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„Es geht darum, Menschen zu berühren“

Deutschland, Vietnam, Another Nguyen

„Wenn ich merke, es gibt Themen, die immer wieder auftauchen oder etwas Langwieriges sind, dann halte ich das fest in meinen Songs.“ © Hien Vo

Vietnam/Deutschland: Ngoc Anh Nguyen aka ANOTHER NGUYEN, Sängerin, Songwriterin und Sozialarbeiterin, spricht über ihre Musik und ihre vietnamesisch-deutsche Herkunft.

südostasien: Wie würdest du dich unseren Leser:innen vorstellen?

Unsere Interviewpartnerin:

Als ANOTHER NGUYEN macht die Sängerin, Songwriterin und Sozialarbeiterin Ngoc Anh Nguyen empowernden, elektronisch inspirierten Pop mit introspektiven Texten. Aufgewachsen als Kind vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen in einer deutschen Kleinstadt, prägen Fragen nach Identität und Zugehörigkeit ihre Musik. Ihre Songs erzählen atmosphärisch und vielschichtig von Schmerz, Entfremdung und dem Wunsch nach Verbindung.

Ngoc Anh Nguyen: Ich stelle mich immer gerne als Sängerin, Songwriterin und Sozialarbeiterin vor. Ich bin vietnamesisch-deutsch und bin in einem kleinen Dorf in Sachsen aufgewachsen. 2012 bin ich nach Berlin gezogen.

Wie beeinflussen dich diese Orte in deinem kreativen Schaffen?

Weil ich in der Kleinstadt so isoliert aufgewachsen bin – wir waren lange Zeit die einzige vietnamesische oder auch ausländische Familie – habe ich mich sehr allein gefühlt. Ich habe in meiner Jugendzeit ganz lange nach Vorbildern gesucht und mich gefragt, was ich beruflich später mal machen kann, welchen Lebensweg ich gehen kann. Aus dem Nicht-Vorhanden-Sein von Community oder Menschen, die durch das Gleiche gingen wie ich, habe ich diesen starken Drang, alles weiterzugeben, was ich gelernt habe und mir selbst erarbeiten musste.

Deswegen ist für mich das Musikmachen nicht nur ‚Spaß‘, sondern ich möchte damit auch zeigen, dass es möglich ist, diesen Lebensweg zu gehen. Tatsächlich bekomme ich jetzt auch immer öfter Konzertanfragen aus meiner Heimat in Sachsen, weil die Leute sich dran erinnern, dass ich schon immer gern gesungen habe. Berlin beeinflusst mich, weil ich das Gefühl habe, dass man hier sehr frei leben kann und Lebenswege nicht hinterfragt werden. Deswegen bin ich auch in der Lage, jetzt, mit 33 Jahren, mir freiberuflich etwas aufzubauen.

Was haben deine Wege als Sozialarbeiterin und als Musikerin gemeinsam? Was trennt sie?

ANOTHER NGUYEN bei einem ihrer Konzerte. © Frederic Ferschke

Eine Gemeinsamkeit ist der Kontakt zu Menschen. Wenn ich ein Konzert spiele und vor den Menschen singe, dann geht’s darum, ihnen ein besseres Gefühl zu geben, sie zu berühren und zu ihrem Alltagsleben etwas beizutragen. Bei der Musik geht es darum, zu inspirieren, vielleicht auch abzulenken, sporadisch einen Beitrag zu leisten. Bei der sozialen Arbeit hingegen bist du wirklich direkt an einzelnen Menschen dran. Es ist eine intensivere Arbeit.

Du hast von fehlenden Vorbildern gesprochen. Mittlerweile gibt es zum Beispiel den Sänger Trong Hieu, mit dem bist du vor kurzem zusammen aufgetreten. Wie war das für dich, als er im Vorentscheid für den Eurovision Song Contest für Deutschland auftrat?

Ich habe auf jeden Fall extrem mitgefiebert als er da angetreten ist, weil ich ihn kurz zuvor das erste Mal persönlich kennengelernt hatte. Für mich war das voll der große Schritt: Es ist jemand mit vietdeutscher Herkunft in meinem Alter, der jetzt auf so einer Plattform auftreten kann. Das wäre für mich als Kind undenkbar gewesen Das hat mich sehr ergriffen und hat so ein Gefühl ausgelöst: vietdeutsche Geschichte schreitet voran. Ich fand es sehr schade, wie er abgeschnitten hat. Die Gesellschaft sollte mittlerweile so weit sein, zu sehen: Hey er steht für Vielfalt, er singt einen Song, in dem es darum geht, gemeinsam anders zu sein. Warum sieht man da nicht das Potenzial? Das ist auch etwas, was ich in der Musikindustrie beobachte. Es gibt schon viele People of Color als Künstler:innen im HipHop oder R ’n‘ B, die unter Vertrag genommen sind. Im Pop-Bereich ist es eher die klassische ‚Lea‘, mit der man sich identifizieren kann.

