systems angeheuert worden waren. Der Fabrikbesitzer beauftragt dabei einen Anwerber, ihm Arbeiter*innen ohne Arbeitsvertrag und Sozialversicherung im Dutzend zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise Angeheuerte können jederzeit vor die Tür gesetzt werden und der Anheuernde behält einen beachtlichen Teil der Lohnsumme ein.

Mehr als die Hälfte der Arbeiter*innen waren allerdings Leiharbeiter*innen, die Kentex von der Zeitarbeitsfirma CJC “ausgeliehen” hatte. Sie zahlte den Arbeiter*innen weit weniger als den Mindestlohn, nämlich bloß 202 Peso pro Tag, und führte keine Sozialversicherungsabgaben für sie ab. Auch andere gesetzlich vorgeschriebene Leistungen wie das dreizehnte Monatsgehalt oder Urlaubs- oder Krankengeld wurden ihnen vorenthalten. Regelmäßig mussten sie ohne zusätzliches Entgelt Überstunden leisten. Hatte Kentex keine Aufträge, wurden die Arbeiter*innen einfach nach Hause geschickt – ohne Bezahlung. Manche der Zeitarbeiter*innen arbeiteten bereits über zehn Jahre bei Kentex, dennoch blieben ihre Arbeitsverträge befristet.

Sie waren Opfer des so genannten 5-5-5-Systems (im Volksmund endo – end of contract – genannt): Dabei befristen Arbeitgeber Arbeitsverträge auf fünf Monate, um für die Arbeiter*innen keine Sozialversicherungsbeiträge und andere Lohnnebenkosten abführen zu müssen – und verlängern diese Verträge dann immer wieder.

Dennoch finden sich genügend Menschen, die zu solchen Bedingungen arbeiten. Oder wie Arbeitsministerin Baldoz (Manila Times, 16.5.2015) damals lapidar feststellte: “Sie haben keine regelmäßige Arbeit. Wenn ihnen jemand einen Job anbietet, greifen sie sofort zu.” “Systemische Probleme wie wirtschaftliche Ungleichheit, mangelnde Beschäfti-gungsmöglichkeiten und unzureichende Löhne”, so Bernadeth Pante, “lassen diesen Filipin@s keine andere Wahl, als die harschen Arbeitsbedingungen in den Fabriken auszuhalten. Das Feuer bei Kentex war kein Einzelfall. Es hat nur die Situation derer sichtbar gemacht, die in den Fabriken unter miserablen Arbeitsbedingungen schuften und die in einem Wirtschaftssystem festsitzen, das ihnen ein ausreichendes Einkommen vorenthält, um ein würdiges Leben zu führen oder einfach bloß um zu überleben.”

Die Lohnstückkosten und Lohnnebenkosten liegen mittlerweile über denen anderer “Dritte-Welt-Länder”, wenngleich gerade Firmen im Exportsektor von der philippinischen Regierung massive Unterstützung erhalten – etwa durch Steuervergünstigungen und indem sie zumindest in den Freihandelszonen von der Einhaltung mancher nationalen Gesetze (v.a. des Rechts auf gewerkschaftliche Organisation) ausgenommen sind. Dabei hinterfragt das Arbeitsministerium selbst, ob es wirklich Ausnahmeregelungen von Arbeitsgesetzen sind, die Investoren anziehen, oder nicht viel eher eine funktionierende Verwaltung und Infrastruktur, eine gut und passend ausgebildete Arbeitsbevölkerung, ökonomische Perspektiven – aber auch “Arbeitsfrieden” (= wenige Streiks) in der Industrie (Philippine Daily Inquirer, 9.1.2011). (Ausführlich zu den Arbeitsbedingungen in den Freihandelszonen: McKay 2006 & Paguntalan 2002, McKay, Steven (2006): Satanic Mills or Silicon Islands – The Politics of High-Tech Production in the Philippines. Manila: Ateneo de Manila University Press.)

 Straßenverkäuferin in Manila © Lilli Breininger

Frauen verdienen weniger als Männer und schultern die Mehrfachbelastung von Familie, Haushalt und Lohnarbeit: Tabakverkäuferin in Manila. © Lilli Breininger

Frauen als billige Arbeitskräfte

Die Mehrzahl der Beschäftigten bei Kentex und in den Freihandelszonen sind Frauen. Ein Blick auf den Inlandsmarkt zeigt, dass Frauen überdurchschnittlich in den schlechter gestellten Beschäftigungen des formellen wie des informellen Sektors vertreten sind – ob als schlecht bezahlte und kaum abgesicherte Verkäuferinnen, als Kellnerinnen oder als Haushaltsangestellte der “Bessergestellten”.

Auch wenn sie verheiratet sind oder sich um die alt gewordenen Eltern kümmern müssen, lässt es sich oft nicht vermeiden, dass Frauen arbeiten gehen, weil das Einkommen eines Brotverdieners nicht reicht. Selbst wenn ihre Männer keine Arbeit haben, sind es vorwiegend die Frauen, welche die traditionellen Arbeiten wie Kinderbetreuung oder Haushaltsführung übernehmen müssen, da nur wenige Tätigkeiten im Haushalt als eines Mannes “würdig” gelten. Doch trotz aller Mehrbelastung und Diskriminierung: Töchter und Mütter sind stolz, dass sie die Familie durchfüttern und den Eltern einen würdigen Lebensabend sichern können.

Dutertes leere Versprechen

Filipin@s verfügen über einen vergleichsweise hohen Bildungsstand. Dies geht allerdings mit einem unzureichenden und schlecht entlohnten Arbeitsplatzangebot im Inland einher. Die Regierung ging Anfang 2018 von einer Arbeitslosenquote von 6,6 Prozent aus – fast genauso hoch wie 2011 und dies bei einer gesunkenen Beteiligung am Arbeitsmarkt (Erwerbsquote) von nur noch 60 Prozent aller erwerbsfähigen Personen (2011: 66 Prozent). Das führende Sozialforschungsinstitut des Landes Social Weather Stations (SWS) dagegen betrachtet 25,1 Prozent der Filipin@s als arbeitslos, da es alle als solche einstuft, die einen Job suchen – im Gegensatz zum Arbeitsministerium, das bereits jene als beschäftigt ausweist, die auch nur eine Stunde pro Woche Arbeit haben. Auf drei Erwerbsarbeitende kommt also ein*e Arbeitslose*r. Zählt man dann noch die 5.000 Personen hinzu, die täglich das Land für einen Job in Übersee verlassen, wird deutlich, dass die philippinische Wirtschaft weniger denn je den Menschen Arbeit bieten kann.

Zudem setzen viele in den letzten Jahren neu geschaffene Jobs eine Qualifizierung voraus – wie etwa in Callcentern. An den Armen und gering Gebildeten ist die Beschäftigungsexpansion im formalen Sektor daher weitgehend vorbei gegangen. Sie arbeiten vorwiegend im informellen Sektor. Der Ökonom Cielito Habito (Habito, Cielito (2017): Are jobs better?, Philippine Daily Inquirer, 2.5.2017.) geht davon aus, dass ein Viertel der Erwerbstätigen “freiberuflich” tätig sei. Was gut klingt, heißt für die allermeisten in der Realität, auf eigene Rechnung zu arbeiten, also als Gelegenheitsarbeiter*in oder als Scheinselbständige. Ein Drittel der als “freiberuflich” Geführten, so Habito, seien zwar faktisch Lohnarbeiter*innen, verfügten aber über keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. 40 Prozent von ihnen sind Zeit- und Saisonarbeiter, in der Probezeit oder in der Ausbildung. Auch die über drei Millionen Hausangestellten – Statussymbol einer jeden Mittel- und Oberschichtfamilie und Bedingung dafür, dass die “Hausherrin” eine Arbeit aufnehmen kann – verdienen kaum mehr als 2.500 – 3.000 Peso im Monat (bei freier Kost und Logis). Ihre Arbeitsrechte – 2013 im Kasambahay Law kodifiziert – stehen meist nur auf dem Papier. Zu groß ist die Scham, gegen den “amo” (Herren) vorzugehen.

Bei weiteren sechs Prozent der Beschäftigten handelt es sich um “mithelfende Familienangehörige”. Konsekutive Beschäftigungsbiographien sind an der Tagesordnung: ein “endo”, der eventuell noch einmal verlängert wird, dann die Suche nach einem Job anderswo. Und das über Jahre hinweg. Jedes zweite Beschäftigungsverhältnis basiert auf einem solchen, auf höchstens fünf Monate begrenzten, Vertrag. Im Bausektor, aber auch im Einzelhandel und den großen Kaufhausketten wie SM, sind 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten “endo”.

Die wiederholte Ankündigung Dutertes, der Zeitarbeit ein Ende zu setzen, ist ein leeres Versprechen geblieben. Statt dessen erklärte Arbeitsminister Bello ganz in neoliberaler Manier im Mai 2017: “Ein Verbot von Zeitarbeitsverträgen könnte zur Schließung vieler Unternehmen führen, Investoren abschrecken und das Wirtschaftswachstum bremsen. Es ist nicht umsetzbar und auch unpraktisch, da es Unternehmen davon abhält, zu expandieren” (Philippine Star, 3.5.2017). Auch die am Tag der Arbeit 2018 erlassene Präsidialverfügung (executive order) gegen “illegal endo” zementiert bloß den gesetzlichen Status quo und wurde prompt von den Gewerkschaften als “nutzlos” kategorisiert.

 
Das ist der erste Teil des Artikels “Fluch der Arbeit” (hier geht’s zu Teil II).

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