Eine gute Freundin von mir arbeitet bei Beatrice‘ Plattenfirma. Sie suchten nach einer Keyboarderin oder einem Keyboarder und sie hat mich gefragt, ob ich mitmachen möchte. Beatrice Egli macht ja Schlager und da gibt es ganz oft diese Kombi: du hast eine hübsche junge Sängerin und einen alten weißen Mann, der Klavier spielt. Der Gedanke meiner Freundin war, dass es doch cool wäre, wenn das mal anders ist. Nicht dieses klassische Bild von einem ‚Dieter‘, sondern ich als asiatische Frau. Weil ich durch meine eigenen Musikvideos sehr viel Dreherfahrung gesammelt hatte, hat es ganz gut gepasst. Die Reaktionen waren positiv. Alle fanden, dass die Chemie zwischen uns stimmte.

Du bist Sängerin und Songwriterin. Gibt es Themen, die dir ganz besonders wichtig sind beim Schreiben deiner Texte?

Wenn es darum geht, meine eigenen Songs zu schreiben, suche ich immer nach Gefühlen und Themen, die mich lange beschäftigen. Für mich ist das Songwriting kein Outlet zum Verarbeiten, was ich heute fühle und was morgen vielleicht vorbei ist. Sondern ich verarbeite gern mein Leben in meinem Leben, also starke Gefühle und Erfahrungen, zunächst für mich. Wenn ich merke, es gibt Themen, die immer wieder auftauchen oder etwas Langwieriges sind, dann halte ich das fest in meinen Songs.

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Ich wünsche mir für die Zukunft, dass ich mehr politische Songs schreibe. Aber bisher bin ich da immer noch ein bisschen vorsichtig. Ich möchte nicht predigend daherkommen und selber darüber reflektieren, was meine Rolle als Künstlerin im politischen Bereich ist. Und irgendwie ist es mir wichtiger, Songs zu schreiben, die etwas zu Gemeinsamkeit und Zusammenhalt beitragen als Ärger und Wut zu erzeugen.

Wie kommt es, dass du auf Englisch singst?

Deutschland, Vietnam, Another Nguyen

Ausnahmsweise mal kein alter weißer Mann am Klavier: ANOTHER NGUYEN begleitet die Schweizer Sängerin Beatrice Egli. © Laura Liebt

Ich habe einfach irgendwann angefangen, mein Tagebuch auf Englisch zu schreiben, für potenzielle internationale Enkelkinder (lacht). Es hat auch damit zu tun, dass ich ein schwieriges Verhältnis zur deutschen Sprache habe. Nach und nach löst sich das. Aber mein Gedanke, als ich angefangen habe, Songs zu schreiben, war, dass deutsche Songs ja nur für ein deutschsprachiges Publikum und für die deutsche Gesellschaft sind. Ich möchte gerne ein größeres Publikum erreichen und versuche, an die vietnamesische Diaspora anzudocken, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und weltweit. Tatsächlich ist auch mein persönliches Umfeld sehr international. Das heißt, in meinem Alltag spreche ich auch viel Englisch. Aber ich schließe es nicht aus, in der Zukunft vielleicht auch auf Deutsch zu schreiben. Langsam kommt ein Bedürfnis in mir auf, weil ich auf Deutsch eine ganz andere Tiefe ausmachen kann. Tatsächlich wurde ich Anfang 2025 auch gefragt, ein deutsch-vietnamesisches Kinderlied zu schreiben. Das ist fertig und wird im Herbst 2025 erscheinen.

War die Internationalität auch ein Gedanke hinter deinem Künstlernamen?

Als ich meinen Künstlernamen ausgewählt habe, habe ich noch nicht so weit gedacht. Nicht daran, wen ich erreichen möchte, sondern eher, dass es ja irgendwie seltsam ist, wenn ich nur für ein vietnamesisches Publikum singe, weil ich vietdeutsch bin. Je weiter ich mich entwickle, umso mehr merke ich, dass ich nicht alle erreichen muss und dass es okay ist, eine Nische für sich zu finden. Dass im Grunde genommen eine Fanbase einfach Menschen sind, mit denen du verbunden bist, weil sie ähnliche Lebenserfahrungen teilen oder ähnliche Werte haben. Da ist es für mich einfacher, an die vietnamesische Diaspora anzuknüpfen und ich werde dadurch auch viel gebucht. Der Name kommt also nicht von einem möglichen Zielpublikum. Ich wollte, dass der Nachname Nguyen bekannter wird. In meiner Schulzeit wurde der Name immer falsch geschrieben und ich wollte, dass der Name einfach so etabliert ist, wie es auch bei anderen Nachnamen der Fall ist und dass Menschen wissen, wie man ihn schreibt.

Dieses Jahr ist das 50-jährige diplomatische Jubiläum zwischen Westdeutschland/BRD und Vietnam. Wie empfindest du persönlich als vietnamesische Ostdeutsche die deutsch-vietnamesischen Beziehungen?

Ich bin sehr in einer vietdeutschen Bubble. Ich bin sehr viel davon umgeben, dass vietnamesische Kultur wertgeschätzt wird, dass es Kulturangebote gibt, wo vietnamesisch-deutsche Geschichten erzählt werden. Ich erlebe das Goethe-Institut in Vietnam, wo Veranstaltungen stattfinden. Wenn ich in Vietnam bin, erlebe ich Wertschätzung, weil es heißt: „Du bist eine Vietdeutsche, die nach Vietnam zurückkommt und hier arbeitet“.

Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte: „Motherland“ von ANOTHER NGUYEN.

Aber genauso weiß ich, dass es andere Ecken gibt, wo das vielleicht gar nicht präsent ist. Beispielsweise war ich letztes Jahr für eine Theaterproduktion in München für das Stück „Hörst du mich?“. Es war ein Stück, wo wir – eine Schauspielerin, eine Tänzerin und ich – alle vietdeutsch waren. In dem Stück haben wir Familiendynamiken aufgearbeitet. Es ging um Sprachlosigkeit, darum, Gespräche nicht zu führen.

Deutschland, Vietnam, Another Nguyen

„In meinem Umfeld gibt es so viele talentierte Musiker:innen, die nicht von ihrer Musik leben können“, kritisiert ANOTHER NGUYEN. © Tony Bui

Die Resonanz des Publikums war verrückt. Da waren sehr, sehr viele Vietdeutsche, die in München leben, die dann zu mir kamen und meinten, das wäre das erste Mal, dass sie etwas mit Vietdeutschen auf der Bühne gesehen haben. Die waren so unglaublich dankbar und man hat gemerkt, dass durch unser Stück erste Reflexionsprozesse angestoßen werden konnten. Bei mir selbst begannen die schon vor zehn Jahren. Hier in Berlin ist es für mich schon so normal, dass es ständig irgendwelche Vernetzungstreffen, Veranstaltungen, Podcasts, Screenings und Lesungen gibt. Deswegen lebe ich in einer Welt wo deutsch-vietnamesische Beziehungen blühen und sich immer weiterentwickeln. Aber ich kann nicht sagen, dass das für alle die Realität ist.

Wünschst du dir, dass mehr Menschen die Arbeit in der Kunst- und Kulturszene verstehen würden?

Da habe ich sehr viele Gedanken zu. Ich glaube, was viele nicht wissen ist, wie viel unbezahlte Arbeit hinter Kunst steckt. Selbst wenn ein krasses Musikvideo entstanden ist oder auf Social Media eine tolle Plattform da ist, bedeutet das nicht, dass man davon leben kann. In meinem Umfeld gibt es so viele talentierte Musiker:innen, die nicht von ihrer Musik leben können. Das ist tragisch. Ich merke dies auch selber an mir. Ich kann zwar von der Musik gerade so leben; Aber mich macht es müde, dass ich seit vielen Jahren wirklich mit einem sehr geringen Budget lebe. Ich muss immer schauen, wie ich mit meinem Geld umgehe.

Würde eine Person meine Musik neu entdecken und mein Profil sehen, meine Videos und so weiter, sie würde nicht vermuten, wie knapp es ist. Das soll die Gesellschaft wissen, wie viel in diesem Bereich unentgeltlich geleistet wird. Ich wünsche mir deshalb immer das Bedingungslose Grundeinkommen.

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